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^inh 2012092300 | phaenomen |
Geschah es doch in Kassel, am 13.9.1997 in dem im Bahnhof gelegenene Ausstellungsbereich der documenta X, dass eine Dame in einem Raume, welcher überwiegend Fotografien an den Wänden enthielt und keine Skulpturen vermuten ließ, einen etwas entfernt im Raume sich befindenden Bekannten er- und anblickend und auf diesen zulaufend unversehens mit dem rechten Fuß auf eine in der Form einer Kreisscheibe mit ca. 100 cm Durchmesser ca. einen Zentimeter dick auf den Fußboden aufgebrachte Mehlschicht trat.
Diese war Teil einer Skulptur, deren anderer Teil ein relativ dicht darüber hängender Beleuchtungskörper war, in dessen ebenfalls kreisförmigen, allerdings nur ca. 30 cm durchmessenden und sehr exzentrisch angeordneten farbigen Lichtschein nun, seinerseits exzentrisch, aber mit noch genügend Abstand zum Rande, um ansprechend zu wirken, der Sohlenabdruck jener unglücklichen Person prangte.
Die Frage, was in diesem Moment geschehen war, -- historisches Ereignis, Sachbeschädigung, oder künstlerische Aktion, -- führt mitten hinein in die Diskussion der verschiedenen Werkbegriffe.
Quid est, quod factum est?
Es bieten sich vier(4) unterschiedliche Begriffe des "Kunstwerkes" an. Diese bezeichnen wir mit den Stichworten
und versuchen sie im folgenden näher zu erläutern.
Insbesondere unterscheiden sich diese Werkbegriffe in ihrem Verhältnis zur Zeit, was dieses Thema auch für senza⌒tempo relevant macht:
Eine weitere Verdeutlichung ergibt sich, wenn man die Jurisdiktion als Hilfswissenschaft heranzieht. Dies mag dem Anhänger der hehren Kunst leicht makaber erscheinen, ist aber einerseits in der Realität wichtige tägliche Praxis, und andererseits durchaus erhellend.
Nehmen wir an, der Veranstalter einer Ausstellung, die D-GmbH, kurz "D",
hat bei einem Künstler K ein Werk W käuflich erworben.
Der Einfachheit halber lassen wir Nebenabreden, das Urheber-Persönlichkeitsrecht,
Weiterverkaufsklauseln etc. allesamt ausser Betracht und tun so, als würde
hier das Eigentum an W in toto von K auf D übergehen.
Je nach dem zugrundeliegenden Werkbegriff hat dies ganz unterschiedliche
konkrete Konsquenzen:
Es sei nun durchaus zugestanden, dass in vielen Fällen einem gegebenen konkreten Werk nur eine Mischung dieser Werkbegriffe adäquat ist.
Die "Siebentausend Eichen" von Joseph Beuys z.B.
sind sowohl Idee als auch Aktion. Mehr noch aber sind sie Prozess, da sowohl
die Bäume als solche weiterleben sollen/müssen/werden, als auch die
Pflanzungsaktivitäten einen sozialen Lern-Prozess darstellen sollen.
Sie sind nur eine unserer Kategorien nicht; nämlich Gegenstand:
Eine individuelle Eiche kann, im Falle von Krankheit oder Tod, durch
eine gleich-alte ersetzt werden, ohne dass sich an Konzept und Werk
etwas ändert.
Man beachte: Dieser letzte Satz aber ist bereits unsere Interpretation dieses
Werkes, und andere, so z.B. sein Schöpfer selbst, könnten das durchaus anders sehen,
also "meta-physischer"!
Der "Vertikale Erdkilometer" ist selbstverständlich Aktion. Mehr noch ist er aber deshalb Gegenstand, weil man ihn gerade nicht sieht, aber genau weiß, dass er da ist! (Oder es jedenfalls zu wissen meint !-)
Die Laserskulptur auf der documenta 6 ist wohl eher Idee, keinesfalls Gegenstand. Aktion aber insofern als sie nur nachts stattfinden/existieren kann.
Der "Rahmenbau" ist Gegenstand. Mehr aber noch ist er Idee, weil er nur hier, genau hier die verschiedenen möglichen, aber in ihrer Gesamtheit wohldefinierten Bilder aus der Karlsaue schneidend, als genau dieses eine individuelle Werk funktionieren kann.
Nun, je nachdem, als was die Skulptur gemeint war, war das was im eingangs erwähnten Vorfall jene unglückliche Person ihr antat je etwas anderes:
Wenn das durch ihren Fußtritt berührte Kunstwerk ein Gegenstand ist, dann war ihre Tat Sachbeschädigung. Der Schaden aber könnte mit einem Esslöffel und einem feinen Küchensieb von einem geschickten Restaurator oder Konditor restlos beseitigt werden.
Wenn das Kunstwerk die Idee ist, das Rezept sozusagen, "Man nehme drei Pfund Mehl, eine Hängelampe und ein Küchensieb, ...", dann ist dem Werk garkein Schaden entstanden, nur die Arbeitszeit, die Herstellung zu wiederholen, wäre als Aufwand der Dame oder ihrer Haftpflichtversicherung in Rechnung zu stellen.
War es aber (nur) die Spur einer Aktion, die das eigentliche Werk darstellt ("Heute wird Herr K im Bahnhofsnordflügel Mehl verstreuen und Lampen aufhängen!"), dann ist wiederum das Kunstwerk garnicht tangiert! Das was da liegt war nur die "Spur" eines vergangenen Kunstwerkes, und sollte eigentlich garnicht ausgestellt werden!
Im selben Raume, wohl zum selben Werk gehörig, hingen aber auch
Lampen über Wachsblöcken statt über Mehlschichten, und brachten deren mittleren
Bereiche durch die ausgestrahlte Wärme zum
Zerfliessen, gleichförmig rund und schön, wie ein kristallklarer Bergsee.
Also könnte das Werk als ganzes auch durchaus aus Prozess gemeint sein.
Dann allerdings hätte der Tritt auf die Mehlschicht zwar eine
quantitativ deutlichere, aber prinzipiell nicht unterschiedene Funktion als
eine leichte Zugluft, nämlich deren Form im Laufe der Zeit zerfließen zu lassen,
der Kraft der Entropie ein Werkzeug zu sein, und der Fehltritt der
Besucherin wäre gar integraler Bestandteil der Wirkungsgeschichte des
Werkes!
Die Dame, ihren Fehltritt sofort bemerkend, wohl erfühlend, und durch entsetzte Zurufe noch zu warnen versucht worden, schrak förmlich zurück. Entfernte sich dann aber rasch und unauffällig. Wer möchte es ihr verdenken angesichts der aufgewiesenen Vielschichtigkeit der Situation?
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