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2016030700 | Quintparallelen |
2016030701 | Melodischer Topos: die geschachtelte Exclamatio |
^inh 2016030700 | phaenomen |
Quintparallelen bezeichnen zunächst eine satztechnische Situation, in welcher
zwei Stimmen gleichzeitig in dieselbe Richtung schreiten und dabei den Abstand
einer Quinte beibehalten.
Dies gilt seit der Neuzeit als satztechnischer Fehler, Q. sind "verboten".
Dies wird in Lehrbrüchern und Theorien
häufig begründet mit der angestrebten Selbständigkeit der Stimmen, die beim parallen
Fortschreiten in einem derart konsonanten Intervall nicht mehr gegeben sei.
Was dem widerspricht sind die vielen parallelen Terzen und Sexten, bei
denen von Selbständigkeit auch nicht die Rede sein kann. Diese sind aber nicht nur nicht
verboten, sondern in der überwältigenden Mehrzahl der Epochen sogar der Gold-Standard der
gleichgerichteten Stimmführung.
Eher schon könnte eine historische Abgrenzungsbemühung dahinterstecken: im Mittelalter sind Quintführungen als sog. "Organon" durchaus üblich, neben solchen in Quarten und Quartsextakkorden. Diese Epoche wird als überwunden und barbarisch empfunden, und in der Renaissance durch die Stimmführung in Terzen, und ggfl. Quarten, abgelöst.
In der Tat ist es so, dass die skalenweise fortschreitenden Folgen der "unvollkommenen Konsonanzen" wie der Terz dialektischerweise ein buntes, abwechslungsreiches und lebendiges Erleben vermitteln, bei gleichzeitig höchstmöglicher Einheit der formalen Bestimmung: es wechseln sich z.B. im Falle der Terz- oder Dezimparallelen nämlich in leichter Unregelmäßigkeit große und kleine Intervallform ab, während tatsächlich dieselbe Tonleiter gerademal zwei Anschläge verzögert mit sich selbst kontrapunktiert wird.
Auch J.S.Bach wies im Tonsatzunterricht seine Kinder darauf hin, dass nie zwei Quinten aufeinanderfolgen, da dies "üblen Klang ergibt".
Als Varianten des direkten stufenförmigen Aufeinanderfolgens gibt es sog. verdeckte
Parallelen, für deren Verdammung es reicht, dass gleichgerichtet in eine Quinte
übergegangen wird, die Quinte also nur am Ziel der Fortschreitung auftritt, nicht am
Ausgangsklang.
Das kann übrigens nicht durch eine einfache Oktav-Versetzung des Ausgangsklanges
vermieden werden, auch dies kann als "verdeckte Quinte" angestrichen werden.
Ähnlich der Q. werden Einklangs- und Oktavparallelen definiert und als Satzfehler betrachtet.
Interessanterweise werden meist nicht als falsche Stimmführung angesprochen solche, die rein durch Lagenwechsel enstehen, ohne dass der Akkord sich ändert. Es wird dann angenommen, dass ja überhaupt keine Stimmführung vorliege, sondern lediglich eine dieser (sowohl erstellungs- und als auch rezeptionstechnisch) nachgeordnete "Instrumentations-Maßnahme". So kann aber erst in "Misch-Stilen" von "Spät-Epochen" argumentiert werden, in denen Stimmführung und akkordische Setzung nebeneinander und miteinander existieren, wie es am meisterlichsten bei J.S.Bach ausgeprägt ist, siehe z.B. unsere Analysen der Akkordstrukturen in der Sinfonia im Weihnachtsoratorium.
Eine andere, speziellere Ausnahme sind die Hornquinten: die Oberstimme schreitet, die Unterstimme springt in die Quinte. Dem sind wir als ein typischer Satz in Blechbläserfamilien gehörsmäßig dermaßen gewohnt, dass es nicht nur nicht stört, sondern stets eine bestimmte Aura von Wald- und Posthorn beschwört und geradezu heimathlich anmuthet.
Die nun aber dennoch tatsächlich in den Partituren der großen Meister auftretenden Q. können wir in zwei Gruppen zerlegen: zum einen die Fälle, wo die Q. einfach "nicht stört", nicht weiter auffällt, durch den Kontext verdeckt oder vermittelt wird, eine aus anderen Gründen (z.B. der Melodie) natürliche Lösung darstellt und so einfach gegen die Regel verstoßen wird, da diese Regel in diesem Falle ihre Anwendbarkeit mit ihrer Begründung schon längst verloren hat.
Die zweite Gruppe jedoch sind Fälle, wo die Q. bewußt und deutlich gesetzt ist, und sich der Verdacht auf eine gemeinte Sematik dieser Setzung erhebt.
Bei J.S.Bach gibt es in beiden Gruppen eine überraschend hohe Zahl von Beispielen.
Das Dreistimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer zeigt zehn Themeneinsätze in den Gruppierungen 3+3+1+3. Diese werden getrennt durch systematisch sich erweiternde Zwischenspiele, die mit den Stilmitteln von Diminution, Abspaltung und zunehmender Chromatisierung sich "klassischem Durchführungscharakter" annähern, mit einer deutlichen "Reprisenwirkung" der letzten Gruppe, wie an anderer Stelle diskutiert.
Ab dem vierten Themeneinsatz tritt ein kadenzierendes Motiv K immer mehr in den Vordergrund: ab dessen vorletztem Takt, über das gesamte folgende Zwischenspiel, und den gesamten fünften Einsatz erklingt es pausenlos. Es ist eine deutliche Kadenzbewegung in Halben: der erste Schwerpunktton liegt in seiner Mitte und wird erreicht durch eine umspielende doppelschlagähnliche aufsteigende Dreiton-Skala, gefolgt von einer absteigenden Skala, die sich am Schluss nach oben oder unten wenden kann.
Der Auftritt im Bass in Takt 65 ist der vierzehnte und letzte der ersten
lückenlosen Folge von K und
mündet in einen vollständigen Tonika-Dreiklang. Im folgenden Zwischenspiel wird K noch
zwei-einhalb mal erklingen, allerdings um eine Halbe im Takt verschoben.
Dann wieder dreimal am Schluss von Themeneinsatz sechs; zwei-einhalb im Zwischenspiel,
wieder verschoben;
dreimal bei Themeneinsatz sieben. Dann langes Zwischenspiel, Fehlen von K bis auf
zweimal bei Takt 113, zunehmende Chromatisierung, dann "Reprise".
Da wieder eine lückenlose Folge von siebzehn Einsätzen beginnend mit
Takt drei von Themeneinsatz acht, bis zum vorletzten Takt von Einsatz neun.
Durchgehend, wenn auch mit Variantenbildung.
Zuletzt neunmal, beginnend mit Takt drei des letzten, zehnten Themeneinsatzes.
Immer dann wenn K oberhalb von Takt sechs des Themas erklingt, also dem dritt-letzten Takt mit den chromatischen Vierteln, dann entsteht eine durchaus deutliche und auffällige Quintparallele. Das erste Mal in Takt 64, siehe "Q" in obigem Notenbeispiel: r.Hd. des+a geht nach c+g.
Dies geschieht im dreizehnten Auftreten des Kontrapunkt-Motivs K: die vierzehn sind also Jesus, seine zwölf treuen Jünger, und Judas der Verräter. Oder etwas ähnliches. Allemal auffällig und bewußt so gesetzt. Denn allemal überflüssig: In Takt 64 hätte die Oberstimme auch eine Sexte höher verlaufen können, oder, wie in Einsatz acht (Takt 146), K einfach UNTER das Thema gesetzt werden können, was unproblematische Quarten ergäbe.
Aber genau dreimal WILL der Meister diese falsche Parallele, nach Einsatz fünf auch noch in neun (Takt 158) und zehn (Takt 174). Die dritte Stimme bringt jeweils die Terz, sodass in der Falschheit die Vollständigkeit liegt. Beim ersten Mal in weitester Lage darunter (siehe obiges Notenbeispiel), beim letzten Mal darüber, beim mittleren Male Takt 158 aber genau in der Mitte (was auch mit Hand-Verflechtung zu spielen ist, bitteschön!)
Anton Bruckner hat sich, bei aller Kühnheit und Avanciertheit von harmonischer Abfolge-Logik und Klang-Komplexierung, doch immer dem klassischen Satzideal verpflichtet gefühlt. Regeln wie das Quintparallelen-Verbot waren ihm "zweite Natur". Um so deutlicher ist programmatisch gemeint der deutliche Verstoß in seinem allerletzten vollendeten Satz, dem Adagio der Neunten Sinfonie:
Es gibt ein Zitat das diese Stelle als "Offenbarung der himmlischen Herrlichkeit" bezeichnet. Das kommt dem Höreindruck nahe! (Leider hat Verfasser das LINK dazu verloren.-()
Wenn man bedenkt dass die Kontrabässe den im Notenauszug erscheinenden Bass eine Oktave tiefer verdoppeln, dann erschließt sich diese Stelle als "Organon": es liegt mitnichten ein Stimmführungsfehler vor, sondern es ist ein Quint-Spektrum was sich da verschiebt. Es sind die Partialtöne des ewigen Vierundsechzigfußes, die hier nachgebildet werden. Es wird das Fundament der Welt selber zum Erklingen gebracht: in der Höhe herrscht das himmlische Entzücken, -- Gott aber lauert in der Tiefe. Und der kann gar keine Fehler machen, per definitionem.
Im Werke Gustav Mahlers wimmelt es von Quint-, Oktav- und Einklangsparallelen.
Interessanterweise hat er sich selber diese zum Vorwurf gemacht, und doch
hunderte davon produziert.
So schreibt er z.B. in die Partitur seiner Zweiten Sinfonie
an die Quintparallelen dritter Satz, T.226 (fis+cis'')-(g+d'') den Kommentar
"sind verboten, ich weiß (Anmerkung für Preisrichter)"
Diese aber sind von o.e. "Kategorie eins", schlicht unauffällig und wenig störend,
Er läßt aber eine Fülle von viel auffälligeren Quint- Oktav- und Einklangsparallelen im selben Werk kommentarlos stehen, so Finale, Fanfaren T.33-34, Choräle ab T.143 und T.624, T.631, Satzhöhepunkt T.718, T.719, etc. Genannte Stellen sind sowohl klanglich viel deutlicher als auch von architektonischer Relevanz für das Gesamtwerk, (also aus o.e. zweiten Kategorie), siehe deren genauere Betrachtung in unserer Analyse des Finales von Mahlers Zweiter .
Man vergleiche auch die in unserer Analyse des ersten Satzes der Dritten Sinfonie im Anhang beigegebene Liste von Stimmführungsauffälligkeiten.
Dieses Phänomen und die dadurch aufgeworfenen Probleme werden grundsätzlich diskutiert von Seb. Sprenger in [sprenger_mahler]. Diese Arbeit erwähnt auch (in ihrem "Beispiel 29") die Q. in der zweiten Themengruppe des Finales der Neunten Sinfonie.
Einen Aufschluss über die Bedeutung dieser Fülle an "Satzfehlern" bei Mahler kann vielleicht eine andere Stelle deselben Satzes geben, an der Quintparallelen sogar als Höhepunkt des Satzes explizit, ja triumphal herausgestellt werden, obwohl sie leicht vermeidbar gewesen wären:
Trompeten, Hörner und Posaunen realisieren Sopran, Alt, Tenor im Fortissimo. Deutlich in den Oberstimmen die aufwärtsspringende Quintparallele as'+es'--des'+as'' beim Übergang auf Takt 120 (die Pause heilt da garnix !-); deutlicher noch beim nächsten Taktstrich die mit dem letzten Sechzehntel abwärts schreitende des'+as''--ces'+ges''.
Die zweite Q. hätte z.B. einfach vermieden werden können indem das des-eins durch ein
klein-b ersetzt wird. Dies aber hätte die "archaische Wucht" dieser Stelle durchaus
zu einer funktionalharmonisch vermittelten Kadenz verwässert.
Ein solches Experiment zeigt deutlich, dass die Q. bei Mahler oft
klangliche Funktion haben, also in o.e. zweite Kategorie fallen.
(Die von ihm selber in der Partitur der Zweiten angemerkte hingegen fällt lediglich in die
erste, sie "stört einfach nicht" eine durch Motivik definierte Stimmführung.)
Diese "programmatischen" Q. bilden ein
explizites Gegenstück zur gewohnten, weichen, konventionellen, verflachten und
komsumptiven Terzen-Seeligkeit, verweigern sich dieser, klingen herüber aus
"Urväter Zeiten", und vollziehen also nochmals einen historischen und semantischen
Bruch, wie es das Quintparallelen-Verbot vierhundert Jahre vorher getan, nun aber
in die entgegengesetzte Richtung.
[sprenger_mahler]
»Winkelschiefe Satzkunst« Zu einigen Quint- und Oktavparallelen im Werk Gustav Mahlers in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, München, 2003 ISSN 1612-8516 http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/485.aspx |
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Als Exclamatio bezeichnet man eine melodische Figur aus drei Tönen: eine aufsteigende kleine Sexte, die in die Quinte aufgelöst wird. Also ein Sprung in einen Seufzervorhalt, eine tieftrauriger melodischer Topos, vielleicht der traurigste überhaupt, definiert in der barocken "Figuren- und Affektenlehre".
Die für den Verfasser beeindruckendsten Beispiele finden sich (zum ersten) in der Einleitung zum zweiten Akt des Lohengrin, im folgenden Auszug markiert mit Klammer und "X":
Davor noch (zweitens) das Ende des dritten Themas des Adagios aus Bruckners Sechster, einem eindeutigen Trauermarsch:
Der Entwicklungsprozess kann nur tragisch genannt werden: aus den kleinen Sekunden der absteigenden Chromatik entfaltet sich langsam die Sekundmelodik, zwar diatonisch, aber immer noch mit deutlicher Vorrang der kleinen Sekunde. Höhepunkt ist die "befreite" Akkordbrechung in Takt 65, die gleichsam triumphal die Quarte in beide Richtungen sich behaupten läßt, ehe sie, die Punktierung resignativ aufgegeben zum Doppelschlag-Vorschlag in Takt 66 dann das größte Intervall erreicht, die kleine Sexte, welche aber dialektischerweise keine eigen Kraft entfaltet, sondern nur dazu dient, die abschließende Seufzer-Auflösung umso deutlicher als Endpunkt herauszustellen.
Hier hört man sehr schön, wie die "reine" Exclamatio nach all der düsteren Chromatik zwar traurig wirkt, aber doch seltsam heroisch: das ces-b ist eben nicht der harmonisch tiefststehende Seufzer, sonder fes-es und heses-as sind deutlich tiefer. Es siegt am Schluss die resignative Einwilligung, und die ist schon ein erster Schritt zu Erlösung.
Interessant auch dass beide Stellen die Exclamatio zweimal setzen. Bei Wagner kehrt sie im Laufe der ersten Szene wieder (auch so verdoppelt) bei Ortruds angeblicher "Zukunfts-Weissagung"; auch bei Bruckner bekommt sie den Charakter eines "Siegels", aber subtiler vermittelt, nämlich aus formalen Gründen, weil nämlich mit dem wiedereinsetzenden A-Teil Takt 69 die Exclamatio sich zwar als der Endpunkt des Trauermarsches erweist, aber auch gleichzeitig als Umkehrung des Hauptthemen-Kopfes ("XU" = Sexte abwärts in der Unterstimme T.69 ff) der hier deutlich erkennbar wieder einsetzt. Allerdings, wie sich Takt 93 erst herausstellen wird, in einer Art Scheinreprise.
((EXKURS zum Thema Quintparallelen: das auftaktige klein-es im Tenor in T.66 könnte sogar auf das letzte Achtel verspätet werden, ohne dass eine Quintparallele auftritt, da der Schritt ces-b im Alt ja in Wahrheit schon längst vollzogen ist, nämlich an der Taktmitte!))
Im eigenen Werk wollte Verfasser all das natürlich "toppen". Getreu seiner damaligen Überzeugung, dass wahre Ein- und Ausdruck nur durch Kontrapunkt zu erzielen ist, und getreu dem Minimalismusprinzip, bloß keine freie Gegenstimme grundlos zu erfinden, so lange die Themen sich noch gegenseitig oder gar selbst begleiten können, setzte er folglich in seiner f-moll-Sonate op.3 die Exclamatio mit sich selbst in den Kanon:
Eine deutliche Abweichung ist (a) die Umfaltung der kleinen Sexte zur großen Terz, -- damit entlarvt sich das Grundmotiv der gesamten Sonate als Exclamatio. Desweiteren (b) kann die kleine Sekunde durch die Terz ersetzt werden, die entspricht einer tonalen Beantwortung im Sinne der Fugentechnik, die für das gesamte Werk konstitutiv ist. Ähnlich im weiteren Verlauf der Df:
Sehr befriedigend für den Verfasser war, als er später feststellen dürfte, dass in einem Gipfelwerk unserer Kultur, der Kunst der Fuge, ein sehr ähnliches Problem der Lösung wert gefunden wurde. Der wichtige, nachkomponierte (siehe [zacher_cp4]) Contrapunctus IV zeigt nämlich ebenfalls geschachtelte Exclamationes, die hier das letzte Wort haben sollen:
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