zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2018061600 | weiteres |
1
Einleitung
2
Die hier relevanten Begriffe der Phänomenologie nach Husserl
3
Die beiden Bände über das Literarische Kunstwerk
3.1
Versuch einer Zusammenfassung des "Literarischen Kunstwerkes"
3.2
"Vom Erkennen des Literarischen Kunstwerkes"
3.3
Kritische Anmerkungen
4
"Der Streit um die Existenz der Welt"
5
Untersuchungen zur Ontologie der Kunst
5.1
Das Musikwerk
5.2
Das Bild
5.3
Das Werk der Architektur
5.4
Der Film
6
Vortragssammlung "Erlebnis, Kunstwerk und Wert"
6.1
I --- Das äesthetische Erlebnis
6.2
IV -- Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk
6.3
VI -- Zum Problem der "Relativität" der Werte
6.4
VII -- Was wir über Werte nicht wissen
7
Wert und Qualität in Ingardens Ästhetik
8
Der historische Entstehungskontext der besprochenen Schriften
9
Bibliographie
"Jeder wirklich schöpferische Künstler, Dichter, Musiker oder Maler
führt beim Schaffen seines Werkes ein Experiment auf diesem Gebiet durch.
[ingErl, S.177]
Der polnische Philosoph Roman Ingarden lebte von
1893 bis 1970 und lehrte (mit Unterbrechungen wegen Kriegs- und politischer Lage)
an den Universitäten von Lemberg und Krakau.
Er veröffentlichte in Polnisch und in Deutsch.
Sein rein philosophisches Hauptwerk heißt Der Streit um die Existenz der Welt
und beinhaltet ein "großes philosophisches System" in der Tradition des "deutschen
Idealismus", welches alle mögliche Erscheinung der äußeren Welt auf
Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung zurückführen will, hier in
der Tradition von Phänomenologie und Ontologie, der Lehre von der Erscheinung
und der Einteilung der Dinge.
Bemerkenswert ist allerdings, dass noch vor diesem umfangreichen dreibändigen Werk
ein vielleicht noch bedeutenderes entstand, welches sich mit ästhetischen Problemen
beschäftigt: Die beiden Bücher
Das Literarische Kunstwerk [ingLitKW]
und Vom Erkennen des Literarischen Kunstwerkes [ingErk]
von 1927 bis 1936, jeweils ca. 350
Seiten dichter Philosophie, behandeln den prinzipiellen
Aufbau und die Wahrnehmungsmechanismen des literarischen Werkes, und zwar
aus grundsätzlichen Überlegungen heraus, also so,
wie sie aus Sicht des Philosophen "zwangsläufig sein müssen", wegen der Funktionsweise
unseres Geistes, nicht etwa wie sie sich historisch "kontingent" dann und wann
entwickelt haben.
(Dennoch werden viele Einzelbehauptungen auch mit konkreten Beispielen verglichen,
was die Lektüre deutlich auflockert und noch spannender macht.)
In einem Anhang, erschienen als separater Band Untersuchungen zur
Ontologie der Kunst [ingOnt],
überträgt Ingarden seine Prinzipien dann auf
andere Kunstformen (Musik, Bild, Architektur, Film).
Die Arbeit an "seiner Ästhetik" diente also bemerkenswerterweise als Vorbereitung
für sein allgemeines "philosophisches System".
Bis zu seinem Lebensende untersuchte der Autor weitere Einzelheiten und Konsequenzen
seines ästhetischen Systems, veröffentlicht in der Vortragssammlung
Erlebnis, Kunstwerk und Wert [ingErl].
Diese vier Bücher versucht der folgende Text zusammenzufassen und einer Kritik aus heutiger Sicht zu unterziehen. Dazu ist ganz zu Beginn eine möglichst knappe Darstellung des allgemeinen philosophischen Denkens vorangestellt, die den Ausführungen Ingardens zugrunde liegt.
Der folgende Text behandelt genannte Werke in der o.e. Reihenfolge ihrer Entstehung. Es wird aber, wann immer sinnvoll, auch aus den anderen Texten zitiert; reine Seitenzahlen beziehen sich immer auf das in der Abschnittsüberschrift genannte Werk.
Die Ausgangsbasis für Ingardens Überlegungen ist die "Phänomenologie" seines Lehrers Edmund Husserl, auf die er immer wieder rekurriert. Diese stellt sich dabei dar als eine Spielart des "transzendenten Idealismus", also eines uns persönlich sehr nahen und sympathischen Ansatzes. Sie wird vorgetragen in deutlichem Gegensatz zu einem "Psychologismus", der ab dem letzten Drittel des vorangehenden Jahrhunderts anscheinend eine vorherrschende Stellung erobert hatte und von Ingarden als ernsthaft und gründlich zu bekämpfender Hauptfeind betrachtet wird.
Aus dem historischen Abstand stellt sich mir die Situation dar wie folgt:
Jede historische Entwicklung auf allen Gebieten der menschlichen Existenz
verläuft notwendigerweise als Wellenbewegung: Eine neue Ansicht/Technik/Methode
ermöglicht neue Erfolge und verbreitet sich, bis eine wiederum neue sie überholt
und die in all diesen Erfolgen verborgenen Defizite als solche aufweist und
korrigiert, etc.
Insofern waren die Ansätze und frühen Schritte des "Psychologismus" sicherlich
wertvoll und begrüßenswert, nämlich (sehr vereinfacht gesprochen) im Funktionieren
der Psyche des Menschen, seines Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Speicher-Apparates
die grundlegenden Regeln für die Effekte von Erlebnis, Verhalten, Bewertung,
Urteil etc. zu suchen.
Die hier vorgetragene Kritik besteht darin, dass dieser Standpunkt (im Sinne
erwähnter historischer Wellenbewegung) zu weit getrieben wurde und
einer Korrektur bedarf. Laut den "Phänomenologen", jedenfalls folgend der
impliziten Darstellung Ingardens, gibt es nämlich "intentionale Gegenstände",
das sind existierende Dinge,
die unabhängig von aller Psychologie da-sind, auch wenn sie
zugegebenermaßen nur
durch "psychische Bewußtseinsakte" wahrnehmbar/erlebbar/konstruierbar sind.
Die aber davon unabhängig ihr "Eigenleben" haben,
als Gegenstände tatsächlich existent sind,
und als solche
von der rein psychologistischen Erklärung fälschlicherweise geleugnet werden.
Mir heute stellt drängt sich der Kompromiss als natürlich auf, dass beide
recht haben: Die (aus pragmatischen Gründen) als
tatsächlich existierend
anzusehenden "Entitäten" kann man auch sehen als die in einem kulturellen
Prozess durch die intersubjektive Übereinkunft zu "Ontologien" geronnenen
psychischen Erfahrungen Vieler.
(Am Ende des Werkes wird Ingarden mit der "intersubjektiven Identität"
zu einem ähnlichen Schluss kommen, [ingLitKW, S.385ff])
Als solche gehen sie selbstverständlich über das konkrete psychische Erleben
des Einzelnen hinaus, und es ist im Sinne vernünftigen Sprechens nur
vernünftig, diesen eine "eigene Existenz" zuzugestehen.
Dennoch aber kann man die psychischen Mechanismen der mit ihnen jeweils
verbundenen "Wahrnehmungs-Akte" durchaus als solche erforschen, ohne die
"Existenz" dieser wahrgenommenen Dinge damit leugnen zu müssen.
(Vgl. das "TI-ER-Modell" und seine Anwendung auf das einzelne
Musikwerk, wie dargestellt in
ston1997090800.html und ston2018030800.html)
In der damaligen Kampf-Situation wäre ein solcher Kompromiss verständlicherweise
nicht förderlich gewesen: Es galt erst einmal, die Fronten zu klären.
Tatsächlich aber folgen die Ontologisten/Phänomenologisten genau unserem Kompromißvorschlag: Die Dinge, denen sie Existenz zusprechen, müssen in einem "Bewußtseinsakt" erst wahrgenommen und "intendiert" werden, um wirksam erkannt werden zu können, und die Randbedingungen und Verfahrensweisen dieses Wahrnehmungsaktes, der ja durchaus ein "psychischer" ist, werden auf das Genauste versucht zu beschreiben und zu analysieren. Nur ist dieser Akt ihnen zufolge halt nicht das Einzige oder gar Letzte.
Gundlegend gilt: Die "psychischen" Sinneseindrücke sind keinesfalls identisch mit dem intentionalen Gegenstand. So besteht z.B. der Anblick einer apfelgroßen roten Kugel, je nach Beleuchtung, aus Schattierungen völlig unterschiedlicher Helligkeit. Unser "Verstand" (würde Schopenhauer sagen) konstruiert daraus den intentionalen Gegenstand der Kugel mit einer überall gleichfarbigen Oberfläche, etc. [ingOnt, S.21, S.151f] Ähnlich wie die Wahrnehmung dreier Rauten-Flächen, die wir als "Würfel" wahrnehmen. [ingErk, S.129]
Derartige Wahrnehmungsakte schaffen also erst
"Intentionale Gegenstände", die
auf die "real existierenden Dinge" als "Urteile" angewandt werden.
Das Wort "Gegenstände" wird übrigens durchweg nicht nur für "Dinge/Objekte/Körper" gebraucht,
sondern für alles, was irgendwie "gegeben" werden kann, also auch
"Ereignisse/Vorgänge/Sachverhalte" und (wichtig für uns)
"Melodieverläufe/Motive/Klänge".
Die "intentionalen" entsprechen den umgangssprachlich "vorgestellte Gegenstände"
genannten, die wir also nur in unsererm Inneren gegeben haben, die wir aber dennoch
"erforschen" können, also sie "im Lichte drehen/herumgehen/immer
wieder neu wahrnehmen/analysieren/zusammenstellen/etc.".
1
Die intentionalen Gegenstände sind aufs engste auf die realen Dinge bezogen, aber mit
diesen keinesfalls identisch (z.B. [ingLitKW, S.87]).
Diese Grundhaltung wird für den hier vorgestellten Entwurf des Literarischen Werkes
fundamental.
Sie wird allerdings auch bei der Anwendung auf das Literarische Werk am
allerdeutlichsten, weil dieses weder mit "realen" noch mit "idealen Gegenstand"
verwechselt werden kann:
Was also ist es? Wie / warum existiert es?
Dabei sind ideale Gegenstände meist mathematische Begriffe und Vorstellungen wie "Kreis" oder "Quadrat"; sie sind zeitlos. Reale Gegenstände andererseits sind zeitbehaftet, sie entstehen und verändern sich und vergehen. Beide sind "seinsautonom", bestehen unabhängig vom auf sie gerichteten Erkenntnisakt. ([ingLitKW, S.7]) Das unterscheidet sie von den intentionalen Gegenständen.
Bei Lesen vom "Literarischen Kunstwerk" [ingLitKW]
fiel gleich eine interessante Dichotomie auf: Einerseits ist dieses
Werk durchaus zeitbezogen und nur im Kontext seiner Enstehungszeit
(1927/28) voll verständlich.
(Abgesehen selbstverständlich davon, dass es als in der Tat wichtiges Werk
auch wertvolle überzeitliche Wahrheiten zur Darstellung bringt.)
Andererseits ist es ca. dreißig Jahre später (1959) noch einmal leicht erweitert
aber grundlegend unverändert aufgelegt worden, u.a. weil es angeblich schlecht
erhältlich aber immer noch sehr begehrt war. Und in der Tat liefern diesbezügliche
Anfragen an die "Primus" Datenbank der Bibliothek der Humboldt-Uni ungefähr
zwölfhundert auf dieses und seine Schwesterwerke bezogene Veröffentlichungen,
durchaus auch aus neuester Zeit!
Dieses Spannungsverhältnis von Zeitbedingtem und Überzeitlichem bestimmt weitgehend die Aufgabe, dieses Werk zusammenzufassen, darzustellen und zu ihm Stellung zu beziehen.
Naturgemäßerweise bestehen zwischen dem Literarischen Kunstwerk (seiner Gestalt, seinem
Erleben, seiner Wirkungsweise) und dem Musikalischen eine ganze Reihe von Unterschieden,
aber auch starken Übereinstimmungen, als beide, im Gegensatz zu Malerei, Skulptur,
etc., nur in einem vorgeschriebenen zeitlichen Verlauf rezipierbar sind.
Die Übertragung der von Ingarden gewonnenen Modelle und Erkenntnisse auf den
Bereich der Musik,
an wenigen Stellen vom Autor selbst schon angedeutet oder partiell vollzogen,
interessiert uns besonders und wird an entsprechender Stelle eingefügt werden.
Ganz zu Beginn behauptet der Autor,
dass die grundlegenden Fragen nach der Seinsweise, der Struktur und
der Wirkungsweise des literarischen Werkes noch garnicht gestellt worden waren!
Dass aber diese zu stellen, systematisch zu erforschen und zumindest teilweise
zu beantworten die Grundlage sein müsse für jede als "wissenschaftlich"
anzusehende Beschäftigung mit ästhetischen Fragen und einzelnen Werken
und dieser vorauszugehen habe. [ingLitKW, S.1f]
Da gehen wir mit dem Verfasser d'accord, wobei es selbstverständlicherweise
heute (2018, seit ca. 1950)
eine Fülle von verschiedenartigsten und teilweise schon weit
ausgearbeiteten Ansätzen zu diesen Fragen gibt, z.B. verschiedenartigste
"Erzähltheorien" mit unterschiedlichster philosophischer Fundierung,
lingustische, soziologische, informationstheoretische Diskurse, etc.
All dies fehlte damals offenbar noch fast vollständig.
(Man mag die grundlegenden ästhetischen Überlegungen Hegels und
Schopenhauers bereits als die ersten
Schrtte einer systematischen Theorie-Fundierung nehmen; die als
solche überaus wichtigen Bemerkungen Nietzsches sind aber
allemal eher politisch-unsystematisch.)
Literarische Kunstwerke haben nun eine eigene Kategorie von
Seins-Weise "sui generis" (S.8), da sie
zwar verändert werden können, auch vergessen und verschwinden, aber zugleich
"ideal" existieren, unabhängig von den psychischen Kreations- und
Rezeptionsakten, von materiellen Realisationen wie gedruckten Exemplaren,
etc.
2
Erst ganz am Ende des Werkes kommt Ingarden auf dieses "ontologische" oder
"ontische" Problem zurück, ohne es allerdings tatsächlich befriedigend zu lösen
(S.381ff).
(Wir verweisen zu diesem Zwecke auf unsere Anwendung des altbewährten
TI-ER-Prinzips, s.o.)
Vom Existieren des seins-autonomen Kunstwerkes selber ist scharf zu trennen
der Akt der Rezeption, also z.B. das Lesen eines Romanes. Dieser Akt
bewirkt/bedeutet jedesmal eine Konkretisation des Werkes, eine
psycho-interne Realisation.
Diese ist vom Werk verschieden, aber durchaus von diesem mehr oder weniger
weitgehend determiniert.
"Das Kunstwerk zeichnet sich dadurch aus, dass es verschiedene ästhetischen Konkretisationen,
die mit seiner Beschaffenheit zusammenstimmen, zulässt." [ingErl, S.215]
Dabei ist entscheidend die "Einstellung", die der Leser dem Werk gegenüber einnimmt.
Die wissenschaftlich-analysierende (das "kalte, völlig neutrale Erfassen")
sei dabei eine grundlegend andere
als die "ästhetische". Diese allein ermöglicht das Wirksam-Werden der im
Werk angelegten ästhetischen Prozesse und ist gekennzeichnet durch
"kontemplative Ruhe, [die] sehrwohl mit höchstem Entzücken zusammen bestehen
[kann]" (S.22).
3
4
Auch hier wieder ein Argument gegen den Psychologismus, der als "objektiv"
zum Werk gehörig
nur das gelten läßt, was (angeblich) für alle denkbaren Subjekte gleichermaßen
und jederzeit
gültig sei: Da fällt dann die ganze Welt der inneren Rezeption weg als nicht
zum Kunstwerk gehörig. Sie ist zwar auch bei Ingarden nicht Teil des
Werkes, aber notwendige Ergänzung, halt seine "Konkretisation".
Im Vorgang des Erlebens des Kunstwerkes in der "ästhetischen Einstellung" wird die Konkretisation als ein inneres Modell (="ästhetischer Gegenstand", was ein intentionaler Gegenstand ist) vom Leser erschaffen 5 6 , die ästhetischen Mechanismen werden wirksam, der "Leser verkehrt unmittelbar" mit den von diesen hervorgebrachten "ästhetisch wertvollen Qualitäten", "erlebt" und "genießt" diese. Die entstehende innere Welt ist eine fiktive, die vom Leser aber als pseudo-real erfahren wird.
Ähnlich der Unterschied zwischen nur "Wissen" und "Verstehen" im Fall von Sachtexten: Wenn ich in einem Text über Geometrie eine Aussage über z.B. Seitenverhältnisse im Dreieck einfach nur zur Kenntnis nehme, dann weiß ich nur, dass dies hier behauptet wird. Erst wenn ich die Konstruktionen innerlich nachvollziehen kann (also das psycho-interne Modell bilden), habe ich ein anschauliches Wissen vom Sachverhalt selbst, weiß "worum es sich 'eigentlich' handelt". [ingErk, S.38]
Dieser Rezeptionsprozess ist als solcher dermaßen komplex und vielschichtig, dass ihm ein ebenso umfangreicher Band, nämlich genau "Vom Erkennen des Literarischen Kunstwerkes" [ingErk] folgen wird. (1936 in polnischer Sprache, 1967 auf Deutsch.) Im Kontext hier ist nur seine Grundstruktur beschrieben, --- zur Erklärung der Wirkungsweisen der Bestandteile des Literarischen Kunstwerkes selber muss aber im folgenden immer wieder auf ihn bezug genommen werden.
...die wesentliche Funktion des ästhetischen Erlebnisses besteht in der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes und damit in der Realisierung ganz bestimmter und nur auf diesem Weg zur Konkretion zu bringender Werte und andererseits in der Realisierung einer emotionell-kontemplativen Erfahrung des Zusammenklanges ästhetisch wertvoller Qualitäten [...]. Darin liegt [...] die Bereicherung des menschlichen Lebens um eine Erfahrungsart, welche den Zugang zu jenen Werten eröffnet, und endlich auch dem Menschen selbst eine Fähigkeit verleiht, die u.a. zu seiner Konstituierung als menschlicher Person wesentlich gehört. [ingErk, S.221]
Die Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und der im Rezeptionsprozess vom
Leser generierten Konkretisation entspricht der von "künstlerischen" und
"ästhetischen" Werten [ingErk, S.305]. Diese "erscheinen" dem Leser direkt bei der Lektüre,
er hat "direkten Umgang" mit diesen, ihre Betrachtung ist Gegenstand der
"literarischen Kritik". Jene aber sind Gegenstand der "kühlen" Analyse und
der Literaturwissenschaft, die "künstlerischen Werte" bestehen in denjenigen
Bestimmungen des real vorhandenen Textes, die während der Lektüre die
ästhetischen Werte hervorbringen können (wir könnten sagen: die "handwerkliche Höhe", o.ae.)
Ein Hauptproblem bei der bisherigen philosophischen Diskussion aber auch
im praktischen Wirken der "Kritiker" bestand darin,
dass diese beiden Sphären nicht sauber getrennt wurden,
bzw. ihr Unterschied nicht deutlich erkannt.
[ingLitKW, S.363 Fußnote,S.427]
Neunzig Prozent des Textes [ingLitKW] beschäftigen sich nun mit dem
Aufbau und der Funktion des seins-autonomen Kunstwerkes selber, und wie
dieses den Rezeptionsvorgang beeinflusst oder gar determiniert.
Dabei ist entscheidend, dass das Literarische Werk
einen Schichten-Aufbau hat (S.25).
Jede Schicht hat ihr eigenes Material, ihre eigenen formalen Regeln,
ihre Rolle im Gesamtwerk. Jede Schicht
wird auf bestimmte Weise wahrgenommen und trägt dazu bei,
die folgenden Schichten zu konstituieren.
Darüber hinaus verhalten sich die Schichten zu einander
als Polyphonie (S.26). Das bedeutet, dass sie ihren jeweils eigenen
Regeln folgen, und z.B. die Kurven ihrer
Komplexität, oder Relevanz, oder Interessantheit
ganz unabhängig von einander an ganz verschiedenen Stellen des Werkes
ihre Höhe- und Tiefpunkte haben können.
Die Polyphonie der Schichten erlaubt die Realisierung verschiedenster
"Harmonieen/Disharmonieen" zwischen ihnen
(wir würden sagen: Konsonanzen und Dissonanzen!-)
Der "ästhetische Wert" des Kunstwerkes wird nicht zuletzt dadurch bestimmt,
dass diese Polyphonie als solche ausgeprägt ist und sich dennoch
zur "einheitlichen Wertqualität" rundet. (S.25ff)
All dies sind sicherlich heute noch gültige Aussagen, mehr noch:
heute wohl allgemein anerkannte Gemeinplätze. Aber anscheinend
hier zum ersten Mal geäußert!?!
Ingarden sieht folgende Schichten, die im folgenden der Reihe nach auf ihr Material, Regeln und Rollen untersucht werden:
Die Schicht der Wortlaute:
"Wortlaut" ist ein Muster, das in sehr unterschiedlichen Folgen von Lauten
immer wieder als identisch erkannt wird.
(Also z.B. dasselbe Wort in verschiedensten Mundarten und Stimmungen ausgesprochen,
gerufen, geflüstert, etc.. S.33)
"Wird ein bestimmter Wortlaut durch das Subjekt erfasst, führt dies unmittelbar
zum Vollzug eines intentionalen Aktes, in welchem der Gehalt einer bestimmten
Bedeutung vermeint wird."
Die Wortlaute haben also die Funktion, die nächstfolgende Schicht der Bedeutungseinheiten
zu konstituieren. Daneben aber noch manche andere,
keinesfalls nur sekundäre Funktionen.
Zunächst (S.40) unterscheiden Ingarden zwischen den "termini technici" einer
bewußt "neutral/vorurteilsfreien"
kalt-objektiven Wissenschafts-Sprache, und andererseits
"starken Worten" aus einer "lebenden Sprache", welche
neben der reinen Bedeutung auch noch Stimmung transportieren.
Insbesondere bestimmen sie die "Ansichten" unter denen die gemeinten
Gegenstände innerlich vorgestellt werden, beeinflusst also o.e. Schicht vier.
(Neuere Linguistik würde da wohl von "Denotation versus Konnotation" sprechen.)
Worte werden zu Sätzen gefügt; es gibt einen "Wortlaut" aber keinen "Satzlaut"; durch dieses Fügen entstehen Umfärbungen der Worte, z.B. durch Kontraste; der Satz ist das primäre: W.v.Humboldt: Das Wort geht aus dem Fluss des Satzes hervor(S.43). 7
Wenn das Wort den Gegenstand bezeichnet, dann der Satz den "Sachverhalt".
Wortlaute, die als solche wirken, werden meist sofort als solche rezipiert, der Leser/Hörer geht sofort auf die gemeinten Bedeutungseinheiten über, und nur selten als reine Lautfolgen überhaupt noch wahrgenommen (S.37). 8
Dennoch kann die lautliche Qualität als solche durchaus ästhetisch wirksam werden:
Vokalabfolgen konstituieren "Reim" "Assonanz" "Melodie".
"Gefühlsqualitäten" ("wehmütig", "lustig") können durch Wortsinn vermittelt werden,
aber auch rein klanglich, wie in der Musik. Oder wenn man ein Gedicht in
einer unbekannten Fremdsprache hört (S.50).
Auf der Ebene der Sätze gibt es die rhythmische Funktion der Laute als Abwechslung von akzentuiert--nichtakzentuiert. (S.45) ("Jeder Text hat Rhythmus, er kann aber zu komplex für die Wahrnehmung sein.") Das konkrete Lautmaterial gehöre mitnichten zum Kunstwerk; Wortlaut, Rhythmus, Reim etc. allerdings doch.
Um all dies einzuordnen merkt Ingarden an, dass es halt "verschiedenartigste Schönheiten" gebe, wie die der romanischen vs. der gotischen Kirche, und sich so auch die der Schönheit der klanglichen Schicht gegenüber z.B. die der dramatischen Situation verhalte (S.55). Dies ist eine sich noch öfter wiederholende petitio principii, denn von "Schönheit", und was das eigentlich sei, und wie diese zu fassen oder auch nur anzugehen sei, ist auf systematische Weise im gesamten Werk nicht die Rede. Vielmehr behauptete der Autor sogar ausdrücklich, jedenfalls in diesem Buch auf jede Form der "Wertung" verzichten zu wollen. (S.19) Diese Inkonsequenz ist eine grundlegende Schwäche der ansonsten so wertvollen Arbeit.
Bei der Analyse der nächsten Schicht, den Bedeutungseinheiten, werden zunächst sechs verschiedene Kategorien aufgewiesen, in denen sich Wortbedeutung konstituiert. (S.61f). Im Rahmen der grundlegenden philosophischen Theorie gilt, grob zusammengefasst, dass "Meinungsakte" des Individuums den Bezug eines Wortes auf einen "intentionalen Gegenstand" in einem Bewußtseinsakt "bestimmen" / "entwerfen".
Die genaue Diskussion nimmt über fünfzig Seiten ein, die hier kaum
zusammenzufassen sind. Auf der nächst-höheren Strukturebene
wird dann aufgewiesen, dass im Zusammenhang des
Satzes (der ja eigentlich die gegebenen Gegenstände zu Sach-Verhalten
zusammenfügt) die Wortbedeutung selbst verändert wird:
meist durch den Zusammenhang lediglich stärker bestimmt,
aber manchmal sogar völlig re-definiert (S.94).
Auch die Folgen von mehreren Sätzen konstituieren neue Bedeutungen, da der Leser
z.B. (berechtigterweise) kausale Zusammenhänge annimmt, wie in der Folge
"Mein Sohn hat ein gutes Schulzeugnis bekommen. Er ist sehr vergnügt und
spielt lustig im Garten." (S.155)
9
Die Hauptfunktion der Schicht der Bedeutungseinheiten ist, eine "fingierte Welt" (S.182), eine "Welt für sich" (S.178) zu erschaffen
Alle sich auf diese Welt beziehenden Tatsachen oder Aussagen werden als "quasi-"modifiziert bezeichnet: Sie beziehen sich auf Sachverhalte, die (für die Dauer der Lektüre z.B.) als real betrachtet werden, es aber keinesfalls sind, wie ja auch der Leser weiß, wenn er sich wieder im heimischen Lehnstuhl wiederfindet (S.170ff). Dieselbe Modifikation bezieht sich auch auf alle (Quasi-)Fragesätze, (Quasi-)Befehle, (Quasi-)Vermutungen, (Quasi-)Wünsche, etc. (S.192) Sie funktionieren exakt wie in der Realität, aber unter dem Vorbehalt der Fiktion. Dies wird durch das Präfix "Quasi-" ausgedrückt.
Dies bezieht sich auch auf die von Ingarden mehrfach angeführte "Kundgabefunktion" der Rede (S.193), was in neuerer Terminologie der "linguistischen Pragmatik" oder genauer den "expressiven Illokutionen" zugerechnet wird.
Für die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten gilt folgendes:
Die Gegenstände der fingierten Welt werden nicht nur mit bloßen Tatsachenaussagen
belegt, sondern vom Text auch "dargestellt", "enthüllt" und "zur Schau gestellt"
(S.204ff, dies bildet aber schon den Übergang zur nächsten Schicht).
Sie werden aufgefasst als Teil einer eigenen, zusammenhängenden, funktionierenden
Welt, von der nur ein Teil vom Kunstwerk bestimmt wird, -- "als ob ein
Lichtkegel den Teil einer Gegend beleuchtet." (S.230)
Dennoch aber gelten die Kontinuitätsgesetze von Raum und Zeit; der Leser
ergänzt das Dazwischenliegende, Nicht-Geschilderte. Dies ist ein "Realitätshabitus" (S.233)
Die Konstruktion dieser inneren Welt aus den Namen und Tatsachen der o.e. Bedeutungsschicht ist eine aktive Tätigkeit des Lesers [ingErk, S.35] und von zentraler Wichtigkeit für die ästhetische Rezeption des Werkes.
Die Weise, wie der "visuelle Standpunkt des Lesers" mit dem Helden oder ohne ihn sich in Raum und Zeit verändert ist ein wichtiges Stil-Kriterium. (S.245) Ebenso, wie in langen Epen wie den Buddenbrooks die Zeit teils gleichsam in Realzeit verläuft, dann wieder über Jahre hinwegspringt. (S.255)
Wichtig die herausgestellten Unterschiede zwischen den realen Gegenständen und den
im literarischen Werk dargestellten:
"Jeder reale Gegenstand ist allseitig eindeutig bestimmt". "Alle
seine Bestimmungen bilden eine konkrete Einheit" (S.261f)
Er ist gleichsam rund und ich kann um ihn herumgehen und von allen
Seiten "eine unendliche Mannigfaltigkeit" von Daten sammeln, die
bruchlos sich einander ablösen.
Bei den dargestellten ist es genau umgekehrt: Sie werden durch
die im Werk enthaltenen Einzel-Angaben konstituiert, und ihre Selbst-Identität
wird in der Vorstellung des Lesers erst konstruiert.
"Namen" referieren auf Objektvorstellungen und "Sätze" auf "Sach-Verhalte", die
weitere Eigenschaften des Gegenstandes beschreiben.
Von diesen gibt es aber nur endlich viele. Sie sind nicht kontinuierlich sondern
gleichsam "gefleckt", und es müssen Unbestimmtheitsstellen bleiben,
sogar unendlich viele (S.263f). Diese Unbestimmtheitsstellen bilden den wichtigsten
Bereich, der später im ästhetischen Vollzug des Werkes (sei es Lektüre, sei es
Inszenierung) auszufüllen ist,
durch dessen Ausfüllung sich die verschiedenen Konkretisationen unterscheiden und dessen
Enge oder Weite der möglichen Ausfüllungen ein entscheidendes Kriterium des
Kunstwerkes ist. Das Kriterum des "Gerecht-Werdens" von bestimmten Ausfüllungs-Varianten
von gegebenen Unbestimmtheitsstellen wird an vielen verschiedenen Stellen
des weiteren Diskurses in beiden Bänden ein entscheidendes Kriterium werden,
aber inhaltlich nie definiert werden sondern immer "naiv vorausgesetzt" oder
"importiert", was man als Manko auffassen kann.
Die im literarischen Kunstwerk
dargestellten Gegenstände sind also "schematisiert" und unter-bestimmt.
(Diese Unterbestimmtheit ist auch ein Mehr an Möglichkeiten: ein
dargestellter Gegenstand kann als "farbig" benannt werden, ohne als "rot", "gelb" oder
sonstwie festgelegt zu sein, was ein äußerer Gegenstand nie sein kann!)(S.262)
Sie werden durchweg als "reale Gegenstände" vom Rezipienten intendiert und als solche
betrachtet.
Ihre Unterbestimmtheit wird von diesem während dem Rezeptionsprozess i.A. gar
nicht "gespürt" (S.267).
Ihre Unterbestimmtheit ist nicht nur notwendig, sondern auch zweckmäßig: Ein Zuviel
an Details bei einer Beschreibung kann dem rezeptiven Akt des inneren Vorstellens sogar
erschweren [ingErk, S.61].
Mehr noch, es kann als Stilmittel dienen:
"Das Dunkel-Lassen dieser Einzelheiten macht die Situation umso expressiver und
eindrucksvoller." [ingErk, S.253]
Objektiv hingegen gilt, dass "jedes literarische Werk [...] prinzipiell unvollständig sei und eine immer weitergehende Ergänzug fordere." (S.266) Dies ist genau dann eine besonders wichtige Feststellung, wenn sie sich auf sog. wissenschaftliche, nicht-fiktionale Texte bezieht und eine enorme Herausforderung an jeden Versuch einer Wissenschaftstheorie. (S.267)
Wie o.e. werden die Gegenstände der fingierten Welt vom Kunstwerk
auch "zur Schau gestellt". Dies geschieht in der Schicht der
"parat gehaltenen" oder "schematisierten" Ansichten.
Dies sind die einzelnen "Bilder", in denen die dargestellten Gegenstände
vom Leser sich "innerlich vorgestellt" werden sollen. Jede dieser Vorstellungen,
als je sehr persönliches psycho-internes Ereignis, sind jeweils anders,
aber durch die "bereitgestellten" Ansichten mehr oder weniger deutlich
vorgeprägt. (S.279)
Dazu können nun alle bisherigen Schichten des Werkes beitragen:
von der Lautfolge (S.284f) über die Wortwahl (S.296) und den Satzbau
10
bis zu den geschilderten Sachverhalten
kann die Ansicht mehr oder weniger genau bestimmt werden.
(An-SICHT ist dabei ein irreführendes Wort, da auch akustische, taktile,
olfaktorische "Ansichten" möglich sind, S.297)
Die Rollen dieser Schicht sind (a) die dargestellten Gegenstände anschaulich zu machen, und somit glaubwürdig, (b) bestimmte ihrer Eigenschaften hervorzuheben (S.300) (c) in der Polyphonie der Schichten eine eigene Kurve zu realisieren, (d) durch die Auswahl der Arten von auftretenden Ansichten den "Stil" des Gesamtwerkes maßgeblich mitzubestimmen (S.297).
Metaphysische Qualitäten bestimmt Ingarden zunächst qua Beispiel: "das Erhabene, das Tragische, das Furchtbare, das Erschütternde" (S.310) Dann behauptet er, dass deren Wert darin besteht, die "grauen gesichtslosen Erlebnisse des Alltags" zu durchbrechen und "wie eine Gnade" "dem Leben einen Erlebenswert verleihen", -- und das unabhängig von negativer oder positiver Wertigkeit, ob das "grausam-sündhafte Erschauern des Mordes oder die seelische Verzückung in der Vereinigung mit Gott."
Aber während sie geschehen können wir sie weder richtig einordnen noch voll und ganz auskosten. Also müssen sie im Kunstwerk nacherschaffen werden, um tatsächlich erfahrbar zu werden.
(Wir halten diese Konstruktion für etwas gewagt. Sie hat allemal wahre Aspekte, vgl. z.B. was Safranski in seinem Nietzsche-Buch sagte: Dass nämlich das in unserer modernen Zeit verlorengeganene "Chthonische, Dionysische, Orgiastische, Unmittelbare" in der MUSIK unterschwellig weitergetragen wird ...)
Gerade die "nur quasi-Realität" der dargestellten Gegenstände im Kunstwerk ist hier von Vorteil, das die letzte Überwältigung und Blendung wegfällt: Die metaphysischen Qualitäten werden zwar nicht "realisiert" aber "konkretisiert", können deshalb also besser betrachtet werden (S.314)
"Unzweifelhaft bleibt ein Nachhall der [...] Erschütterung eine Zeitlang
spürbar, das reale Leben ist aber viel stärker und fordert sein Recht."
Das aber ist ein recht spießiger Standpunkt! Wir erleben das anders:
Einmal Walküre ist mindestens drei Tage lange stärker als jedes
andere Recht und fundamentaler Bestandteil unseres realen Lebens!
Auch ist die seit alters her diskutierte
"Katharsis-Funktion" des Dramas etwas deutlich stärkeres
als das hier doch recht verniedlichte Erleben der metaphysischen Qualitäten:
Eine wahre Reinigung geschieht ja nur durch das Durch-LEBEN, Er-LEIDEN der
Erschütterung, nicht durch deren gefällige Betrachtung! Da hätten wir mehr erwartet!
Zuletzt (S.325) wird ein (möglicher) letzter Sinn des Literarischen Kunstwerkes
beschworen, hervorgerufen durch die metaphysische Qualität, die sich am
Kulminationspunkt des Werkes zeigt.
Sie verleihe dem Werk seinen "Sinn, der sich rein begrifflich nicht bestimmen läßt."
Für den allgemeinen Fall bezweifeln wir das: Dieser "Sinn" wird sich in den
allermeisten Fällen sehr wohl begriffliche bestimmen lassen, wenn es auch Mühe macht.
Die Funktion des Kunstwerkes ist ja nicht, die begriffliche Bestimmung zu
ersetzen, sondern das zu leisten, was diese ja genau NICHT kann, nämlich
die anschauliche, quasi-reale, gegenständliche Darstellung, das einprägsame
Nacherleben, die emotionale Achterbahn, das ernsthafte Empfinden.
Bis hierhin zusammenfassend möchten wir sagen: Ein sehr begrüßenswerter Ansatz, der auch wichtige Zwischenresultate bringt und manche Begriffsverwirrung klärt. Oft aber geht einiges durcheinander und die Durchführung folgt nicht ihren eigenen Vorgaben: Elemente der Rezeption werden als Struktureigenschaften der Sache fehlinterpretiert, Wertungen finden Eingang in Beurteilungen, Begriffe wie "Stil" und "Schönheit" tauchen unvorbereitet auf (S.226f). Es wäre ein lohnendes Unternehmen, den Gesamttext von diesen Inkonsistenzen zu reinigen.
Allerdings ist eindeutig, dass der Text immer besser wird, je weiter er in die Verästelungen der einzelnen Kunstgattungen und konkreten Präsentationsformen hinein verzweigt: Diese Art der Differenzierung scheint um so fruchtbarer, je konkreter ihr Gegenstand ist, und die Antworten zu den jeweiligen Einzel-Fragen von Bühnenbearbeitung und -aufführung, Film, Pantomime etc., in den letzten Kapiteln und im Anhang, sind durchweg überzeugend. (So schlägt er z.B. bereits 1928 das "Drei-Dee-Kino" vor (S.345 Fußnote)!-)
Der Folgeband [ingErk] (wie erwähnt auf Polnisch 1936, auf Deutsch dann 1967) scheint eine logische Ergänzung, da man ja (rein formal gesehen) nach der "Ontologie" nun die "Phänomenologie" erwarten könnte. Allerdings wurde ja auch im ersten Band schon auf die "Realisation"/"Konkretisation" des Werkes im Prozess der "ästhetischen Aneignung" immer wieder Bezug genommen, so dass wir jetzt auf die Darstellung "im Kamera-Gegenschuss" sehr gespannt sind!
Zunächst einmal werden die Vorgänge und Tätigkeiten beim "Lesen" folgend dem in [ingLitKW] aufgestellen Schichtenmodell genauer betrachtet. Dabei ergeben sich sowohl noch griffigere Formulierungen davon, als auch wichtige, akribisch und richtig dargestellte Einzelerkenntnisse für die Auswirkungen der einzelnen Schichten.
Im großen sieht Ingarden drei verschiedene mögliche Haltungen beim Erfassen des Literarischen Werkes, nämlich (a) das "kühl-sachliche Analysieren" , das (b) "aktive Lesen" als Vollzug der Begegnung mit dem Ästhetischen (S.177), und (c) das wieder sachliche Analysieren der in Fall (b) generierten psycho-internen "Konkretisation" des Werkes (S.231,312,342,413)
Die wichtigste Rezeptionshaltung ist (b), weil sie die eigentliche Zielbestimmung
des Literarischen Kunstwerkes ist: Es will gelesen werden.
Dieses Lesen ist ein aktiver Vorgang, bei dem der Leser alle Schichten
(lautliche Schicht, Begriffsbedeutung, konstruierte fiktive Welt, paratgehaltene
Ansichten) rezipiert. Dies ist ein sehr komplexer Prozess, wo jede Schicht die
nachgeordneten erst konstituiert, aber auch Rückwirkungen in Gegenrichtung auftreten
können (S.72). Der Leser "konkretisiert" das Kunstwerk indem er ein internes Modell
erschafft, eine innere Vorstellung von einer "quasi-realen" Welt, in der
(normalerweise!-) die Gesetze von Zeit und Raum so gelten wie bekannt
[ingLitKW, S.233]. Diese
Welt ist "bindend" für die Rezeption des fortschreitenden Werkes. (S.38)
Wie oben bereits erwähnt ist eine Haupttätigkeit des Lesers das "Ausfüllen der Leerstellen",
welches vom Kunstwerk selbst mehr oder weniger stark determiniert wird, und vom Leser
selbst als solches gar nicht wahrgenommen.
Jeder Leser entwickelt so eine eigene Konkretisation, ja, beim wiederholten Lesen tut
dies jeder einzelne Lesevorgang; die Frage der Vergleichbarkeit, Mittteilbarkeit
und Angemesseneheit dieser Konkretisationen zeigt neue Probleme und wird ausführlich
analysiert.
Die Wirkungsweisen des Lesevorganges werden weiter dadurch kompliziert, dass er sich
in der Zeit abspielt, also Vorstellungen verblassen und wieder re-aktiviert
werden müssen; das Spätere deutlicher ist das das Ältere; am Schluss eine
Gesamtschau konstruiert wird, die vom Späteren bestimmt ist, etc. (Sehr
detailliert diskutiert in S.118ff,
S.126 Fußnote, S.146ff, S.414, etc.)
Zwischen diesen quasi-zeitlich angeordneten Elementen der verschiedenen Schichten
können muntere Interaktionen vorwärts und rückwärts spielen:
Der Sinn eines vorangehenden Satzes kann a posteriori modifiziert werden
[ingErk, S.33,106,123];
umgekehrt kann Erwartung auf Fortsetzung der Handlung [ingErk, S.104]
oder Rhythmus oder Reim erweckt werden, etc.
All diese Abhängigkeiten werden über die vierhundert Seiten Vom Erkennen des Literarischen Kunstwerkes genau und erschöpfend analysiert.
Die Haltung (a), das wissenschaftliche Analysieren, geht ganz anders vor. Statt ästhetische Werte zu erleben werden hier künstlerische Werte analysiert. Jede "gefühlsmäßige Reaktion" ist zu vermeiden; allerdings ist "Mit-Fühlen" teils nötig, um "gewisse psychische Tatsachen in ihrer Lebendigkeit zu enthüllen. (S.246) Diese Rezeptionsart muss, um sinnvoll zu sein, von einem vorherigen Erleben der Form (b) gesteuert werden (auch S.297f):
Diese Betrachtung verläuft fortwährend an der Grenze zwischen der Erfassung der EinzeIheiten eines literarischen Kunstwerkes als eines schematischen und ästhetisch neutralen Gebildes und den verschiedenen, sich als Möglichkeiten nur andeutenden ästhetischen Konkretisationen des betreffenden Werkes [...]. Das ist eine besonders schwierige Betrachtungsart. Denn einerseits muss man die "kühle", ästhetisch neutrale Einstellung in der vorästhetischen Analyse einhalten, andererseits sich aber immer wieder auf deas Gedächtnis der früher vollzogenen Konkretisationen des Werkes berufen oder in die aktuelle ästhetische Einstellung hinenversetzen, in welcher man wenigstens das in Frage kommende Fragment der Konkretisation des Werkes zu aktualisieren versucht. [ingErk, S.263]
In Zusammenhang mit der Rezeptionsform (a) ist noch wichtig
die Variante (b') der Rekonstruktion des Werkes (S.348), wo zwar
der Vorgang der Konkretisation vollzogen wird, aber dabei bewußt darauf geachtet wird,
die Unbestimmtheitsstellen unausgefüllt zu lassen, sodass sich zwar ein psycho-internes
Modell ergibt, dies aber dem Kunstwerk (als objektiv gegebener Struktur) möglichst
nahe kommt.
Als Ergebnis von (b') können z.B. im Analyseprozess (a) die
Unbestimmtheitsstellen als solche betrachtet werden und Auskunft über die
künstlerischen Techniken ihrer Verteilung und Ausgestaltung geben
[ingErk, S.253].
Entscheidend für den wirklichen Leseprozess ist nun, dass diese saubere Trennung in verschiedene Haltungen und Lese-Verfahren eben nicht stattfindet. In der Tat kann man vom Lesen der Form (b) in Lese-Pausen in die Betrachtungen der Form (a) oder (c) wechseln (S.297).
Für lyrische Werke wird sogar behauptet:
Wie sich dies alles [= der rein emotionale Zusammenhang der sprachlautlichen Schicht mit den übrigen Schichten, die Entsprechung der in den verschiedenen Schichten potentiell bestimmten relevanten ästhetischen Qualitäten] im Einzelfall gestaltet, kann in keiner schlichten, ohne Unterbrechung in ästhetischer Einstellung verlaufenden Lekture wirklich zu klarem Bewußtsein gebracht werden. [ingErk, S.281,S.418]
Nungut, Unterbrechungen ist vielleicht nicht nötig bei einem kurzen Gedicht, aber der Wechsel der Haltungen schon. Ingarden bringt hier als Beispiele sehr überzeugende knappe Analysen von Rilke-Gedichten (S.285ff); wir verweisen auf unsere Analysen der Vokal- und Konsonanten-Schicht in seinem Panther in ston2015122503: Hat man einmal die rhythmischen Verläufe dieser Schichten sich getrennt bewußt gemacht, so verändert, färbt und verstärkt es die Wirkungen des Gesamtklanges bei jedem erneuten (lauten) Lesen. Ingarden sagt: Es "leuchtet [...] durch". (S.327)
Übertragen auf die Musik scheinen die beiden Grundhaltungen des ästhetischen
Erlebens und des bewußten Analysierens viel stärker verflochten zu sein, als es hier
für das literarische Kunstwerk ausgeführt wird:
Obwohl es da keine Möglichkeit zur spontanen Pause gibt, fließt immer wieder
das bewußte Wissen in das emotionale Empfinden ein, und umgekehrt:
"Nun weißt du, fragende Frau, warum ich Friedmund nicht heiße."
Die überwältigend-anrührende Wirkung der folgenden Orchestertöne ist unmittelbar-emotional,
kommt aber aus der Tatsache, dass ich intellektuell weiß, wo sonst noch das
"Wälsungen-Motiv" auftauchen wird, für was es steht, und dass es letztlich Siegfrieds
Begräbnismarsch eröffnen wird.
Umgekehrt: Der Wiedereintritt nach d-moll in Takt 315
des ersten Satzes von Beethovens Neunter Sinfonie
ist zunächst ein rein physisch-libidinöser Vorgang. Er konstituitert aber (neben anderen)
eindringlich das formale Wissen (=die folgende Erwartung), dass wir hier
die "Reprise im Sinne der Sonatenhauptsatzform" erreicht haben.
Die beim literarischen Kunstwerk anscheinend mögliche Trennung von
"Erkennen" und "Entzücken" durch Verteilen auf verschieden Phase und Einstellungen
scheint beim musikalischen Werk deutlich schwerer.
Die letzte Haltung der Betrachtung des literarischen Werkes (c) besteht in der Betrachtung der ästhetischen Konkretisationen selbst. Ingarden weist zurecht darauf hin, dass eine Fülle von Missverstädnissen und Fehlurteilen auf die Verwechslung der vier aufgeführten grundlegenden Haltungen zurückzuführen ist. Dies besonders bei professionellen Literaturkritikern oder Literaturwissenschaftlern, die das Werk von seinen Konkretisationen nicht genügend unterscheiden. [ingLitKW, S.363 Fußnote,S.427]
Die Betrachtung und der Vergleich der Konkretisationen ist insofern besonders
kritisch, als es sich ja beim bloßen Lesen um psycho-interne Modell handelt, die als
solche nicht mitteilbar sind. Wenn Leser ihre Erfahrungen mit demselben
Werk vergleichen wollen, reden sie (falls sie nicht bewußt
all die hier angeführten Analysen gründlich geübt haben)
automatisch über ihre eigene Konkretisation des Werkes;
wenn man dasselbe Werk im Abstand von Jahren liest, kann man bemerken,
wie die Konkretisationen sich ändern, weil man selbst sich ändert.
Anders ist es bei Inszenierungen von Dramen (oder
Verfilmungen von Romanen), wo die Konkretisation selber ja physisch nach
außen tritt.
11
Hier ist es am häufigsten, dass ein Leser meinen kann, das "Werk sei verfehlt"
oder "die Inszenierung unangemessen".
Bei allen derartigen Aussagen ist aber zwingende Voraussetzung, dass
zwischen dem "gedruckten Text" als realem Gegenstand,
dem "Literarischen Kunstwerk" als schematisiertem intentionalen Gegenstand,
den vielen verschiedenen "Konkretisationen" als inneren oder äußeren Gegenstände
und der "Rekonstruktion" als Versuch, sich von diesen ausgehend wiederum dem Schema
anzunähern, deutlich unterschieden wird und jede Aussage präzise unter all diesen ihren
Gegenstand benennt.
Besonders bei der Übertragung auf das Musikwerk, die uns hier ja vordringlich
interessiert, wird sich das bestätigen.
Die Ausgangsbasis aller Argumentation dieser "ersten/realistischen Husserlschen Schule",
zu der auch die Ästhetik Ingardens gehört, scheint uns theoretisch durchaus
angreifbar.
Aber auch wenn die philosphische Fundierung zweifelhaft ist oder wäre, können ja
dennoch die weitergehenden Analysen durchaus zutreffend und fruchtbar sein.
So wird besonders in [ingErk] der Prozess "des Lesens" in all seinen
möglichen Aspekten einer akribischen und sehr sensiblen Analyse unterzogen, deren
Ergebnisse weitgehend als zutreffend und überzeugend anerkannt werden müssen und
die recht problemlos auf ganz andere philosophische Fundamente umpflanzbar wären,
wie Psychologismus, Transzendentaler Idealismus, Positivismus etc.
(Ingarden selber ahnt so etwas in [ingOnt, S.277] bei der Besprechung
des Realitäts-Charakters des architektonischen Kuntwerkes auch in virtueller Realität,
in "vollständiger Illusion".)
In diesem Sinne sind die Analysen Ingardens anscheinend ein End-, aber auch ein Höhepunkt der "traditionell bürgerlichen" Kunstbetrachtung. Die grundlegende Absicht und Strategie, der philosophische Ausgangspunkt, die Zielvorstellungen und Ambitioniertheit und die angewandte Methodik dieses Werkes sind allesamt hoch löblich und zu begrüßen. Wenn in der Ausführung manche Inkonsistenzen und in den Wertungen manche Voreiligkeit herrscht, so tut das dem Wert der Konstruktion als ganzer keinen Abbruch, -- auf sie ließe sich sicherlich aufbauen.
Bedeutsam (und sehr sympathisch !-) ist, dass der Autor eine ästhetische Analyse in den Mittelpunkt seiner ersten Schaffensperiode stellt, bevor er sich seinem eigentlichen philosphischen "System" [ingEx] zuwendet. Dabei werden grundlegende und wichtige Effekte der menschlichen Kommunikation überhaupt aufgewiesen, die tatsächlich aber weit über das literarische Kunstwerk hinaus eine viel allgemeinere Gültigkeit haben. So sind z.B. das "Auffüllen von Leerstellen", "a posteriori Modifikation" oder das "Parathalten von Ansichten" ja seelische Mechanismen, die im alltäglichen Alltags-Gespräch an der Wursttheke schon eine bedeutende, ja fundamentale Rolle spielen. Dies wird in beiden Bänden mit keinem einzigen Wort erwähnt!
Weiterhin sind dem Autor angesichts des Pionier-Charakters des Projektes durchaus weitgehende Vereinfachungen zuzugestehen. So wird verblüffenderweise im Haupttext der grundlegenden Beschreibung der Rezeptionsmechanismen trotz der detaillierten Analyse der verschiedenen Phasen von Rezeption, Wahrnehmung und Analyse und deren gegenseitiger Beeiflussung überhaupt nicht auf die Unterscheidung von erstmaligem Lesen zu Wieder-Lesen, Wieder-Wieder-Lesen, etc., eingegangen. Die erste Erwähnung mehrfacher Rezeption geschieht zur [ingErk, S.33], da aber ohne Konsequenzen und nur der Möglichkeit angedeutet; dann erst wieder S.319, als alles schon gesagt ist! 12
Dies ist besonders auffällig, wenn wir seine Ergebnisse auf den Bereich der Musik
übertragen wollen: Das mehrmalige Erleben "ein und desselben" Werkes (qua Hören oder Lesen)
scheint im Bereich der Musik wesentlich häufiger, ja, sogar der Normalfall zu sein,
verglichen mit mehrmaliger Lektüre als der Ausnahme. Vielleicht, weil
scheinbar das Musikhören als Berieseln-Lassen der einfachere Vorgang ist,
weniger eigene Anstrengung erfordernd,
oder der sinnlichere, wie eine angenehmen Dusche konsumierbar !?
Allemal hat die Wiederholung der Rezeption aber in der Musik viel weiter gehende
Änderungen des jeweils konstruierten ästhetischen Gegenstandes zur Folge, --
anspruchsvolleren Werken kommt man erst ab dem fünften (oder hundertsten) Rezipieren überhaupt
nahe!
Ausserdem bleibt weitgehend unberücksichtigt, dass in Literarischen Kunstwerken eine Mischung von realen und fiktiven Gegenständen keinesfalls selten ist, und zwar nicht wie ein fiktiver zu dem realen "Wallenstein" sich verhalte, sondern dass fiktive Romanfiguren sich in bekannten, realen Szenen bewegen. Die scharfe Unterscheidung [ingErk, S.35] scheint uns für eine erste theoretische Untersuchung durchaus praktisch, für die Realität aber fundamental unangemessen.
Deutlich widersprechen wollen wir aber §37 [ingLitKW, S.257], der eine
"Repräsentationsfunktion" zwischen dargestellten Gegenständen und historischen
behauptet: Der "Wallenstein" des Dramas hat u.E. nicht eine derart
direkte Beziehung zum Wallenstein der Geschichte, wie hier nahgelegt.
Vielmehr besteht interessanterweise ein auffälliger blinder Fleck in Ingardens
Analyse:
Er analysiert durchaus zutreffend die Wirkungsweise der
eher grundlegenden Schichten von "Wortlaut", "Bedeutungseinheiten",
"Gegenständen und Tatsachen" und "parat gehaltenen Ansichten",
ihre eigenen Gesetze und gegenseitigen Wirkungen.
Ganz weit darüber stehen am Schluss dann die "Transzendentalen Qualitäten".
Aber dazwischen fehlt völlig die höchst wichtige Schicht der
"klasischen gymnasialen Interpretation":
Dass es nämlich Schillern nicht (oder zumindest:
weniger) um die Darstellung der reinen Tatsachen und um die konkreten
historischen Personen Wallenstein, die Piccolomini, etc. ging, sondern um
das Aufweisen von Grundmechanismen in menschlichem Verhalten und
politischen Konstellationen: Macht und Verführung, Treue und Verrat, und
welche Gegebenheiten je dazu führen. Die
überzeitlichen Mechanismen sind in jedem Historiendrama
(ob Shakespeare oder Schiller)
mindestens genau so weit Inhalt wie die konkreten "historischen Tatsachen".
Die einzelnen Personen, ob historisch bezogen oder nicht, sind in dieser Hinsicht
nur Labormäuse oder Demonstrationsobjekte
zwecks Aufspüren oder Aufweisen von weit über ihre konkrete Existenz hinausgehenden
allgemeinen menschlichen Bedingungen.
Diese Schicht könnte man nennen die der "transzendierenden, aber dennoch konkreten Muster". Sie ist, jedenfalls haben wir es auf dem Gymnasium so gelernt, die "eigentliche Bedeutung" in fast jedem literarischen Kunstwerk. Sie findet in Ingardens Analyse überraschenderweise überhaupt nicht statt.
Überhaupt fehlt auch nur jeder Ansatz oder auch nur Vorschlag zu einer funktionalen Analyse, was denn nun die konkreten Mechanismen sind, mit denen die rein statischen Momenten in der Faktur der Werke (hier: das literarische; später dann auch Musik, Bild, etc.) die erlebbaren "ästhetischen Werte" hervorbringen. Allerdings nennt Ingarden diesen Manko häufig selbst und verweist immer wieder auf die Notwendigkeit von detaillierten Analysen an konkreten Einzelwerken, womit er sicherlich Recht hat. In der Folgeschrift "Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk" in [ingErk] wird er auf S.47 ganz en passant eine "dritte Verhaltensweise" zum (allgemeinen) Kunstwerk aufweisen, dort genannt "c) die funktional-ästhetische Betrachtungsweise", ohne sie allerdings weiter auszuführen, ja, auch nur mit einem Wort noch zu erwähnen. Es könnte sein, dass damit genau die hier so schmerzlich vermisste "Analyse des ästhetischen Funktionierens" gemeint ist, deren Ausführung ja nur die Aufgabe der gesamten Forschergemeinschaft sein kann.
Durchgängig zeigt der Autor einen recht "konservativen", ja "naiven" Literaturgeschmack,
und in seinen Äußerungen finden sich immer wieder zeitbedingte "Vorurteile":
Der berühmte Anfang von Johnson Mutmaßungen über Jakob ist
mit seinen Kategorieen von "Klarheit und Verständlichkeit" [ingLitKW, S.224] keinesfalls
zu erfassen;
Lems Sterntagebücher wären ihm ein "grotesker Tanz von Unmöglichkeiten"
13
[ingLitKW, S.269];
mitten in einer Novelle darf nicht plötzlich ein Essay erscheinen [ingLitKW, S.163],
was Proust und Joyce ausschließt.
Immer wieder zitiert er ganz unbekümmert das informelle Vorverständnis
von "spielerisch-heiter" und "negativ-wertig" [ingLitKW, S.227],
redet frischweg von "dem Werk gerecht werden" [ingLitKW, S.356],
[ingErk, S.35,403]. Hingegen "im modernen Theater führt dies zu reinem Unfug."
[ingErl, S218 Fußnote]
14
"Unklarheit, Undurchsichtigkeit, Unverständlichkeit [stellt immer] einen Mangel
des Satzes oder des ganzen Werkes dar." [ingErl, S.169]
Auch das Verhältnis von wissenschaftlichem
zu fiktionalem Werk wird recht unkritisch aus dem naiven Vorverständis übernommen
[ingErk, S.12], etc.
In der ansonsten sehr bemerkenswerten und wertvollen Analyse der Grundstrukturen von
Lyrik, Leser, Zeit und Lyrischem Ich fällt Ähnliches auf:
Das Lyrische Ich "befindet sich nicht in einer Welt, in welcher das Vollführen
echter Taten überhaupt möglich wäre" [ingErk, S.277], es kann also nicht handeln.
Überdies "urteilt das lyrische Subjekt über seine Umwelt nie auf eine
verantwortliche Weise." [ingErk, S.279]
Heine und Brecht sind da deutlich anderer Ansicht!
Aus manchen bereits erwähnten Zirkeln und petitiones principii kommt er auch nicht heraus.
Aber sein Text ist durchaus geeignet, diese deutlich aufzuweisen:
Er arbeitet durchgehend mit einem vor-gefundenen, nie problematisierten Begriff
von "Wert".
Ohne weitere Diskussion wird behauptet
"Werke können [...] negativ-wertig sein" [ingErk, S.5],
moderne Regisseure "verfälschen" klassische Werke [ingErk, S.57].
Überhaupt wird vorausgesetzt, es gäbe "zugelassene Konkretisationen" [ingLitKW, S.363] und
man könne diese im Einzelfall auch als solche erkennen.
Dabei fehlt ihm zu dieser Zeit fast noch jedes "modernere"
Gefühl für die Sinnhaftigkeit von "Dialektik". So wird die
Diskussion über das "Maß der Entsprechung der Aktualisierung"
(wir würden heute sagen "Werktreue") zwar auf das ausführlichste und
mit der notwendigen kritischen begrifflichen
Differenzierung geführt [ingErk, S.428ff], hat aber als Grundlage eine streng ein-dimensionale,
total geordnete Skala von möglicher Nähe oder Ferne
("Es kann nur gefragt werden, ob diese beiden Werte dem Werk selbst gleich nahe stehen oder
ob vielleicht der eine von ihnen zwar höher ist, aber dem Werk nicht voll gerecht wird."
[ingErk, S.434])
"Konstruktive Widersprüche" sind da nicht abbildbar, kommen dem Autor auch wohl nicht in den Sinn.
Wenn z.B. eine Bühnenaufführung von Kleists Penthesilea die Amazonen auf
Motorrädern auffahren läßt, also eine "extrem unangemessene" Realisierung vollzieht,
die Sprache aber völlig unangestastet läßt, dann wird diese genau deshalb,
aus reiner Konstrastwirkung, in ihrer Gestaltung, ihrem Stil und ihren Details
um so deutlicher hervortreten.
Allerdings wird er 1965 durchaus konstatieren, dass "z.B. in einem Werk der
Architektur die Symmetrie der Masseverteilung [...] erst dann mit Deutlichkeit
hervortritt, wenn zugleich eine gewisse Asymmetrie [...] zur Erscheinung gelangt."
[ingErl, S.136] und schon in der Ontologie der Musik wird zugegeben,
dass manchmal zuviel "wohlklingende Harmonie [...] langweilig werden" kann! [ingOnt, S.89].
Das sind Schritte in die richtige Richtung!
Außerdem fehlt dem Autor jegliche Tendenz zu Dogmatismus und Vorurteil. Im weiteren Verlauf der Schriften zu Musik, Bild und Film werden sich deutliche Erweiterungen und Modernisierungen seines Modelles finden, und er sich letztlich zu einer liberal-experimentellen Haltung frei-arbeiten. Schon hier heißt es
Es gibt aber verschiedene Arten literarischer Kunstwerke und unter den wirklich großen Meisterwerken bildet [...] jedes Werk einen besonderen, eigenen, unwiederholbaren "Typus" [ingErk, S.86f]
All diese Einwände sind aber durchaus erklärbar und verzeihlich wegen der Pionier-Situation des lobenswerten Gesamtvorhabens.
Sehr sympathisch bleibt auch die in dieser "konservativen" Haltung
beinhaltete Überzeugung, dass es einer Erziehung, einer Qualifikation zum
Rezipieren bedarf; dass qualifizierte und nicht-qualifizierte Urteile keinesfalls
in falschverstandenem Demokratismus gleich wert sind:
"All dies [...] fordert vom Leser nicht nur eine besondere Aktivität, sondern
auch verschieden Fähigkeiten." [ingErk, S.48]
"Die Kunst des Lesens [...], die eben -- wie ein gutes Handwerk --
erlernbar ist und auch ausgeübt werden kann." [ingErk, S.320]
Die "konkret durchgeführte ästhetische Bewertung [literarischer Kunstwerke ist]
eine sehr schwierige und verantwortliche Aufgabe" [ingErk, S.341]
In [ingErl, S.17] nennt sogar "Fehlleistungen auf dem Gebiet des Ästhetischen".
"Der Betrachter [erlebt bestimmte Wert nicht], weil er
entweder für die entsprechenden ästhetisch wertvollen Qualitäten [...]
blind, resp. unfähig ist, sie zu konstituieren."
[ingErk, S.398]
(Dies wird natürlich dann unübersehbar relevant, wenn man es auf die Musik
überträgt, z.B. das Hören vierstimmiger Sätze.)
"[Die] Kultur der Bewertung kann nur durch die Entwicklung entsprechender Fähigkeiten,
d.h. durch Erziehung zur Kunst gewonnen werden." [ingErk, S.437]
Ausserdem ist sein damals schon nicht gerade avantgardistischer Literaturgeschmack für sein theoretisches Vorhaben nicht unbedingt dauerhaft schädlich, ja, zunächst sogar günstig: Eine ganz neue Art von Theorie zu entwickeln geschieht am deutlichsten anhand von altbekanntem Material! Ist diese einmal gefestigt und erprobt, und taugt sie etwas, so wird sie auch auf neuere praktische Entwicklungen übertragbar sein. Das wäre dann ein notwendig folgender Schritt; hingegen mit beiden Beinen gleichzeitig vorwärtszugehen wäre nicht gut nachvollziehbar.
Ein doch recht aufschlussreicher Lapsus ganz zum Schluss, der zwar nicht die Grenzen des hier vertretenen Ansatzes aufweist, ganz deutlich aber die seiner Ausführung. Nach Ingarden sei der Fall möglich, "wo die dargestellten Personen [...] fiktive, rein dichterische Gestalten sein sollen, denen zugemutet werden darf, daß sie sich auch im sprachlichen Umgang ebenso 'unnatürlich' verhalten wie in ihrem sonstigen physo-psychischen Leben (die Gestalten z.B. die im Wagnerschen Ring [...] auftreten)." [ingLitKW, S.425]
Hier zeigt sich ein bedauernswertes (aber weit verbreitetes) Verkennen des wahren Wertes Wagnerscher Werke: Nahezu sämtliche Rollen im Ring sind nämlich gestaltet als zeitgemäße, psychologisch wahre, ja geradezu "realistisch" gezeichnete Personen. (Vielleicht abgesehen nur von den Nornen und den sieben Walküren drei bis neun.) Und stärker berührende, menschlichere Stellen als "Wotans Abschied" oder Siegfrieds Rast unter der Linde wird man in der gesamten Literaturgeschichte nur wenige finden. Aber um das zu erfassen bedarf es richtig kalibrierter Kategorien.
Die Durcharbeitung von Ingardens Hauptwerk (auf Polnisch 1947/48 Bd I und II, 1954 Bd III; auf Deutsch alles ab 1962) ersparten wir uns und verweisen auf die gut nachvollziehbare Gesamtkritik durch von Wachter [wacht].
Diese bestätigt an mehreren Stellen unseren Grundeinwand. Begriffe wie "Art", "Substanz" und "Akzidenz" sind halt, unserer Überzeugung und praktischen Erfahrung nach, ausschließlich auf der Ebene der "Modellbildung" sinnvoll, nicht in der "Dinglichkeit". Viele schwere Probleme, z.B. die in [wacht] zitierte "Suche nach dem spezifischsten Art-Begriff (infima species)", verschwinden, wenn diese sich ganz natürlich aus dem "Transzendentalen Idealismus und Empirischem Realismus" ergebende Unterscheidung angewandt wird. (TI-ER-Prinzip, s.o.) 15 16
Sympathischerweise (oder gar naturgemäßerweise?) greift auch von Wachter zu einem Beispiel aus der Kunst:
Wenn man vor einem „Kunstwerk“ von Josef Beuys steht, das aus 27 aneinander gelehnten Besenstielen besteht, kann man das unter den Begriff einer Kunst-Installation oder unter den Begriff einer Besenstilsammlung[sic!] fassen. Stößt jemand aus Versehen die Besenstiele um, dann ist damit die Kunst-Installation zerstört, aber die Besenstilsammlung[sic!] nicht.
(Siehe dazu aber auch unsere Merkwürdige Begebenheit auf der documenta X; die Anführungszeichen in diesem Zitat sind aber weder freundlich noch zutreffend. Und warum dann "aus Versehen" ?-)
Die bei von Wachter aufgeführte Gegenüberstellung von Ingardens privater Terminologie mit der allgemein weltweit üblichen zeigt nochmals eindrücklich dessen fast tragisch zu nennende historische Isolierung, und kann jedem Schaffenden nur deutliche Warnung sein.
Dies vier hier enthaltenen Untersuchungen zu Musik, Bild, Architektur und Film
wurden in ihrer ersten Fassung zunächst 1928 als Anhang zum "Literarischen Kunstwerk"
geschrieben, dort aber (aus technischen Gründen) dann nicht mitgedruckt.
Erst 1946 überarbeitet und in Polnisch gedruckt, dann 1957 neu in deutscher Sprache geschrieben.
In dieser knappen Schrift (ca. 130 Seiten innerhalb von [ingOnt]) entwickelt Ingarden ein umfassendes und präzise definiertes Modell des Musikalischen Kunstwerkes, das durchaus geeignet scheint als Basis für exaktere Forschungen und klarere Diskussionen. 17
Er beginnt damit, auszuschließen, was das Musikalische Kunstwerk nicht ist,
indem er es von "anderen Gegenständen" absetzt und manch ältere Definitionsversuche
als inkonsistent nachweist.
So entwickelt er eine Folge von Definitionen, die in seiner Lösung der Frage nach
der "Seinsstruktur des Musikalischen Kunstwerks" ihren krönenden Abschluss findet.
Diese Folge werden wir zunächst zusammenfassen.
Unterwegs im Text werden mancherlei Einzelaspekte der Musikwahrnehmung untersucht,
bzgl. Gestaltwahrnehmung, Rolle der Emotion, Spezifik der zeitgebundenen Wahrnehmung, etc.
Auf einige davon werden wir anschließend eingehen.
Die Grundfolge der zentralen Definitionen ist wie folgt:
Wir müssen unterscheiden "a) das Musikwerk als künstlerisches Gebilde, [...] wie es durch den Text der Notenschrift intentional bestimmt wird, b) das Musikwerk als ein idealer (optimaler) ästhetischer Gegenstand und c) das Musikwerk als konkreter ästhetischer Gegenstand", also dem Erlebnis des Hörers (oder Interpreten !-) in einer konkreten Aufführung. (S.116)
"Jede Ausführung eines Musikwerkes ist ein individueller Vorgang, [...] damit auch ein zeitlicher Gegenstand, [...] vor allem ein akustischer, [...] sowohl objektiv und als auch phänomenologisch im Raum lokalisiert." [ingOnt, S.7f]
Die Ausführung ist gegeben in einer Mannigfaltigkeit von kontinuierlich ineinander
übergehenden Gehörswahrnehmungen. Diese sind das Fundament für das "Erleben von Ansichten",
die uns die "Tongebilde gegenständlich geben." (S.9)
In diese Ansichten gehen unsere Position im Raum, unsere Befindlichkeit, Hörvermögen etc.
mit ein.
Es zeigt sich schnell, dass diese Eigenschaften andere sind als die des Musikwerkes:
Das (fertig komponierte) Musikwerk ist ein in der Zeit verharrender Gegenstand.
Er ist kein "idealer", denn er ist zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden/geschaffen
worden, und nicht etwa "nur entdeckt" (S.11, auch S.40).
18
Jedes Musikwerk besitzt eine eigene quasi-zeitliche Struktur, die aus der inter-subjektiven (oder "realen") Zeit herausgehoben ist. (S.12) Es hat keine Lokalisierung im Raum. (S.13)
Jedes Musikwerk ist ein "Individuum" (S.14). Schlechte Ausführungen eines Musikwerkes verändert "es selbst" überhaupt nicht. (S.13)
Das Musikwerk ist auch nicht die Partitur.
Diese ist ein System von Zeichen, die den "intentionalen Zugang" zum Werk verschaffen,
dies aber nicht sind. (S.26)
(Das ergibt sich u.E. schon einfach dadurch, dass die meisten Menschen die meisten
Kunstwerke erfahren haben, ohne jemals die Partitur hinzuzuziehen.)
Das Musikwerk ist auch nicht ein "realer Gegenstand", wie z.B. das Ertönen einer
Autohupe (meinend "Vorsicht, IN DIESEM MOMENT kommt ein Auto um die Ecke")
oder der Vogelgesang (meinend "Dies ist mein Revier"). (S.36)
"Der echte ästhetische Wert des Musikwerkes [...] ist etwas im Werke selbst
intuitiv Fassbares, es selbst konkret Charakterisierendes[, ] ein ästhetischer
wahrgenommener Wert." Dies ganz unabhängig ob oder wie wir nach der echten Erfassung
über ihn bewußt urteilen. (S.98)
Es gehört "zum Sinn und zur Bestimmung des Kunstwerkes dieser Art, bestimmte Wertqualitäten in sich zu konstituieren, damit sie im Verkehr des Zuhörers mit dem ausgeführten Werk zur Erfassung gebracht werden können und in dem Zuhörer eine entsprechende emotionale Wertantwort [...] hervorrufen können."(S.100)
Das Musikwerk ist ein intentionaler Gegenstand. Seinsquelle ist der Autor, Seinsfundament die Partitur. Es ist schematisches Gebilde mit Unbestimmtheitsstellen. (S.101)
Bei dem, was man zwischenzeitlich "Tonbandmusik" nannte, fallen die Unbestimmtheitsstellen der Aufführungen zwar weg, nicht jedoch die Einflüsse von Umgebung und Zuhörer. Auch hier sind also die Aufführungen untereinander wesentlich verschieden, und diese vom Werk selber (S.103).
"Das Qualitative in seiner über-individuellen [bzgl. der Aufführungen] Gestalt bildet [...] das konstitutive Moment des Werkes." Das Musikwerk hat seine eigene Seinskategorie. (S.104)
"Das Werk selbst [...] transzendiert die Partitur und weicht von jeder Aufführung mehr
oder weniger ab." (S.122)
"In dem Werk werden [durch den anderen Stil der Ausführung] andere Werte
zur Erscheinung gebracht, die nicht nur mit der klanglichen Unterlage des Werkes
zusammenstimmen, sondern auch ihre spezifischen Werte schärfer betonen." (S.123)
Das Musikalische Kunstwerk IST (A) das "durch die Partitur bestimmte schematische
Gebilde" ZUSAMMEN MIT der vollständigen
"Mannigfaltigkeit von möglichen, ästhetisch zugelassenen Konkretisationen".
Dies sind all die, die sowohl (a) "mit den durch die Partitur eindeutig festgelegten
Zügen des Werkes zusammenstimmen", und (b) "miteinander auf eine bestimmte Weise
'harmonisieren' und zur Konstitution entsprechender ästhetisch wertvoller
Qualitäten führen". (S.126)
19
("Die konkreten Gestalten, die zu einem Werkschema gehören, bilden eine Mannigfaltigkeit von einander ausschließenden Gebilden, ihre ganze Gruppe aber ist durch das Zugehören zu einem und demselben Werkschema innerlich gebunden."(S.127))
Dies ist eine erstaunlich moderne und tragfähige Definition, 20 und erstaunlich "mathematisch": Eine unendlich große Menge oder "Extension" von Möglichkeiten, die durch das Werk wie durch eine "Klassenbildungsvorschrift" dennoch durch eine endliche Schreibweise eingeschränkt ist.
Diese Definition löst schlagartig viele bis dahin
als paradox erscheinende oder zumindest fruchtlos diskutierte Fragen:
Es "bewirkt die von ihm verfertigte Partitur, dass das tatsächlich,
obwohl vielleicht z.T. unbeabsichtigt geschaffene Werk über die künstlerische
Absicht des Verfassers hinauswächst, und dies gerade wegen der
Unvollkommenheit der Notenschrift."
"Der Verfasser kann [...] von
den vielen möglichen Gestalten möglicherweise nur eine im Auge haben."(S.172)
Diese Tatsache geht aber weit über die rein musikalische Welt hinaus:
Mit die deutlichsten Beispiele finden sich in den Nachkriegs-Inszenierungen der Opern
Richard Wagners: Was seine Enkel auf die Bühne brachten, hätte er sich nie vorstellen
können, dennoch funktionierte es auf das glücklichste!
Das Verdienst des Verfassers ist, "nicht so sehr eine einzige, ideale Ausführung
seines Werkes geschaffen zu haben, sondern eben das schematische Gebilde entworfen zu haben,
das viele mögliche Ausführungen zuläßt." (S.135)
21
Deshalb würde es zur Erkenntnis des Werkes nur wenig nutzen, eine Schallaufzeichnung
von z.B. Chopins Ausführung seiner eigenen Werke zu besitzen. (S.124)
"Diese reine Intentionalität des Musikwerkes führt mit sich, dass es
[...] verschieden Fundamente seines Seins und seiner Erscheinung hat", nämlich
die Akte des Verfassers, der "Virtuosen" und den "Erfassungsakt des Zuhörers".
(S.130, auch S.104) Alle drei (Gruppen) erschaffen gemeinsam das Kunstwerk.
Ein anschauliches Beispiel sind die Bachschen Violinpartiten: Die
implizite Mehrstimmigkeit in den Passagen aus gebrochenen Akkorden ist
tatsächlich darin vorhanden und nachweisbar,
wird erst im Kopfe des Zuhörers im Rezeptionsakt
rekonstruiert, und das wird jeder Hörer wohl je ein bisschen anders vollziehen.
Im historischen Prozess und sozialen Verkehr bildet sich nun in einem weiteren Schritt
"eine gemeinsame, sozusagen synthetische Auffassung des Werkes aus, welche dann ein
gemeinsamer, intersubjektiver ästhetisch Gegenstand höherer Ordnung entspricht."
(S.132, unsere Hervorhebung)
"Diese Auffassungen werden zu [...] regulativen Ideen."(S.133) Diese
ändern sich im Verlaufe der Zeit. Das erweckt u.U. den falschen Eindruck, das Musikwerk
selbst würde sich ändern.
"in Wirklichkeit [ist dies] nur ein Prozess des Entdeckens und Aktualisierens
immer neuer Möglichkeiten der zu dem Werkschema gehörigen potentiellen Gestalten des
Werkes."
Das Musikwerk ist hingegen ein "gewissermaßen übergeschichtliches Gebilde". (S.134)
"Die Überzeitlichkeit des Musikwerkes verleiht ihm den Charakter des 'Nicht-zu-dieser-Welt-Gehörens' und trägt zur vollkommenen Abgrenzung und Abgeschlossenheit des Werkes bei." (S.48)
Entlang dem Rückgrat dieser zentralen Definitionen
werden viele weitere interessante Detail-Beobachtungen gemacht.
Uns am wichtigsten erscheinen, dass ein "Ton" zwar in dem akustischen Wahrnehmungserlebnis
"seinsmäßig fundiert" ist, aber "aufgrund der Empfindungsdaten [...] vermeint
[wird]" (S.21, unsere Hervorhebung), also als "intentionaler Gegenstand intendiert".
Wie dann aus einzelnen Tönen "Bewegungserscheinungen" wahrgenommen werden (S.67);
wie sich hierarchisch Zusammenhänge konstituieren; wie durch Abbruch, wiederholten
Versuch und endlich Erfüllung sogar "Befreiung, wie ein Glück" erlebt werden kann (S.76),
als das wird akribisch und zutreffend beschrieben.
Sehr angemessen u.E. auch die Auffassung, dass nicht die Zeit die Inhalte hervorbringt, sondern vielmehr die Abfolge der Teile, ihre gegenseitige Beleuchtung und ihr Aggregieren zu Teilen höherer Ordnung die Zeit erst definiert. (S.107) Auch die janusköpfige Funktion der Pausen zwischen den Sätzen eines Werkes werden ausgiebig und korrekt erörtert: sie trennen und verbinden. (S.112)
Dazu kommt eine ausführliche Diskussion von Musikwerk und Emotion, wobei diese
säuberlich in ganz unterschiedliche Kategorien zerlegt wird, die üblicherweise
unerlaubt vermischt werden (S.73).
Zentral ist, dass die "emotionalen Qualitäten der Klanggebilde nur ein Analogon
zu [...][den] einzelnen emotionalen psychischen Zuständen bilden".
Jede einzelne Melodie hat ihre spezifische Traurigkeit; die Unterschiede können nicht
begrifflich erfasst werden, aber "deutlich empfunden" (S.78) -- sehr schöne und
einfühlsame Aussagen in einem so um Sachlichkeit bemühten Kontext!
Der folgende Abschnitt dermaßen wichtig, dass wir ihn zur Gänze zu zitieren uns nicht
enthalten können:
Da liegt eben der Grund, weshalb wir den unmittelbaren Verkehr mit manchen großen Musikwerken suchen: sie eröffnen uns den Zugang zu emotionalen Qualitäten, die wir sonst nicht finden können. Jede echte Kunst und Kunstart hat ihr eigenes Gebiet emotionaler Qualitäten und ist in diesem Sinne durch andere Kunstarten nicht ersetzbar und nicht nachahmbar. [...] Wir sind oft erstaunt, dass [diese emotionalen Qualitäten] überhaupt möglich, ja mehr, wirklich [sind]. Wer eine solche Überraschung, solches Staunen und solche Bewunderung im unmittelbaren Verkehr mit dem Kunstwerk [...] nie erlebt hat, der weiß überhaupt nicht, was Kunst ist und was sie uns geben kann. (S.78)
Dies widerlegt auch jede Theorie, dass die emotionalen Qualitäten von uns nur in das Werk hineinprojeziert werden.
Interessant ist auch, welche weiteren Phänomene Ingarden als "nicht-akustisch" einordnet, so z.B. den Rhythmus, der ja in der Tat meistens eine Abstraktion akustischer Wahrnehmungen ist (S.63).
Auch wichtig scheint uns das Zitat eines St. Ossowski, dass bei verschiedenen
musikalischen Tempi (und entsprechender Satzgestaltung und Ausdruck)
"wir den Eindruck erhalten, nicht als ob die Einteilung der Zeit einer
Abwandlung unterliege, sondern als ob die Zeit selbst
langsamer oder rascher zu fließen begänne." (S.47, Fußnote)
Das kann man durchaus konkret verifizieren: Der eine einzige harmonische Schritt in
den Gegenklang von Des-Dur nach f-moll am Anfang der ersten Wiederholung im
langsamen Satz von Bruckners Achter (Takt 95 bis 103) kann knapp eine
Minuten dauern, und wird doch als ein einfacher, nachvollziehbarer Harmonieschritt
gehört.
22
Das wäre bei "schnelleren Fließen der Zeit" nicht realisierbar.
Unsere kritischen Anmerkungen sind eher Ergänzungen:
So heißt es S.26 "Die Symbole [der Partitur] geben [...] Töne an"
und S.116 "In der Notenschrift sind unmittelbar gewisse Klänge festgelegt."
Das ist in dieser einfachen Formulierung unzutreffend.
Zunächst handelt es sich oft um eine Indirektionsstufe mehr:
Angegeben werden Handlungsanweisungen, die dann
Töne hervorbringen. Oder modifizieren.
Aber auch bei der Partitur als solcher muss eine weitere Schicht eingezogen werden:
Die "physische" Partitur als System von Symbolen muss erst zwischen-übersetzt werden
in ein psycho-internes Modell der Partitur, um sie Lesen/Spielen zu können. Dies ist
ein keinesfalls unproblematischer Vorgang und zwar deutlich einfacher, aber doch
ähnlich dem "Erkennen des literarischen Kunstwerkes". Diesen Schritt
in diesem Text zwecks deutlicherer Darstellung zu überspringen scheint aber sinnvoll.
Generell muss bei der Betrachtung der "Semantik der Partitur" der Text ergänzt werden
um die Würdingung des historisch sich entwickelnden Bezugssystem und der
Definierbarkeit der Bedeutungen der Notationselemente. Ganz am Schluss kommt Ingarden
sogar ansatzweise selbst darauf: Die Bedeutung der Partiturnotation
wird beeinflusst durch die Entwicklung im Instrumentenbau [ingOnt, S.136 Fußnote].
Und schon auf S.26 wird zumindest eingeschränkt "so lange es Menschen gibt, die die
Notenschrift zu entziffern verstehen."
Ausserdem fehlt die Berücksichtigung der nicht unwichtigen
optischen Momente der Rezeption von Musik, einschließlich des "Mitlesens", oder
das reine Partiturlesen oder -erinnern. Diese Verkürzung sei aber einem so kurzen Text, der ja
nur das Grundmodell sauber definieren will (und das auch u.E. hervorragend erreicht)
zugestanden.
Natürlich gibt es auch hier, bei aller Aufgeschlossenheit, wieder zeitbedingte
konservative Fehlmeinungen: Lautstärke, Tempo und Klangfarbe "vermögen nicht zum
konstitutiven Struktur-Moment zu werden."(S.62)
Und auch hier wieder nicht-hinterfragte Importe von vordefinierten Begriffen
wie "angemessen", "häßlich", "fade", "schrill" (S.88) und von vorgefassen Bewertungen
als "negativ- oder postiv-wertig".
Allerdings konstatiert er hier, dass "manchmal eine negative Wertqualität unter
positiven Wertqualitäten auftreten muss, um in Gemeinschaft mit ihnen eine
positive Wertqualitäten höherer Ordung hervorzubringen" (S.89, als Beispiel
dient Vorhalt und Auflösung); manchmal kann "wohlklingende Harmonie
[...] langweilig werden und
[...] trotz ihrer
'normalen' Funktion, positive Wertqualität zu Begründen, [...] zu einer negativen"
führen. (S.89)
Das alles wäre natürlich für eine voll ausgebaute Theorie viel zu kurz gegriffen, aber
(1) will dieser Text das ja auch nicht sein, und (2) gibt es, im Gegensatz zu den
beiden Bänden über das Literarische Werk, hier zumindest einen
ersten und deutlichen Begriff von Dialektik.
In diese Richtung gehen dann endlich auch [ingErl, S.170 u. 172].
Überhaupt wird der Text besser durch Weglassen der Wertungen zusammenhängenden
Teile. In einer späten Diskussion S.129 heißt es z.B.
(a) es scheint zunächst sinnvoll, ein Werk sei um so wertvoller, je mehr Konkretisationen
es zuläßt; (b) aber je höher der ästhetische Wert ist, um so schwerer ist es dem Publikum
nahezubringen, und um so seltener hat es deshalb Aufführungsmöglichkeiten;
(c) die Höhe es ästhetischen Wertes geht (zumeist) mit der Strenge des inneren Aufbaus einher;
(d) diese schränkt die Anzahl möglicher Konkretisationen aber stärker ein.
Da geht dann doch einiges durcheinander! Ein Gegenbeispiel ist die Kunst der Fuge,
die bzgl. (c) einen sehr strengen inneren Aufbau hat, der aber ganz im Gegenteil
zu (d) die allerbuntesten Präsentationsformen (vier E-Gitarren oder großen gemischten Chor)
dadurch gerade erst ermöglicht.
Der ästhetische Wert ist aber nicht lt. (a) durch diese hohe Anzahl begründet, sondern
diese nur ein Indiz für jenen.
"Es ist aber sehr gefährlich, hier allgemeine Sätze aufzustellen", fällt Ingarden
aber selbst sofort auf!
Insgesamt gibt es (für einen Nicht-Musiker) erstaunlich wenig schwere sachliche Fehler.
Einer ist: "Dabei scheinen die rein harmonischen Momente für die Organisation der Zeit im Musikwerk nur eine mehr untergeordnete Rolle zu spielen." (S.65) --- Das Gegenteil ist der Fall: Jedes größere Werk wird vornehmlich durch die weitgespannte harmonische Disposition zusammengehalten.
Entgegen der sehr guten und anscheinend überfälligen Differenzierung zwischen ausgedrückter, dargestellter, erzeugter und das-Schaffen-begleitender Emotion (S.73) wird allerdings dann wieder erstere und letztere unberechtigterweise als parallel vermutet ("auf Grund der Eigenschaften des Musikwerkes [...] auf die Eigenschaften der Verfassers schließen." S.82). Das braucht keinesfalls zu stimmen: Ich selber komponierte z.B. die doch leidlich "mutige und entschlossene" Doxologie am Ende meiner Zweiten Sinfonie in einem Zustand tiefster Verzweiflung. Aus Trotz. Als Gegenbild. Zur Selbst-Hilfe. Dieser Fall wird nicht selten sein!
Beim bildnerischen Kunstwerk sieht Ingarden ebenfalls einen Schichtenaufbau. Das Grundmodell wird zunächst definiert passend auf das "konventionell-klassische darstellende Tafelbild", im Laufe der weiteren Diskussion aber durchaus weiterentwickelt. Zunächst lautet es zusammengefasst wie folgt:
/ Konkreti- / / sationen / / / Gemälde Bild \ / Farbflecken Sujet ------------------ hist. Bezug \ Vor- / Nachgeschichte visuelle / Empfindungsdaten / im Raum \ dargestellte Gegenstände --- Kompos.< Ansichten / (incl Pers/Situ.) in Fläche | | / | | / | reale / Gegenstände -----/ ... |
Das Gemälde ist ein physischer Gegenstand (einschließlich evtl. Rahmen,
Aufhängung, Rückseite, etc.). (S.139)
Hingegen das Bild "als Kunstwerk ein rein intentionaler Gegenstand eigener Art,
der die ihn bestimmende und fundierende Seinsgrundlage einerseits im realen Gemälde,
bzw. in des es bedeckende Farbflecken, andererseits aber im Betrachter,
bzw. in dessen Erfassungsoperationen hat."(S.210)
Auf dem Gemälde befinden sich Farbflecken.
Diese erzeugen beim Betrachten visuelle Empfindungsdaten.
Bei Beschauen des Gemäldes z.B. durch einen Restaurator werden diese auf
die realen Farbflecken/Pigmenthügelchen bezogen.
Hingegen beim Betrachten des Bildes in der
ästhetischen Einstellung (=mit der entsprechenden Betrachtungsweise)
werden sie mit den Empfindungsdaten
der Erfahrung verglichen (S.214) und führen zum Rekonstruieren von
Ansichten von dargestellten Gegenständen (S.150,209)
In diesem Sinne kann ein und dasselbe Bild in mehreren Gemälden vorliegen. (S.223)
Ansichten sind die visuellen Erscheinungsformen von realen Gegenständen: So
erscheint eine rechteckige Tischfläche beim Herumgehen als "Trapez" mit
sich ändernden Winkeln und Kantenlängen, eine gleichfarbige Kugel als unterschiedliche
Schattierter Kreis (S.151)
Ansichten werden "erlebt"; der Gegenstand daraufhin [innerlich] "gegeben".
Das Bild ahmt dieselben Farbdaten nach, die eine reale Ansicht hervorrufen würde. (S.154)
Dies aber nicht zu genau! (S.174)
[Netzhauttrübugen, Reflexe im Aufapfel,
Unschärfe hin zu den Augenrändern etc. werden nicht übernommen.]
"die Farbflecken des Gemäldes bestimmen von sich aus das mögliche System von
Farbempfindungsdaten, die als sinnliche Unterlage der zu rekonstruierenden
Ansichten dienen sollen."(S.208)
"Die Tätigkeit des Malers besteht eben darin, [...] im Bild entsprechende
visuelle [...] (Wahrnehmungs-)Ansichten zu rekonstruieren, [als] das
einzige Mittel zur anschaulichen Vergegenwärtigung und Zur-Schau-Stellung
der Dinge und Menschen(Tiere) im Bilde."(S.154)
"[Im Bilde werden] die visuellen Wahrnehmungsansichten [...] rekonstruiert."(S.150)
[Besser auch im Sinne des restlichen Textes
wäre wohl: das Gemälde rekonstruiert die Farbempfindungsdaten;
der Betrachter rekonstruiert die Ansichten.]
Das Sehen der Gegenstände im Bild "ist eben keine volle Wahrnehmung. Es ist eher
ein Ausnützen eines bestimmten Empfindungsdatenmaterials zum Vollzug des
anschaulichen Bildbewußseins." (S.215)
Die rekonstruierten Ansichten realer Dinge können in verschiedenen Mal-/Zeichen-Techniken ganz unterschiedlich aussehen (linear, flächig, schraffiert, monochrom, etc.) (S.174)
Das Wort "Gegenstände" beinhaltet dabei Personen, Situationen und (Natur-)Vorgänge. 23
Einfachste Bilder sind Stilleben oder Porträt (Mensch, Ding, Berg).
Andere haben zusätzlich ein literarisches Thema (= Handlung oder Geschichte). Dann hat die dargestellte Situation auch eine Vor- und eine Nachgeschichte. Diese wird indirekt mit abgebildet. (S.146)
Zusätzlich kann sich das Thema auf ein bekanntes Geschehen der realen Geschichte beziehen, das ist dann historische Malerei. Da fließt dann das Wissen über diesen Bezug als eine externe Zusatzinformation in den Rezeptionsprozess ein. (S.146)
Das Bild kann nur direkt visuell Darstellbares zeigen, oder indirekt visuell Darstellbares.
wie Gemüthszustände durch den Gesichtsausdruck, etc. (S.149)
Bei "guter Malerei" werden die nicht darstellbaren Eigenschaften aber suggeriert.
"Das Meer sieht 'nass' aus" (S.149) und Oberflächen von Gegenständen haben ein
Berührungs-Gefühl (S.175)
Das Bild zeigt die Gegenstände (a) in einem eigenen Raum (S.141), dieser
ist ein "orientierter Raum" (S.233) (b) nur von einer Seite (S.144).
Das schafft Unbestimmtheitsstellen (S.150)
(ähnlich aber anders wie beim Literarischen Werk, und auch nicht so
wichtig wie dort).
Das Gemälde ist IM realen Raum, das Bild nicht. (S.233)
Die Oberfläche des Gemäldes wird "gleichsam durchsichtig" (S.218)
und "verschwindet" (S.176).
Das Bild zeigt alles (c) in einem einzigen Zeitpunkt. Es ist selber unwandelbar, auch wenn das Gemälde altert. (S.141f)
Das Bild zeigt alles
(d) von einem festen Gesichtspunkt ("Orientierungszentrum"), (e) aus einem festen Abstand.
Man kann sich dem Gemälde nähern, aber nicht dem Bild. Es bewegt sich nicht, wenn wir
uns vor dem Gemälde bewegen
und funktioniert nur von bestimmten Standpunkten aus
(S.143)
[Siehe aber oben unsere ganz anderen Erfahrungen mit Cézanne.]
Schichten sind also
a) Ansichten
b) dargestellte Gegenstände
b') ggfls. die bezogenen realen Gegenstände
c) das "literarische Thema" mit Situation, Vor- und Nachgeschichte.
(S.155)
Wegen der Seinsweise als ein (besonderer) intentionaler Gegenstand sind
Künstler und Betrachter beide an seiner Konstituierung beteiligt.
Es braucht "die nachbildende, aber in gewissem Sinne ebenfalls schöpferische
Tätigkeit des Betrachters." (S.209)
"Der Betrachter ist [als ein] Faktor zum Aufbau der einheitlichen Ansichten notwendig." (S.180f)
Der Betrachter erzeugt jedesmal eine Konkretisation des Werkes (S.238ff); die desselben Bildes können sich (wg. verschiedenartigster Faktoren) unterscheiden (S.241); sie gleichen sich normalerweise bei häufigem Betrachten einander an. (S.241)
Der Betrachter erlebt dabei die Begegnung mit dem ästhetischen Gegenstand
und erfährt unmittelbar die ästhetischen Werte. (S.244, dazu später mehr)
Diese sind "absolut, [als sie] im ästhetischen Gegenstande selbst enthalten"
sind, und unabhängig von einer späteren bewußten "subjektiven Bewertung(Beurteilung)".(S.245)
Diese bezieht sich allerdings auf die jeweilige
Konkretisation, nicht auf das Bild als solches (S.250f).
24
Soweit das Grundmodell, was sich, wie von Ingarden bereits bekannt, durchaus
an dem informellen Vorwissen über die traditionelle Malerei ausrichtet.
(Im Absatz über "Deformation" S.162 kommt z.B. selbst Hieronymus Bosch nicht vor!-)
Alle bisher betrachteten Bücher des Autors stehen in der Tradition
des Versuches eines
großen allumfassenden geschlossenen philosophischen Systems, wie es seit dem
Deutschen Idealismus üblich war. Vielleicht sind sie dessen letzte "naiv" versuchte
Ausprägung.
Allerdings beginnt der Autor hier eine deutlich über die vorangehenden Werke hinausgehende schrittweise Annäherung an die Moderne.
Zunächst bespricht er den Impressionismus, allerdings ausdrücklich "nicht als ein
Thema" sondern zur Verdeutlichung der verschiedenen Rekonstruktionsweisen. (S.183 Fußnote)
Es werden nämlich hier die visuellen Empfindungsdaten nicht mehr von den isolierten
Gegenständen direkt nachgeahmt, sondern die, die sich im Auge des Betrachters einfinden,
also einschließlich Lichtstreifen- und flecken, unscharfen Rändern, etc.
Die Aufgabe der Rekonstruktion ist für den Betrachter folglich eine schwerere
und seine Leistung eine höhere: Er muss in "deutenden Auf- und Zusammenfassungen der Daten"
aus den Farb- und Lichtflecken z.B. die "Umrißlinien" selbst konstruieren. (S.187-182)
Weiter geht der Kubismus. Er sei der Versuch, die Dinge zu malen nicht wie sie aussehen, sondern wie sie sind. (S.186) Da Malen ohne Ansichten aber nicht möglich ist, werden diese Ansichten (a) vereinfacht (unter "Verarmung ihrer sinnlichen Unterlage"), (b) dass sie als Ansichten "nicht abheben" (S.186), "gedämpft werden" (S.228), also als solche nicht mehr funktionieren, (c) so ausgewählt, dass sie die "gemeinte Eigenschaft des dargestellten Körpers direkt zu Erscheinung bringen" (S.228). [Also z.B. stilisierte große Hakennase im Profil, ohne einen Winkel Abweichung.]
Es sind z.B. bei Picasso oft Fragmente von Dingen.
Kreise werden als Kreise gezeichnet, nicht in perspektivischer Verkürzung wegen
ihrer Lage zu anderen Gegenständen.
Auch deshalb kommt es nicht zur Konstituierung des dreidimensionalen Raumes;
die dargestellten Dinge verlieren ihre Dreidimensionalität. Dennoch befinden sie sich
nicht "in der Bildfläche."
Der Zuschauer wird zum "Vorstellen" angeregt, es kommt aber nicht mehr zum "Erschauen".
"Der Betrachter ist hier eher ein Dichter [...] Das Bild steht hier gewissermaßen
an der Grenze zwischen Malerei und Literatur." (S.228)
25
Zur sog. abstrakten Malerei gibt es einen späteren eigenen Vortrag von 1958
in [ingErl], den wir hier mitberücksichtigen.
Am Ende dieses Textes gibt Ingarden sieben verschiedene mögliche
Definitionen der abstrakten Malerei, hinweisend, dass es durchaus noch weitere
sinnvoll sein können.
Auch zwischendrin schwankt er zwischen den Bezeichnungen "nicht-gegenständlich",
"nicht-darstellend", "abstrakt", mit Arp "konkret"
[ingErl, S.60] und sogar "halbabstrakt" [ingErl, S.65].
Auch uns Heutigen kann eine genaue Definition schwer fallen, -- wenn sie denn überhaupt
benötigt wird. Im Laufe der Jahre arbeitet sich Ingarden nämlich zu zwei
Erkenntnis-Komplexen vor, die über sein doch recht starres Ausgangsmodell
weit hinausgehen; es fehlte nur noch ein kleiner letzter kombinierende Schritt zu einer heutigen,
"ideologiefreien", dynmamischen Betrachtungsweise.
Diese beiden sich langsam entwickelnden Überzeugungen sind:
A)
Mit der Entwicklung ihres Gegenstandes wird auch die Theorie selbst moderner: Es erscheint hier zum ersten Mal in Ingardens Werk der Ausdruck "künstlerisches Experiment" (S.222) und der leider nur en passant erscheinenden, aber viel weiter tragenden Ansatz:
"Eigentlich bildet jedes wirklich schöpferische Bild die Lösung eines
ganz bestimmten, vielleicht sogar individuellen Problems, dessen
Grundbedingung oft bereits durch einige Farbflecke festgelegt ist, und dessen Lösung dann
auf der glücklichen Ergänzung zu einem innerlich geschlossenen Ganzen beruht."
(S.222)
26
"Jedes gute [abstrakte Bild] wird aus einem bestimmten, sich einmal nur stellenden
künstlerischen Problem geboren und bildet seine Lösung, die, wenn sie wirklich richtig ist,
die einzig mögliche ist."
27
[ingErl, S.53]
Der "Durchschnitsbetrachter" kennt dieses malerische Problem nicht, ahnt nichts von seiner Existenz, kann es "im güngstigsten Falle mitfühlen", gibt sich mit dem Dargestellten als Thema zufrieden und ist "ratlos und entrüstet", wenn dieses nicht mehr statthat. [ingErl, S.53f]
"[man kann] die gesamte bisherige abstrakte Malerei für ein großes Experiment halten, in welchem man nach einem Prinzip [...] der Kohärenz und Einheitsbildung vieler miteinander auftretender Farbqualitäten und Gestalten zu einem innerlich verbundenen Ganzen sucht." [ingErl, S.69, auch S.147]
"Die abstrakte Malerei [ist] mit jedem gelungenen Bild ein schöpferisches Experiment im Rahmen des reinen Sehens." [ingErl, S.70]
B)
Ingarden bezieht sich in schon in der deutschen Fassung von
[ingOnt] auf einige der von Jacques Villon auf der Biennale 1956
zu Venedig ausgestellten Bilder.
Dieser war da aber Empfänger des "Großen Preises" und mit achtunddreißig Werken
vertreten.
Deshalb ist es leider nicht zu rekonstruieren, welche genau
Ingarden im Sinne hat, als er von "rein abstrakten" Bildern spricht,
von denen nichtsdestoweniger (bei geeigneter Einstellung
des Betrachters) "ein Gegenstand erscheinungsmäßig suggeriert" wird. (S.226)
In [ingErl, S.65] nennt er Derartiges gar "halb-abstrakt".
Beide Formulierungen sind bezgl. der
Entwicklung der Seh-Weisen durch das letzte halbe Jahrhundert
durchaus interessant! Denn uns Heutigen (2018) erscheint ein Bild wie
Le Potager aux Citrouilles von 1942, als einziges abgebildet im Katalog,
durchaus als schlicht gegenständlich (im Ggs. zu "abstrakten Kompositionen",
die sich bei Villon auch finden), wenn auch in
einer "stark abstrahierten Darstellungsweise":
Ingarden hat ja schon an anderer Stelle die "werthaften Qualitäten" der reinen
Ausführung und Anordnung der Ansichten, der Verteilung der Farben,
der Proportionen der "Komposition", etc., als wichtige Konstituente des ästhetischen
Wertes gewürdigt, s.u.
Dies kann er aber nun, nach den Erfahrungen mit den Entwicklungen der
tatsächlichen modernen Malerei, auch so zusammenfassen,
"dass in den Aufbau eines jeden darstellenden Bildes ein sozusagen nichtdarstellendes
Bild als sein unentbehrlicher Bestandteil eingeht und dass von dem künstlerischen Wert
dieses Bestandteils der künstlerische bzw. ästhetische Wert des ganzen Bildes auf
wesentliche Weise abhängt." (S.225)
"Man kann endlich bei jedem darstellenden Bild darüber sprechen, dass es
ein gewisses 'abstraktes' Bild in sich enthält, das als dies umfasst, was in dem
betreffenden Bild zur reinen Sichtbarkeit gehört." [ingErk, S.76]
Nennen wir dies im folgenden "Überlagerungsprinzip".
"Maler [...] sind der Ansicht, dass echte Maler immer in diesem Sinne
'abstrakte' Bilder schaffen wollen, bloß dass das betrachtende Publikum es nie
verstanden hat." [ingErl, S.76]
Den Schritt, die Konsequenzen aus der Kombination der Erkenntnisse A) und B) zu ziehen, ist Ingarden leider nicht mehr gegangen. Er liegt aber nahe und ist nicht sehr groß. Mit ihm erübrigt sich das Problem einer Definition des "abstrakten Bildes", jedenfalls ist eine solche nicht mehr als propädeutische Grundlage einer systematischen Betrachtung erforderlich. Es gibt halt, wie bei Ingarden sonst ja auch, unterschiedliche Haltungen des Rezipienten: Ein und dasselbe Bild kann "gegenständlich" oder "abstrakt" gesehen werden. Beide Haltungen, und vielleicht noch viele andere, sind berechtigt und führen zu je eigenen ästhetischen Qualtitäten.
Das Überlagerungsprinzip ist auch geeignet, Ingardens Frage zu beantworten,
"wie es mit dem zu dem [abstrakten] Bilde selbst geörigen Raum steht?" (S.234)
Z.B. kann sehen wir immer in Malewitschs Schwarzes Trapez und Rotes Quadrat
(1915, jetzt Steedelijk Museum) das namensgebende Trapez als einen
überschallschnell auf den Betrachter zufliegenden bedrohlichen Gegenstand,
z.B. ein Kampfflugzeug.
Dies könnte man (wie oben) ebenfalls mit der Konstruktion einer "Überlagerung" von darstellendem
und nicht-darstellendem Bild passend auseinanderhalten.
Dies Bild hat nicht nur Raum, sondern auch Energie, Bewegung und Geschichte, ja, sogar Klang.
Ein kurzer Einschub vergleicht verschiedene Gatttungen (S,229):
Bild | Schauspiel | Literatur | Musik | |
Ansichten: | eine konkrete, | wahrnehmungsähnlich | || viele vage | || (keine) |
zeitlich: | Ein(1) Moment | || Zeitphasen | in perspektivischem | Erleben |
Trägerbindung: | stark | || --- | kaum/nicht | ---- |
unbestimmt: | alles Nicht-Visuelle | || jeglicher Art, | nicht vermeidbar | || (n.a) |
& alle Rückseiten | || aber beliebig | begrenzbar. | ||
Visuelles: | starker Vorrang | || kein | Vorrang | || (n.a) |
"Trägerbindung" bedeutet dabei, wie stark die Existenz des Kunstwerkes (Bild, Text) an den physischen Träger (Gemälde, Manuskript) gebunden ist. Das Problem von Original und Kopie wird kurz diskutiert (S.212f), nicht aber das von Original und Fälschung.
Zuletzt wendet sich der Autor der Frage des "Wertes" oder "ästhetischen Wertes" des Werkes zu. Da dieses Thema in fast allen seiner Schriften auftaucht, und das von ihm dafür aufgespannte Modell unabhängig von der Gattung des Kunstwerkes ist, stellen wir dieses am Ende unserer Betrachtungen zusammenfassen dar, in Kapitel 7.
Neben den wenige bis hierhin eingestreuten Kommentaren und Erweiterungsvorschlägen haben wir nur noch zwei kleine Ergänzungen:
Die Konkrektisationen werden im Text überraschend spät eingeführt (S.238)
Zur Begründung ihrer Notwendigkeit gibt es aber Schlagenderes:
Z.B. kann ein Zuwachs an Kontextwissen zwischen dem ersten und zweiten
Betrachten die Konkretisation grundlegend ändern:
Wir erinnern uns genau, dass Böcklin Mord im Schloss im
Folkwangmuseum uns zuerst nur ein romantisches Landschaftsgemälde erschien;
als wir den Titel lasen änderte sich die Stimmung grundlegend und erst jetzt wurde die
Leiche überhaupt erst gesehen!
Ähnliches Beispiel Michelangelo Buonarroti Grabmal des Giuliano II Medici:
(Originalphoto ©Rabe!)
Hat man das dem Offensichtlichen überlagerte zweite Bild des Sonnenaufganges einmal nur erschaut, kann man das Ganze nie wieder so rezipieren wie vorher! Auch dieses Beispiel weist darauf hin, dass o.e. Überlagerungs-Prinzip doch deutlich häufiger und grundsätzlicher ist.
Zunächst wird (analog zu den oben besprochenen Theorien) unterschieden:
Das Bauwerk ist ein realer Gegenstand, ist
eine geordnete Ansammlung von Steinen, Balken, etc.
Es wird erst zu Kirche, Theater, Hotel durch das Verhalten einer Gruppe von Menschen.
(Dies kann unterstützt und markiert werden durch einen "Weiheakt".)
Das Kunstwerk der Architektur ist im Ggs. dazu nicht ein realer, sondern ein intentionaler Gegenstand; es hat sein Seinsfundament im Gebäude (wie die "Fahne" im "Tuch"). Und im Akt des Künstlers ("Seinsquelle" hieß letzteres bei Ingarden oben). (S.262f)
Die Kathedrale von Reims wurde nach ihrer [schändlichen]
Kriegszerstörung wieder aufgebaut; das Gebäude ist neu,
hingegen das Kunstwerk dasselbe. (S.264)
Das architektonische Kunstwerk ist in diesem Sinne "rein räumlich", also außer-zeitlich.
(S.286) In ihm "geschieht nichts". (S.289)
Das Kunstwerk ist nur in seiner Makro-Struktur geplant; die
Mikro-Struktur gehört allein dem Gebäude an. (S.292)
Architektur ähnelt Musik, nicht wegen sog. "Rhythmus", das ist eher ein Wortspiel, sondern weil beide nicht-darstellend sind. Und weil das Grundmaterial homogen ist. (S.268f)
Die zwei Schichten des Architekturwerkes sind
(a) die dreidimensionale Gestalt und (b) die unendliche Mannigfaltikgeit
der möglichen Ansichten.
Genauer: Das Werk selber legt diese Ansichten fest als Schemata,
die durch den Betrachter erst konkretisiert werden.
Nicht nur die dreidimensionale Gestalt, sondern auch Struktur, Glanz und Farbe der
Oberfläche, Lichtführung in Innenräumen, Material bestimmen die Schemata der Ansichten. (S.270f)
Diese aber sollten dienend sein und nicht "rebellisch werden" (S.271)
Die Priorität ist hier nämlich umgekehrt wie im Bild, wo die Ansichten ihrem
Seinsfundament überwiegen.
Der "letzte Zweck [der Ansichten] besteht in dem Zur-Erscheinung-Bringen der Gestalt
einer schweren Masse sowie dem eigentümlichen Zusammenspiel der einzelnen Teile
dieser Gestalt. [In dieser] Gestalt -- die so oder so gegliedert und räumlich
geordnet ist -- liegen die für das architektonische Werk wesentlichen
ästhetisch wertvollen Qualitäten." (S.272)
"Jedes architektonische Kunstwerk ist gewissermaßen die Lösung eines Problems aus der Logik der Massen." Deswegen gehören nicht nur die äußeren Ansichten, sondern auch "das Innere des Werkes [zu der] räumlichen Gestalt." (S.274)
Dem leicht widersprechend auf derselben Seite: Statische Eigenschaften können (a) unsichtbar sein und somit nur die Bedingung für die Realisierung des Bauwerks, oder (b) hingegen sichtbar oder zumindest erschließbar und "bilden ein Element des architektonischen Werkes selbst".
Bemerkenswerterweise nimmt Ingarden schon 1928-45 die Möglichkeit der virtual reality vorweg, die dann dasselbe Kunstwerk mit einem anderen Seinsfundament realisieren würde, ohne notwendiges Gebäude.(S.276f)
"Es gehört zum Wesen des Kunstwerkes, ein Individuum zu sein." (S.278)
"Nicht bei jedem realen Gegenstand können wir von der sinnlichen Wahrnehmung zur ästhetischen Einstellung übergehen" (S.280) [Das sehen allerdings viele schaffende Künstler und zeitgenössische Kunsttheoretiker anders.] Aber zur weiteren Diskussion ist das eine gute Ausgangsfrage: "Welche Eigenschaften muss also ein körperliches Gebilde haben, damit es das Seinsfundament eines architektonischen Kunstwerks werden könnte?" Ingarden selbst meint, diese Frage wohl nicht lösen zu können. (S.280)
"Zum Wesen eines architektonischen Ganzen gehört [...] ein sichtbares Prinzip der Anordnung seiner Teile, das einheitlich befolgt wird." (S.282) Dieses Prinzip ist zumeist eine Mischung aus "architektonischem und praktischem Zweck" des Gebäudes. [Wobei wir hier eine petitio principii befürchten!-]
"Prinzip" ist dabei und/oder "Gesetzmäßigkeit, die
in Worte gefasst werden kann" und/oder "anschaulich auftretende Gestaltqualität".
Letztere muss "das Ganze des Werkes charakterisieren [und] seine Gestaltungslogik
zum Ausdruck bringen". (S.283)
"Es gibt nichts Unnötiges oder Entbehrliches." (S.296)
Dies kann gut (und nur)
durch Einzel-Analysen vertieft werden, denn es gibt sehr viele
verschiedene Typen von "innerer Geschlossenheit" (S.296)
und "jeder echte architektonische Stil
zeichnet sich aus [durch eine charakteristsche Abwandlung einer solchen
grundlegenden Gestaltqualität.]" (S.284)
Architektonische Kunstwerke verlangen "innere Logik" = qualitative Einheit der
räumlichen Gestalt und der konstruktiven Eigenheiten.(S.284)
Dies kann nicht mit dem "lebenden Organismus" verglichen werden, obwohl
dieser Vergleich sehr beliebt ist.
28
"Teile des Werkes modifizieren sich [...] gegenseitig qualitativ, indem sie nebeneinander [...] auftreten. Dies ermöglicht gerade die qualitative Einheit, die innere Geschlossenheit des Werkes."(S.288)
Daraus ergeben sich "ganz neue, übergeordnete, das Ganze des Werkes bestimmende Charaktere" wie Ruhe/Unruhe, Harmonie/Disharmonie, Gleichgewicht/Ungleichgewicht, Leichtigkeit/Schwere, Durchsichtigkeit/Verworrenheit, edle Schlichtheit/vulgäre Zierlichkeit. "Sie bilden sozusagen die äußere Erscheinung jener [o.e.] inneren 'Logik'."
Die auftretenden Massen sind "Konkretisierungen von Idealisierungen gewisser
geometrischer Gebilde", also Prismen wie Zylinder und Parallelepiped, Kegel, Kugel, etc.
Alle sich wiederholenden Elemente/Formen sind "als völlig gleich gedacht";
Unterschiede gehen auf die Ausführung.
Auch die Anordnung ist regelmäßig. (S.292)
Er bringt das schöne Beispiel der alten griechischen Tempel: Säule als Abstraktion
des Baumstammes. Sobald Zitate aus der organischen Welt in die Architektur einziehen,
(Kapitellblätter) werden (a) diese idealisiert "im Sinne einer rational
erfassten Geometrie", wird (b) der Bereich des rein Architektonischen verlassen
in den des "Dekorativen" und (c) wechselt die Kunstgattung zur "Bildhauerei". (S.291)
Zielbestimmend beim Entwurf sind (a) die intendierte Funktion des Gebäudes, (a') evtl. die für Art des Gebäudes bestehenden Konventionen, (b) die Intention, "ein künstlerisches Ganzes zu schaffen" und (c) der Geschmack und die Neigungen des individuellen Autors. Damit aber trägt ein realisiertes Architekturwerk auch immer (d) "Ausdrucksmomente der allgemeinen geistigen Lage der Zeit". (S.294f)
Davon ist das "System rein geometrischer Formen [...] [aus (b)] das Hauptelement und das regierende Moment des ganzen architektonischen Kunstwerkes." (S.299)
Das Wesen der architektonischen Kunst [: die] Einheitlichkeit des Zusammenhanges
in durchsichtiger Ordnung aller am Werk beteiligter sichtbarer Momente
verschiedenen Ursprungs [(a) bis (c)], wobei die mit der räumlichen Gestalt verbundenen Momente
die Grundlage jeder architektonischen Konstruktion bilden.
Ein echtes architektonisches Kunstwerk ist so etwas die einzig mögliche Lösung
einer Gleichung mit mehreren Unbekannten. (S.297)
Das konkret realisierte Werk ist der Realität stärker verbunden als jede andere Kunstform. Es bildet zwar eine Ganzheit, diese aber ist nicht isoliert. Es muss mit der Umgebung rechnen: Lichtstand, Nachbargebäude, etc. (S.302f)
Das architektonische Kunstwerk ist nie ein "reines": Was seinem Hauptzweck nicht dient, ist auch ästhetisch schlecht. (S.304)
Wenn zwischen den "drei genannten Hinsichten" [(a) bis (c)] keine Koordination besteht, oder wenn entbehrliche Einzelheiten auftreten, ist das ein architektonischer Mangel. Es kann dann immer noch ein hervorragendes Werk der Bildhauerei oder Malerei sein, wie z.B. die Ausmalung der Sixtina. (S.298f)
"Das architektonische Kunstwerk ist [...] kein schematisches Gebilde." (S.307)
Dennoch aber gibt es Konkretisationen (ähnlich aber anders als bei den
oben besprochenen Kunst-Gattungen), und nur in diesen wird dem Betrachter
das ästhetische Objekt gegeben.
Wie immer gilt: Jeder Perzeptionsprozess / jede Konkretisation wird bestimmt von zwei Faktor-Gruppen (a) das Kunstwerk, (b) die aktuellen Faktoren im Betrachter und der Umwelt.(S.314)
Jeder mit ästhetischer Einstellung / in ästhetischem Erleben vollzogener Gang um / durch das Gebäude erschafft einen eigenen intentionalen / ästhetischen Gegenstand / eine Konkretisation. (S.308)
Die Konkretisation ist aber, im Ggs. zum architektonischen Werk selbst,
durchaus zeitbehaftet / phasengegliedert:
"Das architektonische Werk [ist] uns in einem System sich wandelnderund ineinander
übergehender Ansichten gegeben."
Es gibt auch Vorzüge, die man nur "während der Bewegung" sehen kann (S.311f)
Beim Wandern durch Notre Dame erlebt
Ingarden "ein wahrhaftes in der Zeit sich entfaltendes Spiel der Gestalten."
Die Phasen des Erlebens enthüllen "innerliches und äußerliches Leben":
Das innere, wenn die optischen Zusammenstellungen der verschiedenen Massen sich
verschieben und "die Sprache des unbewegt gemachten aber noch nicht stummen Innern"
des Werkes" sprechen. Das äußere Leben, wenn Sonnenstand und -stärke, Nebel,
nächtliche Laternen das "Werk reagieren" lassen. (S.312f)
Die Kunst der Architektur gibt "die volle menschliche Seele [wieder], in dem Vorherrschen
des logisch-konstruktiven Faktors in den streng miteinander verbundenen
qualitativen und emotionalen Momenten. Sie tut dies [...] auf ähnliche
Weise wie die Musik, durch das Ausdrücken seiner [=des Menschen] psychischen
Grundstruktur sowie seiner geistigen Vermögen, sowohl der konstruktiv-vernunftmäßigen
wie der perzeptiv-ästhetischen." (S.300)
Sie weist auf, "dass der Mensch der toten Materie Gestalten aufzuzwingen fähig ist,
die seinem geistigen Leben und seinen emotionalen Bedürfnissen am meisten
entsprechen, indem sie seine Sehnsucht nach Schönheit und ästhetischem Zauber stillen." (S.300)
In diesem relativ späten Text (1947) untersucht Ingarden das Filmschauspiel, unter Auslassung von Dokumentarfilm und wissenschaftlichem Demonstrationsfilm.
Der Stummfilm (von Ingarden betrachtet ohne Einblendung von Zwischentexten, und meist auch ohne Musik) "liefert uns ein Schauspiel, in welchem als einziges Darstellungsmittel eine Mannigfaltikgeit photographisch rekonstruierter visueller Ansichten gibt." (S.323, unsere Emphase)
Allerdings ist ein "völlig stummer" Film bereits ein "abstrakter Film", weil er von allem bis auf das Visuelle "abstrahiert wird". Das bereitet den Weg zum "abstrakten Film". (S.324)
Der Tonfilm hat zusätzlich in erster Linie die Sprache der Personen, aber auch Geräusche und die Musik (S.324) 29 "Hauptmittel der Darstellung [ist aber] auch im Tonfilm eine Mannigfaltigkeit fließender Ansichten." (S.329) "Durch das Erleben dieser Ansichten hört der Zuschauer auf, die Leinwand zu sehen, und erblickt in deren Stelle in einer fast wahrnehmungsmäßigen Weise Dinge und Menschen, die sich auf eine bestimmte Art im dargestellten Raum verhalten." (S.328) Daurch entsteht die "Illusion der Verwandlung der dargestellten Gegenstände." [Was wohl auch Personen miteinschließt !?] Das erlaubt "die Handlung zu erfassen." (S.324)
Die (a) filmisch rekonstruierten Ansichten und die (b) tatsächlichen Wahrnehmungsansichten haben gemeinsam, dass beide "eine Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten zu ihrer Grundlage haben, die sich durch ihre besondere Lebendigkeit und Aktualität von den Daten, die wir bei [(c)] noch so lebhaften anschaulichen Vorstellungen haben, wesentlich unterscheiden." (S.328, unsere Emphase) (a) bleibt aber hinter (b) zurück, "da die Rekonstruktionstechnik eigene Deformationen mit sich führt."
Dennoch nimmt "das, was in Wirklichkeit nur reine Illusion ist, [...] den Charakter bzw. Erscheinungshabitus einer Wirklichkeit [an.]" (S.328) Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Schauspieler sich (a) vom Zuschauer unabhängig, automon bewegen, und (b) sich verhalten wie reale Menschen. Der Zuschauer sieht nicht nur ihr Äußeres, sondern (c) darin gespiegelt auch psychische Prozesse. (S.328f) Er kennt ihre Gedanken, Pläne, Erwartungen. [Dies allerdings ähnlich wie im literarischen Kunstwerk.] "Ihr Subjektcharakter und die Spontaneität ihrer Handlung in zwischenmenschlichen Konflikten verstärkt [ihre] Autonomie" und damit den o.e. Realitätshabitus.(S.329)
Dabei entsteht eine auffällige Diskrepanz: Einerseits (a) wird in der
ästhetischen Rezeption das Schauspiel für "real" gehalten, als könnte man
den Personen auch auf der Straße begegnen, wie es ja im Dokumentarfilm
der Fall wäre.
Andererseits (b) ist eine Art Unter-Bewußtsein für die Fiktionalität immer begleitend,
und wenn diese wegfallen würde, führte das zu starken Abwehrreaktionen. (S.320ff)
Der Tonfilm als das heute übliche
Filmschauspiel steht an der Grenze zu Literatur, Bühnenwerk und Malerei;
es hat Elemente der Zeitkunst und der Raumkunst.
Der Tonfilm "ist ein Werk polyphonischer Art, in dem sehr verschiedene
Momente qualitativer Art zusammenwirken". (S.325)
Im Film "geschieht immer etwas", und zwar sowohl in der Schicht der dargestellten Gegenstände, als auch in der Abfolge der rekonstruierten Ansichten.
Die ablaufenden Bilder erinnern an die "Bilder mit literarischem Thema", wie
weiter oben besprochen, die eine eingefrorene Situation zeigen, aber
Vor- und Nachgeschichte zwingend erfordern. Diese kann man in die
Gestalt eines sprachlichen Satzes fassen: deshalb die Bezeichnung als "literarisch".
Damit kommt zu den beiden Schichten rekonstruierte Ansichten und
dargestellte (fiktive) Gegenstände als drittes die der dargestellten Lebenssituation.
Hier, beim Film, sind Vor- und Nachgeschichte Teil der ablaufenden Geschichte.
Die Sprache ist im Literarischen Kunstwerk die einzige Vermittlerin; im Tonfilm aber ist sie nicht unentbehrlich. Vielmehr bilden die rekonstruierten visuellen Ansichten das eigentliche (im Stummfilm: einzige) Darstellungsmittel. (S.327)
Film- und Theaterschauspiel unterscheiden sich grundlegend in der Rolle der Sprache.
Im Theaterschauspiel ist die Sprache das "wesentliche Darstellungsmittel",
alles andere ist ihr untergeordnet.
Tiraden, Monologe, Deklamationen, lange Wechselreden, unnatürliche Gesprächigkeit
sind hier erlaubt. Und das sogar in Versen!
Das Theaterschauspiel ist ein Grenzfall des literarischen Werkes.
Das alles geht im Film nicht. Die Sprache muss im Tonfilm "die lebendige Rede der im Film dargestellten Personen sein". Sie gehört zwar auch zum Darstellenden, aber mehr noch zum Dargestellten. Das Sprechen der Figuren ist Teil ihres Verhaltens. Sie reden "in halben Sätzen, ja sogar in halben Worten", und immer mit "Manifestationsqualitäten", also mit realistischenm psychisch bewegtem Ausdruck. Im Grenzfall wird das Wort zur bloßen Geste; es darf nur da auftreten, wo sonst "die dargestellte Wirklichkeit nicht vollständig wäre". Seine Bedeutung ist "sehr konzentriert, 'lapidarisch'." Es ergänzt nur die von den Ansichten dargestellte Situation. Es muss im Film alles "gezeigt" werden, und die Worte "werden in ihrem konkreten Ton [quasi] gezeigt und bilden einen Bestandteil des leiblichen Verhaltens der dargestellten Personen." (S.331f)
Heute würde man vielleicht sagen: Im Theaterschauspiel scheint das Wort zwar zunächst immer diegetisch, ist aber in Wirklichkeit überwiegend non-diegetisch; im Filmschauspiel ist es ausschließlich diegetisch erlaubt. 30
Musik wird oft eingesetzt, um innerpsychische Zustände der dargestellten Personen zu vermitteln. Ingarden unterscheidet hier scharfsichtig zwischen diegetischem und non-diegetischem Auftreten, ohne diese Worte schon zu benutzen.
Die Verbindung zur Musik ist aber enger. Das Filmschauspiel ist doppelt zeitlich ausgedehnt, nämlich bezogen auf die dargestellte Welt wie auch auf die Wahrnehmungsphasen. (Das hat es mit dem Literarischen Kunstwerk gemeinsam.)
Die verschiedenen Phasen der Zeit des musikalischen Werkes werden durch
den erklingenden Inhalt unterschiedlich "eingefärbt". Aber auch die
Art und die Geschwindigkeit des Vergehens der Zeit selber kann in den
verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich sein, bestimmt durch das,
was wir heute Informationsgehalt, Selbstähnlichkeit und
Entropie nennen.
(Ingarden entwickelt es ohne diese Begrifflichkeit, sehr knapp aber detailliert, und
weiter gehend als in oben besprochener Musik-Monographie!)
Man "muss den Begriff der Musik erweitern, indem man musikalische Phänomene
auch dort entdeckt, wo der Stoff [...] von jeglichen akustischen Phänomenen grundsätzlich
verschieden" ist.
"Die rhythmischen Bestimmtheiten des Filmschauspiels [konstituieren] ein Phänomen
spezifisch musikalischer Art."
Das allein ist eine wichtige und löbliche Erkenntnis. Wir würden heute sagen:
eines grundsätzlichen Aspektes von Filmschnitt.
Darüberhinaus meint Ingarden, dass der Film diese Art von Rhythmus "als eine
Bestimmtheit [...] in einer gewissen Potentialität in sich trägt,
[...] ohne sie aber durch seine eigenen, rein visuellen Mittel voll
verkörpern zu können." (S.337, unsere Emphase)
Deshalb verlangt der Film (von seinen historisch frühesten Anfängen an)
nach der Musik und wäre ohne sie sogar "etwas Verstümmeltes, etwas, dem die
volle Realisierung einer Bestimmtheit fehlt."
Der im Film dargestellte Raum ist ein konkreter. Er wird organisiert
durch die sich in ihm befindenden und bewegenden Körper. Sie
bestimmen "die Gestalt des 'leeren', durchsichtigen Raumes zwischen ihnen."
Dieser Raum kann "verschieden ästhetische wertvolle und aktive Besonderheiten bieten".
Damit steht der Film auch im Grenzbereich zur Architektur.(S.338f)
Zunächst können sich die Körper bewegen und dabei Akzente in der Zeit und im
Raum setzen, und neue Unter-Räume oder Linien beschreiben oder konstituieren.
Im Film können sich aber auch die Räume verändern: Straßen, Plätze, Täler
können sich entfalten, nähern, entfernen, ausbreiten, etc.
Das ergibt "in Innern der dargestellten Welt eine eigentümliche
Musik der Bewegung und der Verwandlung". Wir würden vielleicht heute
sagen: "Musik der Kamerafahrten und des Zooms".
"Keine andere Kunst vermag wie der Film, das Schicksal der Menschen so in die Tiefe der konkreten Zeit und des konkreten Raumes versenkt zu zeigen."(S.340) Aber sogar der Raum selbst kann (statisch oder dynamisch) gestaltet werden, um z.B. die psychischen Zustände der dargestellten Personen zu verdeutlichen.
"[So] bestätigt sich meine [anfängliche] Behauptung, dass der Film an der Grenze vieler verschiedener Künste steht und dass es in ihm eine außerordentliche Mannigfaltigkeit von heterogenen Momenten gibt, die auf sehr vielfache Weise miteinander zu einem organischen Ganzen vereinigt werden können." (S.340)
Uns persönlich ist besonders sympathisch, und wir halten es auch für durchaus zutreffend, dass Ingarden allein auf den letzten sechs Seiten zwei ganz unterschiedliche, genuine, unverzichtbare und nicht-akustische Gestaltungsmomente des Filmes als "erweiterte Musik" auffasste. 31
Dies ist eine Sammlung von "Vorträgen zur Ästhetik 1957-1967".
Einige davon (IV -- Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk,
VI -- Zum Problem der "Relativität" der Werte,
VII -- Was wir über Werte nicht wissen,
XI -- Betrachtungen zum Problem der Objektivität)
sind ausgesprochen propädeutischer Natur. Ingarden moniert, dass
viele Diskussionen allein deshalb unfruchtbar verlaufen, weil die anzuwendende
Begrifflichkeit noch gar nicht hinreichend gründlich und grundlegend geklärt ist.
Das kann so weit gehen, "dass man sich in den geführten Auseinandersetzungen
der Worte bedient, die keine präzisierte und festgelegte Bedeutung haben und dass
man infolgedessen nicht weiß, worum eigentlich der Streit geht."
([ingErl, S.135], unsere Emphase)
Sehr sympathisch ist, dass Ingarden immer wieder den
vorbereitenden, vorläufigen und offenen Charakter
seiner Fragestellungen betont, dass er darauf hinweist, dass wir erst
am Anfang stehen und noch "langsame und geduldige" Forschungsarbeit notwendig ist,
und dass diese (auch das sagt er immer wieder) in der Untersuchung
einzelner konkreter Gegenstände/Kunstwerke sich vollziehen muss.
Nicht alle der enthaltenen Artikel sind für unser Thema gleich wichtig. Artikel XI Betrachtungen zum Problem der Objektivität definiert in erwähnter propädeutischer Absicht verschiedenste ontologische Begriffe von "Objektivität", wovon für uns VII(VIII) - "die Objektivität des intersubjektiv erfassbaren (monosubjektiven) seinsheteronomen Gegenstandes" wichtig sind, als die mögliche Objektivität des gesellschaftlich vereinbarten "Kunstwerkes" und des persönlichen ästhetischen Erlebnisses mit diesem.
Der Vortrag V Über die sogenannte "abstrakte" Malerei von 1958 haben wir oben in der Diskussion Abschnitt 5.2 mit besprochen.
Die Vorträge II, III und VIII bis X fließen ein in unsere zusammenfassenden Betrachtungen zu "Wert und Qualität" in Kapitel 7. Alle anderen werden nun genauer betrachtet.
Dieser kurze Artikel von 1937 [ingErl, S.3-7]
fasst §24 von [ingErk] knapp und übersichtlich zusammen und
sei wärmstens empfohlen, da er adäquat detailliert und völlig zutreffend die Grundlagen
und den Ablauf jeden ästhetischen Erlebens beschreibt.
Ihn seinerseits zusammenzufassen führt zwar etwas weit, sei aber der Vollständigkeit wegen
auch versucht:
Erkennende, praktische oder ästhetische Beschäftigung mit einem Gegenstand bedeutet
grundlegend unterschiedliche Haltungen und führt auch zur Konstituierung unterschiedlicher
(intentionaler) Gegenstände.
Jedes ästhetische Erlebnis vollzieht sich in Phasen; es wechseln (nach-)schöpferische,
erfassende und emotionale; die meisten sind sehr aktiv.
Ausgangspunkt ist eine Ursprungsemotion = die Wahrnehmung einer erregenden Qualität.
Die Aufmerksamkeit wendet sich von der realen Welt ab; die Haltung wird zur ästhetischen;
das Zeitintervall wird abgehoben vom normalen Erleben,
die Erinnerung an die vorangehenden Erfahrungen des Alltags wird gedämpft.
Ist die Ursprungsemotion eine ergänzungsbedürftige Qualität, so entsteht unruhevolles,
drängendes Suchen nach der Ergänzung. Findet man diese nicht, kommt es zu einer
negativen Wertantwort. Andererseits zum Erschauen und Genießen der (zusammengesetzten) Qualität;
daraus folgt ein "neues Begehren nach anschaulichem Haben ästhetisch erregender Qualitäten".
"Ästhetisch relevante Qualitäten [nehmen] die kategoriale Form der Bestimmung
[von] scheinhaft existierenden Gegenständlichkeiten an." Mit diesen kommt es
"zu einem intimen emotionalen Verkehr".
Sind mehrere Qualitäten erlebbar, so beeinflussen sie sich gegenseitig, treten
zu einem qualitativen Ganzen / "Gestalt" zusammen, strukturieren dieses Ganze in Teile.
"Diese Strukturierung bildet eine Eigenheit des ästhetischen Erlebnisses".
In der letzten Phase wird der so konstruierte ästhetische Gegenstand kontemplativ,
emotional, intentional erfühlt.
Hier entsteht die Wertanwort; diese ist von einer folgenden
erkenntnismäßigen Bewertung zu unterscheiden. Ist die Wertanwort
positiv, dann wird der ästhetische Gegenstand als etwas Existierendes bejaht.
Dieser kurze Vortrag (original von 1937) ist ein propädeutischer. Er stellt klar, dass in allen damaligen munteren Diskussionen zum Thema, "was denn nun im Kunstwerk den Wert beinhalte, die Form oder der Inhalt?", die unverzichtbar notwendige vorangehende Klärung der grundlegenden Begriffe sinnwidrigerweise immer einfach ausgelassen wurde und versucht, für diese ein erstes Raster vorzuschlagen.
Dies beinhaltet u.a. (A) den Begriff des "Wertes" und seiner evtl. zu betrachtenden Spielarten, (B) die Definition von "Form und Inhalt" selbst, und (C) die Klarstellung, auf welche Weise das Kunstwerk überhaupt betrachtet/rezipiert wird.
Allein für (B) gibt er neun grundverschiedene sinnvolle Definitionsmöglichkeiten, und vermutet weitere.
Im Falle des Literarurwerkes können z.B. aufgefasst werden "Inhalt" als der Gehalt
der oben definierten "Schichten" und "Form" als deren Verhältnis gegeneinander.
(Wir würden dass "vertikale Form" nennen.)
Dies unterscheidet sich aber nach (C):
In der (C.a) "anatomischen Betrachtungsweise"
(Informatiker könnten sagen: "statische Analyse") konstituiert die Schicht der
Sprachlaute die der Bedeutungen, diese wiederum die dargestellten Gegenstände,
die Sprachlaute modifizieren die paratgehaltene Ansichten, etc., und "Form" wäre die Gesamtheit
all derer gegenseitigen Verhältnisse.
In der (C.b) "deskriptiv-phänomenologischen" Betrachtungsweise
der erlebten Konkretisation des Werkes fallen die Schichten von Gegenständen und Ansichten
fast untrennbar zusammen, während die Bedeutungen und Sprachlaute völlig verschwinden,
bis auf signifikante Ausnahmestellen. (S.47f)
Andere Unterschiede bestehen bei der ("horizontalen") Auffassung von "Form" als Abfolge der Phasen: In C.a geschieht die Abgrenzung der Phasen angeblich durch die Bedeutungseinheiten, in C.b durch die (vorgestellten) Gegenstände. Während wir dem nicht so ganz folgen können, ist aber einsichtig und fundamental wichtig, dass in C.a die Abfolge der Phasen ein rein statisches Phänomen ist, während in C.b all die dynamischen Effekte dazukommen (Verblassen, Vergessen, Erinnern, Zusammenfassen, etc., in [ingErk] detailliert beschrieben, s.o.), weil es sich eben in der (Erlebnis-)Zeit abspielt. (S.49)
(Darüberhinaus enthält der Aufsatz ganz en passant drei kleine, aber nicht unwesentliche Erweiterungen des Modelles des Literarischen Kunstwerkes, die wir oben bereits erwähnt haben.)
Angeblich wurde der Text im Jahren 1957 auf einen Umfang von 140 Seiten erweitert, liegt allerdings nur auf Polnisch vor (S.50 Fußnote), was wir sehr bedauern.
Dieser Vortrag von 1847 benennt zu Beginn sechs verschiedene Definitionen von "Relativität". Alle diese können grundsätzlich sinnvoll kombiniert auftreten. Weiterhin stellt der Text die Frage, ob sich unter allen Kombinationen bestimmte Ausschlüsse oder Implikationen befinden. (S.90)
Für unsere Gesamtbetrachtung ist allerdings in erster Linie wichtig der am Ende des ersten Abschnitts stehende (und auch in anderen Texten schon aufgestellte) Behauptung: "Daraus, dass ein Wert nur bestimmt qualifizierten Menschen gegeben wird, folgt noch gar nicht, dass er selbst in sich, als eine besondere Bestimmung des Gegenstandes, nicht" oder "auf eine weniger automone Weise existiert." (S.86f)
Die Untersuchung zur Relativität von Werten kann nicht im Allgemeinen geführt werden; wenn auch nicht einzelne Werte betrachtet werden müssen, so doch Wertgattungen/Grundarten. (S.91)
Zum einen gibt es "vitale" Werte, die zum Überleben des Einzelnen oder der Gattung notwendig sind. Diese sind immer "relational" (eine der o.e. Arten von Relativität, die bedeutet, dass sich das werthaltige Ding auf etwas anderes beziehen muss), aber nicht "subjektiv", und die Individuen, die zu ihnen keinen Zugang haben, gehen unter. (S.93ff)
Zum anderen gibt es "Kulturwerte, z.b. die ästhetischen Werte." Ästhetisch Werte "existieren als Eigenbestimmungen besonderer Art gut komponierter und innerlich harmonisierter Gegenständlichkeiten, aus deren Beschaffenheit sie sich notwendig ergeben." "[Der Betrachter] muss die entsprechenden Qualifikationen erwerben, damit sie einem in ihrer eigenen Gestalt erscheinen und auch gerecht gewürdigt werden. [...] Das macht sie nicht zu Illusionen." "Sie erscheinen [allerdings] an konkretisierten Kunstwerken, die nur seinsheteronom sind." (S.94)
Am Schluss folgt ein
EXKURS über "sittliche Werte": Sind diese den Nützlichkeitswerten oder gar den
vitalen zuzuschlagen? Oder bilden sie eine eigene Gruppe?
Es kann nur in aller Kürze darauf hingewiesen werden, dass die reine Existenz unterschiedlicher
Urteile aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen
über vergleichbares menschlichen Handeln nicht hinreichend ist, eine grundlegende
Relativität dieser Werte anzunehmen.
Das bleibt ein Forschungsprogramm: Wenn nämliche die "Relativität" der verschiedenen
Gruppen von Werten geklärt wäre, hätte man darin ggfls. ein strenges Unterscheidungskriterium.
Dieser längere Vortrag von 1965 ist für unser Theme "Ästhetik" nicht zur Gänze von Bedetung, da er sich mit der Werttheorie im Allgemeinen beschäftigt.
Ingarden gruppiert die möglichen Wertarten nach "vital", einschließlich "nützliche" und "Bequemlichkeitswerte", und "kulturelle", bestehend aus "Erkenntniswerten, ästhetischen, sozialen und ethischen (im engeren Sinne)". (S.98f)
Dass wir uns vom Ausgangsthema entfernen wird spätestens klar, wenn von
"Warenwert", "Markt" und "Preis" die Rede ist (S.131) oder wenn es um konkretes
menschlichens "Handeln" geht. (S.129).
(In diesem weiteren Kontext nennt er "Materie des Wertes", was in den vorangehenden
Bücher "Wertqualität" hieß.)
Dennoch ist manch für unser Thema Wichtiges hier enthalten:
Ingarden betrachtet von den grundlegenden gegenseitigen Verhältnisformen
mehrerer Werte u.a.
"Autonomie", "Modifikation" und "Intoleranz".
Dabei ist die Modifikation für die ästhetischen Werte dann wichtig zu beachten,
wenn im selben Werk parallel dazu noch "ethische" oder "politische" oder
"patriotische" Werte auftreten, -- dass man das Urteil über die reine Ästhetik
frei halte von dieser Modifikation.
Umgekehrt ist eine Diskussion zwischen zwei Menschen vielleicht völlig unmöglich, wenn
jeder jeweils nur Werte einer anderen Art in selben Werk erlebt. (S.136)
Wenn "Kunstkritiker ein 'Kriterium' der Werke fordern" (S.128)
und angesprochen werden das "Problem seiner [des Wertes] 'Fundierung' im Gegenstand",
dass "jeder Wert [...] von den Bestimmtheiten [des Gegenstandes] seinsabgeleitet ist"
und gesucht wird "nach solche[n] Momente[n], die, sobald sie im Gegenstand effektiv
auftreten, das Erscheinen einer bestimmten Wertmaterie in concreto notwendig
nach sich ziehen",
---
dann ist damit letztlich gemeint und gefordert, was wir hier als unser eigenes Forschungsgeschäft
verstehen, nämlich die konkreten Wirkungsmechanismen von
musikalischer Faktur und kompositorischer Technik aufzuweisen.
Sehr sympathisch ist wiederum, dass auch Ingarden meint,
nur die Untersuchung des konkreten Einzelfalles verspreche da Erfolg.
Ein allen bisher betrachteten Kunstbereichen (Literatur, Musik, Malerei) gemeinsames Thema ist das der ästhetischen Werte, einschließlich der Fragen nach ihrem Wesen, ihrem Zustandekommen, ihrer Beurteilung.
Prinzipiell sind verschiedene Begriffe wohl zu unterscheiden, wobei leider einige Wortlaute sich im Laufe der Jahre wandeln:
Die Wortwahl für die ersten beiden Begriffe ist leider nicht sehr signifikant:
"ästhetisch wertvolle/valente/relevante Qualitäten" sind nämlich eher
"potentiell Werte konstituierende ästhetische Qualitäten".
Dabei bedeutet "Qualität" in des Wortes ursprünglicher Bedeutung (also nicht-wertend)
lediglich "skalare Bestimmungsgröße" oder "messbare Eigenschaft", eine "objektiv vorhandene"
Eigenschaft des Werkes oder (häufiger) des erlebten ästhetischen Gegenstandes, also
der Konkretisation (siehe oben Abschnitt 6.1).
(Oft sind diese Qualitäten auch als Quantitäten beschreibbar, wie "Helligkeit",
"Röte", "Tonhöhe". Das spielt aber in Ingardens System kaum eine Rolle.
Im Rahmen der post-seriellen Darmstadt-Komponier-Schule würde man dann schlicht
von "Parametern" sprechen.)
Die ästhetisch relevanten Qualitäten
kommen aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Im Bild z.B. Farbe, Größe, Form
eines gegebenen Farbfleckens; Symmetrieen und Abstände der Anordnung von Gegenständen
im dargestellten Raum und auf der Fläche; die gesamte Palette und die Verteilung
der Farben in der Fläche; etc.
Allerdings sind sie nicht Eigenschaften des Trägerobjektes, sondern des erlebten
(/intentionalen/ästhetischen):
Im Kunstwerk liegt "der Grund für die Konstituierung der ästhetisch
relevanten Qualitäten in den ästhetischen Konkretisationen." [ingErk, S.243]
"Ästhetisch wertvolle Qualitäten [sind] das aktive Moment des Kunstwerkes, welches im Betrachter die ästhetische Einstellung hervorruft und in ihm die Entwicklung des ästhetischen Erlebnisses anregt und insbesondere dessen emotionale Phase beeinflusst." [ingOnt, S.166]
Eine gute Erklärung gibt Ingarden ex negativo:
Der Marmor der Venus von Milo hat einen Flecken auf der Nase; unsere
Wahrnehmung des "Bildes" aber berücksichtigt den mitnichten, wir "wissen" dass
der nur zu der "physischen Grundlage" gehört, nicht zum Dargestellten, und user
Wahrnehmungsvermögen kann ganz automatisch und problemlos von diesem Flecken "absehen".
Er ist also keine ästhetisch relevante Qualität. [ingErk, S.188]
Auch nicht, dass ihr die Arme fehlen, -- auch das kommt nur dem Trägerobjekt zu,
nicht dem Bild. Sonst wär ihr Gesichtsausdruck ein anderer, und der Vorgang
der ästhetischen Konkretisation wird das deshalb nie dem Bild zuschlagen.
32
Diese ästhetisch relevanten Qualitäten sind als solche wertfrei. Mehrere von ihnen können aber zusammen, durch entsprechende Kombination der von ihre konkret angenommenen Werte, den ästhetischen Wert des erlebten ästhetischen Objektes (= intentionalen Objektes = Rekonstruktion) hervorbringen. Der Rezpient "erlebt" diesen ästhetischen Wert unmittelbar, er "geht mit ihm um", s.o. Abschnitt 6.1.
"Das Kunstwerk ist ein Werkzeug, das dem Zweck dient, in der Begegnung mit dem ästhetisch Erfahrenden den ästhetischen Gegenstand und insbesondere auch die in dem letzteren verkörperten ästhetischen Werte zur anschaulichen Selbstgegebenheit zu bringen und dem sie Erfassenden zur Auskostung und Anerkennung darzubieten." [ingErl, S.23]
Werte sind nicht etwa subjektiv oder intersubjektiv-beliebig, sondern
"existieren als gewisse gegenständliche und in diesen Gegenständen fundierte
Bestimmtheiten besonderer Art." [ingErl, S.97]
"Sobald aber dieser [ästhetische] Gegenstand entstanden ist, kommt ihm
ein bestimmter ästhetischer Wert zu. [Dieser ist] nicht von der
Beurteilung [...] durch den Betrachter abhängig." [ingOnt, S.97]
"Der Wert baut sich im Gegenstand auf Grund einer bestimmten Auswahl wertvoller
Qualitäten auf." [ingErl, S.163]
Der Rezipient reagiert dabei unmittelbar und spontan mit einer Wertantwort, also dem Bejahen oder Ablehnen des erlebten Wertes. 33
Betrachtet man diesen Wert genauer, so kann dieser in verschiedene
Aspekte zerfallen, die ihn zusammen ausmachen, und die ästhetische Wertqualitäten
heißen.
"Die ästhetischen Wertqualitäten sind qualitative und intuitiv erfassbare Bestimmtheiten
des ästhetischen Wertes." [ingErl, S.144]
Die Wertantwort tritt immer spontan ein; sie ist nur vom ästhetischen Gegenstand
und dessen Wert bestimmt und unterliegt nicht der subjektiven Kontrolle
des Rezipienten. Sie bezieht sich immer auf die gerade erlebte Konkretisation
[ingOnt, S.250].
All dies ist ganz anderes bei dem nach der Rezeption gefällten Werturteil.
Dieses wird erschwert durch zwei Tatsachen:
(A) "ästhetische Wertqualitäten [sind oft] ganz eigenartige und einzigartige
[...] synthetische Gebilde (Gestalten hoher Stufe)",
für die es gar keine Sprachmittel gibt. [ingErl, S.27]
(B) die Gefahr der Verwechslung des ästhetischen und des künstlerischen Wertes.
Während der ästhetische Wert direkt erlebt wird, kann der künstlerische Wert nur erschlossen werden. Der erste kommt der erlebten Konkretisation zu, der zweite dem Kunstwerk als solchem. Er beinhaltet, könnten wir sagen, "wie geschickt" der Autor die technischen Mittel der Gattung handhabt, um den ästhetischen Wert hervorzubringen. [ingErl, S.23, S.164, 167, 179]
Letztlich gibt es drei Arten von Werturteilen: über die künstlerischen Werte, über die Konkretisation, gemessen an ihrer Nähe zum Kunstwerk, und über den gerade erlebten ästhetischen Wert. Wichtig ist, diese drei Arten nicht zu verwechseln. [ingErl, S.25]
Ein grundlegender Einwand gegen diesen ganzen Systemaufbau ist, dass
Ingarden immer wieder
externe, vordefinierte, informelle "Vorurteile" ganz fraglos, unhinterfragt
und als selbstverständlich importiert und diese
teils sogar zur Grundlage der weiteren Behandlung macht.
Ausserdem ist dabei der Unterschied zwischen "ästhetisch relevanten Qualitäten"
und "ästhetischen Wertqualitäten", die ja theoretisch etwas fundamental verschiedenes
sein sollen, nicht immer nachvollziehbar.
Als ästhetisch relevante Qualitäten importiert er
z.B. "klar", "verständlich" [ingErk, S.240]
"angemessen", "häßlich", "fade", "schrill" [ingOnt, S.88]
"symmetrisch, asymmetrisch, gestaltvoll, ungestaltet, (in sich) geschlossen, bündig, weitläufig,
uneinheitlich, klar, durchsichtig, dunkel ...[ingOnt, S.166]
"ästhetisch relevante Qualtitäten wie z.B.
symmetrisch, klar, subtil, originell, komisch, weich, beruhigend, ..."
"positive Wertqualitäten wie schön, vollkommen, anmutig, reif ..."
[ingErl, S.143]
"Härte, Weichheit, Schärfe des sprachlichen Ausdrucks" [ingErk, S.20]
Ausserdem tauchen unvorbereitet, unhinterfragt und unvermittelt auf Begriffe wie "Stil" und "Schönheit" "Klarheit" "Durchsichtigkeit" [ingLitKW, S.226f]
Allerdings behauptet der Autor auch nie, ein materialiter vollständiges
System liefern zu wollen, sondern halt nur ein Rahmenwerk, das mit noch nicht
ganz geklärten Begriffen des "informellen Vorverständnisses" durchaus angefüllt werden
darf, um seine statische Stabilität als solche zu prüfen.
Ingarden weist immer wieder darauf hin, dass langwierige gründliche
Einzelfallanalysten notwendig sein werden. Nur diese sind in der Lage,
die von uns vermissten Definitionen oder Explikationen adäquat nachzuliefern.
Auch was letzlich Schönheit, das zentrale, oder zumindest: ein wichtiges Ziel
aller ästhetischen Bemühungen, tatsächlich konstituiert, versucht er erst gar nicht
zu beantworten.
"Streng genommen ist die Schönheit eines jeden echten und große Kunstwerkes
in ihrer vollen Fülle und synthetischen Einheit etwas ganz Spezifisches, das nur
unmittelbar erfasst, nicht aber rein begrifflich streng bestimmt werden kann."
[ingOnt, S.168]
Er gibt immerhin einige Hinweise, wo man suchen kann. Z.B. auch im Dargestellten selber:
eine als solche als "schön" empfundene Landschaft/Person bleibt auch als solche wirksam,
selbst wenn sie nur im Bild erscheint. [ingOnt, S.199]
Die eigentliche Quelle ästhetischer Befriedigung aber bleibt der Genuss der durch die Polyphonie der Schichten gebildete Gesamtklang der unterschiedlichen ästhetischen Wertqualitäten.
Nicht zuletzt der historische Kontext der Entstehung von Ingardens Lebenswerk
nötigt uns Bewunderung ab und
erschüttert: Viele seiner Kollegen und Seminarteilnehmer wurden von deutscher
Polizei und Militär ermordet, wie er in einem eingeschobenen
lakonischen Hauptsatz berichtet [ingEx, I/S.X].
So auch Ostap Ortwin, den er ebenfalls zu erwähnen nicht vergisst
[ingErk, S.376].
Die kürzlich erst abgeschlossene Rekonstruktion Warschaus ist eine der grüßten
ästhetischen, wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Leistungen überhaupt.
Schon seit Beginn der Neuzeit zeigt sich das Polnische Volk, bei aller Wechselhaftigkeit
seiner Verfassung, durch sein Schaffen in Philosophie, Mathematik, Literatur,
Musik, Naturwissenschaft und später auch Film, etc., als tragende Säule mitteleuropäischer
Kultur. So gesehen sind die Verbrechen der Nazis an ihren Nachbarn immer auch Verbrechen
am deutschen Volke.
Ingarden
überlebte die Nazi-Besatzung in Innerer Emigration,
um danach unter Stalin mit einem
weiteren Lehrverbot belegt zu werden.
Der Einfluss seiner einsamen Forschungen auf die Entwicklung der diversen "Ontologien"
musste folglich gering bleiben; Jahrzehnte einsamer Arbeit am "Streit" [ingEx] wären
anders viel fruchtbarer geworden.
Dass Ingarden all diese politischen Gewaltzeiten
überlebte und in den Sechziger Jahren
sich wieder in der deutschen Sprache an die philosophische Weltgemeinschaft wenden
konnte und wollte, sind große Geschenke, für ihn und für uns.
[ingErkTh]
Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie Niemeyer, Halle, 1926 |
[ingLitKW]
Das Literarische Kunstwerk Niemeyer, Tübingen, 1960 |
[ingErk]
Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks Niemeyer, Tübingen, 1968 |
[ingEx]
Der Streit um die Existenz der Welt Niemeyer, Tübingen, 1964 |
[ingOnt]
Untersuchungen zur Ontologie der Kunst: Musikwerk, Bild, Architektur, Film. Niemeyer, Tübingen, 1962 |
[ingErl]
Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967 Niemeyer, Tübingen, 1969 |
[wacht]
Roman Ingardens Substanzontologie in: Substantia - Sic et Non: Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zu Gegenwart in Einzelbeiträgen, Ontos Verlag, Frankfurt, 2008 https://epub.ub.uni-muenchen.de/10985/1/Wachter_2008-Ingarden.pdf |
1 Wahrscheinlich ist diese Fähigkeit bei verschiedenen Menschen je nach Beruf und Lebenskontext unterschiedlich ausgeprägt: Der Verfasser kann dies alles z.B. recht problemlos auf sicht- und hörbare "Gegenstände", aber gar nicht auf Geruch oder Taktiles bezogen (Er ist weder Koch noch Fellhändler!-)
2 Ein nettes Argument gegen den Psychologismus (Kucharski), der behauptet, Material des Literarischen Kunstwerkes sei der "lebendige Bewußtseinsstrom", erst der des Schaffenden, dann der des Lesers: Das Zahnweh des Autors während des Schaffens gehört nicht dazu, aber die Liebesschmerzen der Romanfigur doch. (S.12)
3 Mit Geiger Vom Dilettantismus im künstlerlischen Erleben wird hier deutlich eine Wertung vorgenommen: "Falsches Erleben" ist solches, wo das Kunstwerk nur als Mittel genommen wird "eigene Erinnerungen zu reaktivieren (Schwelgen)." Dies geschieht besonders bei Musik und ist ein Zeichen von mangelnder Bildung, von "mangelnde Kultur im Verkehr mit dem Kunstwerk." Sosehr wir diesen Standpunkt inhaltlich begrüßen, so müssen wir doch feststellen, dass er an dieser Stelle der Darlegung eine petitio principii darstellt, -- wie denn nun "richtig" zu rezipieren wäre muss ja erst noch aufgewiesen werden!
4 Bemerkenswerterweise wird gegenüber dem musikalischen Kunstwerk die Haltung des "kalten Analysierenden" viel häufiger eingenommen. Sie zwar nur zeitweise, derweil aber konsequent, ausschließlich und bis zum Ende durchzuführen ist sogar Voraussetzung für jede folgende professionelle Interpretation, sei diese dann auch wieder "stark emotional bestimmt". Dies scheint in anderen Kunstformen weniger stark üblich zu sein.
5 In der Folgeschrift "Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk" wird ein Herr Dorn als der Urheber dieser Unterscheidung angegeben, zum ersten und einzigen Mal? [ingOnt, S.33]
6 Das der "ästhetische Gegenstand" nicht mit dem realen Körper identisch ist, sondern zum psycho-internen Modell gehört, wird schön deutlich bei der bildenden Kunst. Wir erinnern uns, wie bei Spiegelwerken von Adolf Luther wir vor und zurück und seitwärts treten mussten, um eine Vorstellung von der gemeinten Gegenwelt zu bekommen; wie der Versuch, die trennenden Linien in Barnett Newmans Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau IV wirklich "zu sehen" im Funkeln der Netzhaut scheitert; wie wir entdeckten, dass man an Cézannes Montagne Sainte-Victoire achtlos vorübergehen muss, ihn nur aus dem Augenwinkel betrachtend, damit er schlagartig dreidimensional hervorspringt und sich zu drehen beginnt ...Ingarden selbst verwendet in [ingErk] die Venus von Milo.
7 Eine schöne Veranschaulichung findet sich in [ingErk, S.30, Fußnote], dass der Satzzusammenhang das Primäre ist, das isolierte Wort, wie es im Lexikon steht, aber das Sekundäre: Letzteres ist immer mehrdeutig, was bei ersterem sehr selten ist.
8 Wir verweisen auf das einfache und bekannte Experiment, ein und dasselbe Wort unbegrenzt oft wiederholt auszusprechen, bis sich irgendwann der "Wortlaut" verflüchtigt und der reine Klang plötzlich wieder hörbar wird, oft mit überraschendem Eindruck.
9 Das Beispiel eines vermittelnd eingeschobene Satzes "Alle gleichseitigen Parallelogramme haben zwei gleiche, sich halbierende Diagonalen" in der ersten Auflage auf S.160 ist übrigens peinlicherweise falsch; -- seine Korrektur durch das hinzufügen des "rechtwinklig" entwertet das Beispiel, da diese Figuren schlicht Quadrate -- "sind".
10 Überzeugendes Beispiel für eine inhaltliche Aussage des rein syntaktischen Satzbaus ist uns immer wieder der Anfang von Stendhals Rot und Schwarz, wo ein einziger Satz über eine halbe Seite geht und ganz am Ende der Eingangsbeschreibung der Kleinstadt, in tiefster Schachtelungsebene der Nebensätze, nachdem all die wichtigen Bürger und Bürgermeister benannt wurden, unvermittelt aber eingebettet, ja, umzingelt, plötzlich der Name des Helden erscheint. Das erklärt manches!
11 Man mag es als Beweis für den künstlerischen Wert der Rex Stouts Nero-Wolfe-Romanen sehen, dass die Verfilmung A Nero Wolfe Mystery fasst hundertprozentig die visuellen Vorstellungen wiedergab, die wir seit frühester Jugend immer wieder identisch beim Lesen hatten!
12 Zwischen der ersten und allen folgenden Konkretisationen (=Lesevorgängen) ändert sich sogar die "zentrale metaphysische Qualität" fundamtenal und unausweichlich, wenn es sich um einen Kriminalromans handelt! Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal dieser Gattung, -- man kann ihn eigentlich nur einmal lesen.
13 Nichts im Text deutet darauf hin, dass die sich kannten, obwohl beide in Krakau lebend?
14 Wir persönlich (und auch die Mehrheit der zeitgenössischen Kunstschaffenden) haben da eine radikal entgegengesetzte Meinung: Der Dichter/die Inszenierung/der Text "darf grundsätzlich alles". Regeln a priori weder zielführend noch überhaupt möglich. Die Reaktion des Publikums wird schon entsprechend sein, und alle zusammen schaffen letztlich das Werk. Wenn's denn gutgeht. Ganz am Schluss wird Ingarden genau diesen Standpunkt FAST erreichen. Zumindest wird er ganz klar sagen, dass (im Falle des Musikwerkes) Komponist, Interpret und Hörer dieses gemeinsam hervorbringen. [ingOnt, S.130]
15 Die Konstruktion der "infima species" ist heute besonders in politischer Hinsicht als kritikwürdig erkannt, weil die mentale Konstruktion von "menschlichen Rassen" als rein politisches Konzept entlarvt ist, dem in der tatsächlichen Kontinuität von Geno- und Phänotypen keine objektiv begründbare Grenzziehung entspricht. Hier erweisen sich die "spätbürgerlichen" Bemühungen, wie bei Ingarden, also sogar als "potentiell faschistoid".
16 Es ist uns überhaupt nicht verständlich, warum die "Realisten" unbedingt an ihrem "Realitätsanspruch" festhalten? Ihre Untersuchungen zu den Einzelphänomenen, den Wirkungsweisen, Zusammenhängen und Klassifizierungen werden ja um nichts wahrer oder falscher, besser oder schlechter brauchbar, zutreffender oder falscher, wenn man sie bezieht (in der Art einer "analytischen" Philosophie) auf Elemente der psycho-internen Modellbildung statt auf die (u.E. immer nur hypostatisierten) "realen Dinge". Ingarden selber ahnt so etwas in [ingOnt, S.277] Und viele künstliche Probleme fallen weg, wie z.B. das nach der "infima species", weil die Konkurrenz verschiedener Antworten wegfällt, die ab jetzt, je nach Modellbildungskontext, friedlich neben einander co-existieren dürfen.
17 ...und was sich dankenswerterweise mit unserem TIER-Modell / MEGA-Modell gut verträgt.
18 Allerdings gäbe es auch einige Argumente dafür, dass jedes denkbare Werk von Anbeginn existiert und vom jeweilig Schöpfenden nur aus der ubiquitären Ursuppe herausgehoben wird. Also doch "nur" entdeckt. Dies ist weniger esoterisch als es zunächst klingt: Jeder der am Klavier als Kleinkind schon Dreiklangsbrechungen "erfunden hatte", kann dabei Dinge die sehr ähnlich dem Anfang der Mondscheinsonate sind, entdeckt haben, einfach weil sie in der Struktur von Musik und Klavier bereits angelegt sind. Siehe dazu auch den Effekt des Déja audé.
19 Ingarden ist leider nicht ganz eindeutig und stellt implizit zwei sehr ähnliche Definitionen auf, je nachdem ob "wertvoll" ausschließlich "positiv-wertig" oder auch "negativ-wertig" umfasst. Die zweite Definition ist extensional größer und umfasst auch die "nicht empfehlenswerten" Ausführungen. Die Frage der Wertung ist aber eh eine ganz andere und hier nur unbefriedigend gelöst.
20 In den Abschnitten vor diesem letzten wird hingegen das Musikwerk mehrfach als (sinngemäß) "Maßstab für das zu erreichende Ideal/Optimal jeder Ausführung" bezeichnet. Dies scheint uns eine Inkonsistenz dieses Textes, als hätte der Autor die letztliche mehrdimensionale Lösung, die ja viel "demokratischer", neutraler, praktikabler, angemessener und "moderner" ist, erst im Laufe des Schreibens gefunden und den vorangehenden Text nicht mehr angepasst.
21 Deshalb bezeichne ich auch meine Sinfonien sieben und acht als "Fassung für synthetisches Orchester", mit Opusnummern 40a und 42a: Die eigentlichen Werke für menschliches Orchester stehen noch aus und würden "Unbestimmtheitsstellen" aufweisen, was die elektronischen Realisationen nicht tun. Umgekehrt ist es bei Sinfonie Nr Fünf für Klavierquintett op.38. Da ist die elektronische Realisierung nur eine von vielen möglichen, da die Komposition der Partitur der Realisierung deutlich voranging.
22 Z.B. Münchener Sinfoniker unter Celibidache, Live in Tokyo 20.10.1990 48:45 bis 49:43
23
Schon in der Folgeschrift "Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk"
wird Ingarden übrigens dieses Modell ganz en passant grundlegend modifizieren, indem
er zugibt, dass der Gegenstand keinesfalls eindeutig bestimmbar sein muss
[ingOnt, S.42]. Mit unserem eigenen Beispiel: als "Gegenstand" des
entsprechenden Bildes kann mit gleichem Recht aufgefasst werden
das physikalische Problem des Hinaufziehens von nackten Frauen auf Pferderücken,
das Entsetzen des Gewaltopfers,
der literarische Vorgang einer Enführung, der historische Vorgang des Raubes
der Sabinerinnen oder das allgemeine Phänomen sexistischer Gewalt.
Es kann aber sein, dass das Wort "Gegenstand" in beiden Schriften einen leicht anderen
Begriff bezeichnet.
Ingarden selbst wird ganz en passant anführen, dass eine Marmorskulptur
von Rodin "den weiblichen Leib und gewissermaßen auch das Weib selbst
in seinem seelischen Zustand" zeigt. [ingErl, S.173]
24 Verfasser erinnert sich z.B. genau, wie er als Jugendlicher manche Toneindrücke in manchen Mahler-Sinfonieen begeistert als Kontrapunkte erlebte, um sie beim Wiederhören nach einigen Jahren Pause und mit weiter trainiertem Gehör als wenig interessante Heterophonie abtun musste.
25 Heute wissen wir, dass genau diese Entwicklung konsequent weiter ging, siehe große Teile der amerikanischen Pop-Art, und die großen "piktogramm-basierten" Tafelbilder von Penck und Harring.
26 Wir werden nie eine kurzen Dokumentarfilm vergessen, wo Keith Haring mit einem gesprühten "kleinen Männchen" in der linken unteren Ecke begann, sozusagen die genannte "Grundlegung des Problems", um nach kurzer Zeit die über zwanzig Quadratmeter der Leinwand gefüllt zu haben, -- die überaus "glückliche Ergänzung"!
27 Wohl überflüssig anzumerken, dass das u.E. für jedes "gute" musikalische Werk genauso gilt !-)
28 Fast alles folgende wird umständlich entwickelt als fast diametraler Gegensatz zur "organischen Welt", was wir in unserer Zusammenfassung als unerheblich weglassen.
29 Interessanterweise übersieht unser Autor völlig die wichtige Rolle der Musik im Stummfilm, z.B. die live von Klavier, Orgel oder Orchester gespielte und später dann eigens komponierte oder improvisierte. Er ist ja auch mehr am "völlig stummen" Film interessiert, den "zu realisieren noch nicht gelungen ist."
30 Abgesehen von der seltenen Situation eines "Erzählers aus dem Off".
31 Das bestätigt uns u.a. nachträglich darin, dieses "Archiv für Musikphilosophie" inhaltlich erweitert zu haben!-)
32 Bei dem Versuch einer Rekonstruktion von Hans Richter Rhythmus 21 begegnete uns ähnliches: Dies ist bekanntlich ein früher abstrakter Stop-Motion-Film, realisiert mit weißen rechteckigen Farbscheiben. Wenn man die Feinst-Struktur des Bilder mitberücksichtigt (also als ästhetisch relevante Qualtität auffasst), dann sieht man über den Bildrand sich bewegende Rechtecke, erkennbar an der Oberflächenstruktur; wenn aber nicht, dann wachsende und schrumpfende.
33 Geht zurück auf D.v.Hildebrand, laut [ingErl, S.178 Fußnote].
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