^inh 2015122500 | phaenomen |
Verfasser versucht sich seit Jahren, wie so mancher tapfer schweigende Held,
auf dem Klaviere an der Kunst der Fuge.
Sein Notenmaterial ist der Einzeldruck (Breitkopf & Härtel, Studienpartitur 4830)
der Ausgabe durch Wolfgang Gräser.
Dieser besteht aus vierstimmiger Partitur in alten Schlüsseln,
also ein F- und diverse C-Schlüssel, mit unterlegtem Klavierauszug.
Bis zur Mitte vorgedrungen, überkam Verfasser das Bedürfnis, das bereits Erarbeitete neu und frisch wiederzuerleben und so ging er übermütigerweise dazu über, nicht mehr aus dem Klavierauszug, sondern aus der Partitur zu spielen.
Dies war nun Strafe, Mühlsal und Qual! Jedenfalls zu Beginn.
Obwohl er die Werke und Folge der Finger wohl kannte ...
DANN ABER eröffneten sich in seinem Hirn neue Bahnen der Informationsverarbeitung,
neue Synapsen knüpften und schlossen sich, und ein völlig neues Fugenerlebnis
tat sich auf! Wir können es allen nur herzhaft empfehlen!
Denn deshalb, so ging es jedenfalls uns, weil wir der Schlüssel weniger gewohnt sind,
besonders des Sopran- und Mezzosopran-, aber auch des Alt- und Tenorschlüssels,
kann nicht mehr
spontan jedem Punkte auf den Linien INSTANTAN eine Taste/Tonhöhe zugeordnet
werden. Dieser Weg ist (noch) nicht im Gehirn verdrahtet. Glücklicherweise!
Denn genau DESHALB übersetzt das
Gehirn nicht direkt Notenhöhen in Griffpositionen, sondern vielmehr werden die
horizontalen Abstände zwischen zwei Noten
gelesen, bewußt empfunden und (nach einiger Übung)
automatisch in Melodie- und Fingerschritte
umgesetzt. Das gesamte Erleben dreht sich gleichsam um neunzig Grad, die
Gleichzeitigkeit der verschiedenen Schritt-Bewegungen von einer Noten zur nächsten
wird nicht nur deutlicher empfunden, sondern gar zur Grundlage des
Produktionsvorganges. Und gerade diese ist es ja, die die Polyphonie ausmacht!
Ein frisches, neues, viel intensiveres Erleben ist die Folge. Heureka!
Eine Sache aber ist dabei fast zwingend notwendig: An jedem Zeilenende versagt diese
Art des Lesens, da die vier Schritte der vier Stimmen zur Folgenote über einen
Zeilenwechsel hin nicht mehr auf einen Blick zu erfassen sind. Für diese Art des
Spielens bedarf es zwingend der Custodes, die am Ende jeder Zeile die erste
Tonhöhe der Folgezeile anzeigen. Nur so ist ein flüssiges Lesen, Spielen, Erleben
und Erklingen möglich.
(Wir planen im Rahmen unseres gerade begonnenen kleinen Notensatz-Projektes eine
entsprechende Ausgabe selbst zu erstellen, da eine solche unseres Wissens leider
nicht im Handel erhältlich ist ...)
^inh 2015122501 | monograph |
Das sowohl überraschend aber auch, in der Rückschau,
konsequent anmutende
a-moll, erreicht auf den Text "und was ich denke singt sie",
realisiert den Fakt,
dass im Gesang, im Moment des Singens, des Singens des Textes "singt",
der Schmerz, der ansonsten konzeptionell ist, tatsächlich Realität wird,
-- damit aber dialektischerweise auch objektiviert.
Genau auf dem Punkt, wo das Gedicht sich selbst als solches benennt,
reflexiv wird, wird im
Gegenzuge das Gefühlserleben in der Harmonik ganz unmittelbar.
^inh 2015122502 | phaenomen |
Der zwar einerseits problematische, aber andererseits für die Organisationsstruktur großer Behörden gar konstitutive Unterschied zwischen der sogenannten Uhh- gleich Unterhaltungs- und der Eee- gleich Ernsten Musik ist immer wieder Gegenstand von Problematisierung, Umwertung und politischem Diskurs.
Dabei ist der Unterschied doch so einfach, klar und eindeutig:
Unterhaltung ist, uns das Hier und Jetzt vergessen zu machen und uns über
das Verfehlen unserer Bestimmung hinwegzutrösten und zu -täuschen;
einzuseifen, auf dass wir kaufen und verbrauchen und versäumen, bis dann das
Leben plötzlich vorbei ist; uns
zufriedenzustellen mit dem Zweitrangigen, Entlehnten, Geklauten, Oberflächlichen;
uns zu schmeicheln statt uns herauszufordern.
Wahre Kunst aber, ernste Musik, hat immer Aufgabe und Ziel, uns der Ewigkeit
in uns selber näher zu bringen; dialektischerweise an die Endlichkeit und
die Unendlichkeit zugleich zu erinnern; uns zu ermahnen und zu ertüchtigen
zu direkterem, wahrerem, unmittelbareren und adäquaterem Verhalten; zu unser
und des nächsten Frommen; nicht mehr Schein und Ersatz zu akzeptieren, sondern
nur noch das Wirkliche, Wahre, das Ernste.
Somit wäre das Gute und das Böse eindeutig geschieden und eindeutig als solches erkennbar.
Schön wär's.
Denn -- erstens -- liegt es an mir, dem Hörer, wie ich etwas gebrauche: ich kann mich auch vom Zweiten Kyrie der h-moll-Messe unterhalten lassen, ohne zu erschrecken, vom fisis kitzeln, ohne den Himmel aufreißen zu sehen.
Und zum zweiten, wenn auch die Wirkungsrichtungen von Uhh- und Eee- derart
säuberlich scheidbar sind, so sind es nicht die Werke.
Zwar ist nicht in allen beides gleich, aber in wenigen fehlt eines ganz:
Wer möchte die
bitteren Protestlieder der amerikanischen Popkultur als "Unterhaltung" bezeichnen?
Wer will von "In the Ghetto" unterhalten werden?
Und sind nicht die Drogen-Oden von Jefferson Airplane, Can und
Velvet Underground allemal höhere Offenbarung als alle Philosophie,
Feuer aus dem Geist und bewegende Manifeste menschlichen Leidens,
menschlicher Möglichkeit, menschlicher Handlungsfreiheit und -beschränkung,
bewegende Dokumentationen der Wirklichkeit?
Und ist nicht auch so mancher Orchestersatz von J.S.Bach letztlich
nicht mehr als bloß barockes Virtuosengeklingel?
Die Grenze zwischen Uhh und Eee ist scharf und deutlich. Aber ihr Verlauf ist beweglich. Sie geht quer durch das Herz aller Dinge.
^inh 2015122503 | monograph |
In den lyrischen Texten von Rainer Maria Rilke kann man deutlich drei verschiedenen Schichten feststellen, die sich dadurch von einander ablösen lassen, dass einerseits sie zu betrachten, sich mit ihnen zu beschäftigen für jede einzelne Schicht als einzelne bereits fruchtbar und bedeutend ist, und sie sich doch letztlich zu Wirkung und Aussage des Ganzen auf das zweckmäßigste und glücklichste wieder zusammenfinden. So jedenfalls erschien es uns bei der kompositorischen Umsetzung einiger seiner Gedichte.
Diese Schichten sind (a) der Klang, (b) die Bilder, (c) das Bekenntnis.
Die Klang- oder Laut-Schicht kann wiederum zerlegt werden in kontrapunktisch auffassbare Verläufe von Konsonanten und Vokale, oder gar noch feiner: von verschiedenen Familien, oder gar von einzelnen Lauten, etc., die anscheinend genau definierte rhythmische Muster in polyphoner Setzung und mit übergeordneten Tendenzen realisieren:
i i ai o o ü eh eh ɜ ɜ ɜ z s ʃ f f b d b |
"Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe ..."
Die angedeuteten Polyphonien sind immer sehr präzise disponiert, sehr klar in ihrer Schichtigkeit, und sie einzeln zu verfolgen immer ein befriedigendes kontrapunktisches Erlebnis.
Die Schicht der Bilder ist mit diesem Wort noch nicht präzise bezeichnet, denn es sind bei Rilke eben nicht Metaphern, bei denen eine Äußerlichkeit übertragen wird, oder als Illustration einer Innerlichkeit verwendet, sondern es sind Identitäten der Struktur:
"Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
ich kreise Jahrtausende lang."
Es sind konkrete Fakten, die hier nicht etwa willkürlich in-Eins-gesetzt werden, sondern als natürlicherweise identisch nur aufgewiesen:
"Und weiß nicht, bin ich Falke oder Sturm,
oder ein großer Gesang."
Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass die "Bilder" eben keine gesuchten Metaphern sind, sondern strukturelle Identitäten: Das Ich als physikalisches Phänomen begriffen IST dann ein "Sturm", zumindest "verhält sich genau wie" ein Sturm, und als "Gesang" bin ich nichts als die Konzeption meiner selbst mit den Mitteln meiner eigenen Seele.
"Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt"
ist eben nicht Metapher, sondern die realistische,
detailgenaue Beschreibung der psychischen
Situation des in die produktionstechnische Alltagswelt hineinkonditionierten
Menschen, der die ihm antrainierten Verhaltensweisen für die einzig mögliche
Wirklichkeit hält.
Es ist bei Rilke eben stets
derselbe strukturelle Mechanismus, der im Mensch wie im Panther
waltet, im Bild wie im Gemeinten.
Als drittes dann, Dichter, Welt und Hörer zusammenbringend, die
Schicht des Bekenntnisses.
Die Schicht der Bilder behauptet, die Welt präzise, zutreffend und nüchtern
nachzubilden und aufzudecken.
Die Schicht des Klanges versucht, dem Hörer ästhetische Schauer
zu vermitteln und durch die zwingende Logik ihrer Kontrapunkte die
Aussage der Bilder als wahrhaftig, zumindest als "wahrscheinlich zutreffend"
zu auratisieren.
Die noch hinzutretende dritte Schicht ist die des
persönlichen und programmatischen Bekenntnisses.
Sie ist erst auf einer Folie von hohem handwerklichen Niveau der beiden
vorangehenden möglich, ohne prätentiös und unangenehm zu werden (obwohl
in seinen schwächeren Werken ihm das durchaus unterlaufen kann !-)
"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn."
Dies ist nämlich genau die Beschreibung des oben dargestellten lyrischen Verfahrens mit lyrischen Mitteln, welches "die Dinge", die Welt in ihrer Konkretheit, als Aufgabenstellung künstlerischer Tätigkeit nimmt.
"Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ihn ihn."
Dies nun ist Programm, Trotz, Lebenshaltung und Bekenntnis: zur Tätigkeit des Dichtens als einer sinnvollen.
Selbstverständlich ist das ein Euphemismus: Ich werden den letzten
sicherlich nicht vollbringen, -- müsste es ehrlicher- und angemessenerweise
heißen. Allein schon wegen dem definitorischen Paradox:
wie sollte ein solch "letzter" zu erkennen sein?
Aber da es dem Versmaß nicht diente, darf, dank Schicht a), dem Klang, hier
ausnahmsweise die ironische Variante verwendet werden.
Und da das "Ich" eben nicht nur den Dichter, sondern auch den Hörer meint, "mein
Leben" eben auch "mein" Leben ist, ist der ganze Satz auch einer über Jeden, und
Leben legt sich allemal über die Dinge wie der Falke um den Turm kreist und
der Panther sich im allerkleinsten Kreise dreht.
Und jeder wird ihn immer wieder versuchen.
Versuchen müssen.
Um Dinge, Wille und Gott.
Und wieder hat sich ein Ring geschlossen.
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