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Gedanken zu Mauro Hertig Höranalyse

Wir lasen das jüngst veröffentlichte Buch von Mauro Hertig Höranalyse -- Neue Werkzeuge der musikalischen Wahrnehmung [Hertig19].

Das erfreulich konzentrierte Werk (ca 110 Seiten) beschreibt zunächst Erfahrungen mit analytischen Zugängen zu Musik, die mit Laien oder Schülern durchgeführt wurden und sich rein auf den hörenden Zugang beschränkten, entwickelt daraus eine Theorie dieses Zuganges und stellt weitergehnde Forderungen auf nach einer Neuverteilung der Gewichte bei der Musikanalyse zwischen Lesen (von Notation/Partitur) und Hören.

Der erste Teil gefällt ausnehmend gut (Das "Aber" kommt aber später !-): Der Autor nimmt vor eine penibel-genaue und überzeugende Beschreibung des Ablaufes von (mehrfach wiederholten) Hörerlebnissen und der daraus schrittweise resultierenden substantiellen Erinnerung, dem mentalen Modell, das er "Hörbild" nennt, und findet für beides eine anschauliche Darstellung als Graphik.

Den Ablauf verstehen wir zusammengefasst so:

  1. Es gibt immer eine bestimmenden, leitenden Aspekt des Hörens. Dem folgt das bewusste Hören, während alle anderen Aspekte auch wirkmächtig sind, aber unterbewußt.
  2. Der Hauptaspekt wird beim wiederholten Hören deutlich verbreitert,
  3. Bei weiteren Wiederholungen treten weitere Aspekte hinzu. Diese richten sich aber aus "parallel" zu dem Hauptaspekt und werden auch nicht ganz so breit.
  4. Jeder Aspekt geht irgendwann vom Sich-Entwickeln (gemalt mit Pfeilspitze) in einen stabilisierten Zustand (ohne diese) über.
  5. Die Hierarchie der erlebbaren Zustände bleibt weitgehend konstant für eine Hörerin, sobald einmal etabliert.

Rezensent meint, wenn er in sich hineinspürt, in seinen eigenen Hörerfahrungen und -bildern genau diese Abläufe und Strukturmerkmale wiederzuerkennen: Er war in seiner Jugend ein großer Fan von Gustav Mahler, und hatte dessen Sinfonien immer als überaus kontrapunktisch erlebt (Punkte 1 und 2). Als er nach ca. zwanzig Jahren Pause davon einiges wieder hörte, war er sehr enttäuscht, da er das meiste davon nicht mehr als Poly- sondern nur noch als Heterophonie empfinden konnte. Nach einer Weile zeigten sich dann allerdings wieder alte und neue Nebenaspekte wie emotionaler Gehalt, Klangfarben, etc., nach Punkt 3. Aber es hatte tatsächlich der langen Pause bedurft um diese Haupt-Achse zurückzusetzen und neues Erleben zu ermöglichen (Punkt 5!).

Bis hierhin sind also die Ausführungen Hertigs eine sehr zutreffende, genaue und in dieser Form wahrscheinlich sogar bahnbrechende Beschreibung der inneren Wirkungsweisen beim Hören und der Mechanismen beim Aufbau eines "mentalen Modelles".

Weiterhin meint er, dass "konventionelle Analyse" und "akademische Musiktheorie" vollständig vom Primat des Notates determiniert sind, sich von den konkreten Erlebnissen der Hörer weit entfernt haben, diese also weder betrachten noch ernst nehmen, dass sie das bloße Mittel (das Notat) verwechseln mit der Substanz (der Musik), die zu analysieren eigentlich ihre Aufgabe wäre, und dass beide ersetzt oder zumindest ergänzt werden müssen durch neuartige Untersuchungsverfahren, die auch die Erfahrungen von nicht-notierenden Rezipienten und die auch in professionellen Hörerinnen vor-notationell ablaufenden Wahrnehmungs- und Wirkungsprozesse in dem Mittelpunkt der Betrachtung stellen.

Auch in diesem Punkt meinen wir, ihm grundsätzlich zustimmen zu müssen.

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Aber es gibt, wie angekündigt, unsererseits doch einige Einschränkungen, wenn nicht Einwände:
Zunächst geht vorliegende Schrift fraglos davon aus, dass Musik daist, um gehört zu werden. Das ist fraglos oft der Fall. Aber nicht ausschließlich. Die wichtigsten Anwendungen von Musik sind u.E.

  1. gehört werden,
  2. gespielt werden,
  3. gelesen werden,
  4. gesehen werden,
  5. zelebriert werden,
  6. erinnert werden.

Es scheint uns zweifelsfrei, dass besonders viele Werke der Literatur für Solo-Instrumente, besonders für Klavier, sich an die Interpretin wenden und eben nicht an eine Hörerin. Dass das höchste Maß an Genuss und Erkenntnis über die Positon der Finger vermittelt wird, das Be-Greifen durch das Greifen, das Nachvollziehen, die Aufklärung, die Wirkung, ja, die emotionale Ergriffenheit in erster Linie über das Nach-Schaffen und das Mit-Denken. Bachs Inventionen, das gesamte WC, aber vielleicht auch die Beethovenschen Klaviersonaten richten sich an den Spieler, teils ja sogar explizit in Vorwort und Widmung, allemal aber in historischer Praxis. In diesem Falle könnte der Apparat des "Hörbildes" zu einem des "Spielbildes" transformiert werden, was u.E. keine grundsätzlichen Schwierigkeiten bietet.

An eine "Spielerin" sich richtend richtet Musik sich dann zwangsläufig auch an eine Leserin. Das Lesen kann sich dann vom Spielen lösen und nicht nur beim "Trockenüben" sondern auch auf Reisen zur Entspannung oder vorm Einschlafen zu Erbauung und Erkenntnisgewinn dienen. Musik-Notation wird dann zum "Text" im engeren Sinne, zu einer ein- bis dreidimensionalen Zeichenfolge, die auf ein dahinterliegendes mentales komplexes und mehrdimensionales Gebilde (= das "eigentliche Werk") nur hinweisen kann. Auch das "reine Lesen" ist also unter Umständen eine durchaus adäquate und eigene Rezeptonsweise von notierter Musik. Aber auch tatsächlich nur eine von vielen.

Diametral entgegen steht das "Sehen" von aufgeführter Musik, wo Lagenwechsel und Saitensprünge besonders im virtuosen Stile im sportiven Sinne faszinieren, aber auch als parallele Komponente der Wahrnehmung formale Erkenntnisse verdoppeln und unterstützen können (abschließene mehrfache Oktavsprünge an Df-Höhepunkten von Klaviersonaten, o.ae.), oder gar wichtige emotionale Substanz transportieren ("Hammerschlag" in Mahlers Sechster).

Zelebration ist wieder eine ganz andere Situation: die katholischen wie die fußballérischen Antiphone ("Wir werden ewig leben! -- Eisern Union! Eisern Union!") sind für die außenstehenden Hörer vielleicht eher peinlich, für die mittuenden Gläubigen aber befreiend.

Allerwichtigste Verwendung von Musik ist aber u.E. das Erinnern, womit wir uns wieder dem hier besprochenen Buch annähern: Das "Hörbild" als die "Summe aller gehabten Erlebnisse mit dem Werk" kann nämlich (unserer konkreten persönlichen Erfahrung nach) als Teil der inneren Wirklichkeit in den verschiedensten Zeitformen realisiert, "vor-gestellt" werden: Vom diachronen temporichtigen Wieder-Abspulen des Gesamtklanges über das zeitgeraffte Empfinden von bloßen Stimmungsverläufen bis hin zur Kompression der Empfindung des gesamten Werkes in einem einzigen Zeitpunkt, der das gesamte Erleben gleichsam "punktförmig" zusammenfasst. 1
Ja, noch jenseits eines zeitgerechten diachronen Nacherlebens ist sogar ein verlängertes, verlangsamtes Nacherleben durchaus häufig: Wenn nämlich vom Werk Sequenzmodelle und harmonische Fortschreitungen präsentiert werden, die der Hörer im Nacherleben öfter durchläuft und aneinanderhängt als im Original. So wirkt z.B. die Sequenzierung des Walhall-Motives im Götterdämmerung genau deshalb im Nacherleben oftmals viel länger als der Notentext, wie analysiert in senza tempo 2013082301. Dieser Effekt wirkt besonders oft auch auf klassischen SHS-Durchführungen, die sich im erinnernden Nachhören ad infinitum verlängern lassen.

Wir möchten sogar soweit gehen, all diese durchaus unterschiedlichen Formen der Erinnerung, der "Erinnerungs-Arbeit", als die bei weitem wichtigste Funktion der musikalischen Kunstwerke zu bezeichnen. Um so bedeutender wäre dann die Analyse der "Hörbilder", die ja genau die "Substanz" dieser Wahrnehmungsweisen darstellen.

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Sei also zugestanden, dass wir Musikrezeption hier auf das Hören und das Erinnern beschränken. Dann möchten wir zwei weitere Aspekte zu bedenken geben:
Zunächst einmal hat der Autor wohl recht, wenn er das in der musiktheoretischen Praxis durchgängig herrschende und stärkstmöglichst ausgeprägte "Primat der Notation" als dem Ernst-Nehmen des Hörerlebnisses nicht adäquat anprangert. Aber man möge doch bitte zugestehen, dess es grundsätzlich durchaus möglich ist, das Notat, die Partitur heranzuziehen, ohne die Autonomie des Hörers zu verletzen:
Es kommt dabei entscheidend darauf an, wie man die Noten liest, resp. was man aus ihnen ablesen will. Wenn die Analysierende sich einen Hörer vorstellt und mit diesem diachron das Erleben "simuliert", versucht es nachzuvollziehen und in seiner Wirkung zu verstehen, kann ein Notentext genau das Richtige sein, um Hörmechanismen, -weisen und -gewohnheiten, oder gar diesbezügliche Intentionen der Komponistin aufzuweisen. 2

Dies ist eine ganz andere Art der Verwendung des Notentextes als eine "produktionstechnische Analyse", deren Logik nicht der Wahrnehmungs-Zeit sondern der Produktions-Zeit folgt:
Man stelle sich vor eine komplexe, mehrstimmige Fläche in schnellen Notenwerten. In dem einen Werk sei diese aus einer gegebenen Zwölftonreihe konstruiert, auf die dermaßen vielfach geschachtelte und potenzierte Transformationen angewandt wurden, abwechselnd auf den Gesamtablauf oder auf Teilstücke, dass das Ausgangmaterial im Resultat völlig unkenntlich ist.
In einem anderen Werk ist eine zum Verwechseln ähnliche Vordergrundgestalt durch die Formung und Filtrierung von zufälligen Werteverläufen aus randomisierten Tabellen oder algorithmischen Zufallsgeneratoren erstellt worden. Bei einer "konventionell-notenorientierten" Analyse können im ersteren Falle eventuell, mit sehr viel Aufwand, die ursprüngliche Zwölftonreihe und die Ableitungsregeln rekonstruiert werden, "herausanalysiert". Im zweiten Falle hingegen kann über die Art des Zufallsgenerators höchstwahrscheinlich niemals irgend eine präzise Aussage herausgelesen werden.
Wir erhalten also zwei völlig unterschiedliche Analyseergebnisse, während für die Hörerin in beiden Fällen ein sehr ähnliches Erlebnis statthaben wird, nämlich ein Eindruck von "größter Variabilität bei gleichzeitig organisch sich entwickelndem, zwangsläufig anmutendem Zusammenhang", oder ähnlich.

Man kann diesen Widerspruch aber auflösen und damit den vom Autor behaupteten Grundkonflikt zwischen Noten- und Hör-Analyse entschärfen, wenn man sich klarmacht, dass eben oft schlichtweg verschiedene ontologische Schichten desselben Werkes analysiert werden, wenn man "nur liest" oder "nur hört". Welche von diesen die wichtigere ist, mag Auffassungssache sein (wobei wir durchaus der Meinung des Autors zuneigen), -- dass aber das Wissen um die Produktionsweise das Wissen um die Wirkungsweise nicht ersetzen kann, und sich auch nicht als überlegen gerieren sollte, scheint uns evident.

In diesem Sinne können wir dem Autor des Buches "Häranalyse" nur rechtgeben und in der Absicht bestärken, (a) den hörenden Zugang zu Werken als eigenständigen und gleichberechtigten aifzufassen, (b) in diesem Bereich systematisch neue Werkzeuge, Methoden und Strategieen zu entwickeln, und (c) dabei auch "den ungebildeten Laien" (der ja in seinem persönlichen Umgang mit Musik schon dem Begrife nach nie "ungebildet" sein kann) eine deutlich stärkere Stimme bei den Aussagen über einzelne Werke, Stile, Epochen und die Musik als Ganzer zu verleihen, und dies bezüglich Wirkungsweisen, Ausdruck, Struktur und trans-musikalischem Gehalt.

[Hertig19]
Mauro Hertig
Höranalyse -- Neue Werkzeuge der musikalischen Wahrnehmung
Wolke Verlag, Hofheim, 2019
ISBN 978-3-95593-096-7


1 "Trotzdem ich nur eine sehr bescheidene kompositorische Schaffenskraft mein Eigen nennen darf, so kann ich doch von dem [...] inspirierenden Moment berichten, in welchem ich alles, was in Wirklichkeit aufeinanderfolgt, in einem Augenblick höchster Intensität innerlich gleichzeitig höre. Das ist ein unbegreifliches metaphysisches Phänomen.", so von Alfred Lorenz beschrieben [lorenzRing, S.292], und dem Rezensenten selbst als Jugendlichem mit Mahlers Dritter, Erster Satz unvergesslich so ergangen.

2 Siehe dazu z.B. unseren Versuch einer rein phänomenologischen Analyse von Mahler III/1 bei senzatempo.de/mahler.


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