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2017121400 Kontrapunkt: Unabdingbare Substanz oder reizvolle Zugabe?
Bach vs. Beethoven, ein deutlicher Unterschied im Detail
2017121401 Was fand Bruckner nur an Wagnern?
Des Meisters Begeisterung weist andere Hörwege

^inh 2017121400 monograph
Kontrapunkt: Unabdingbare Substanz oder reizvolle Zugabe?
Bach vs. Beethoven, ein deutlicher Unterschied im Detail

Nungut, die im Titel vorgenommene Gegenüberstellung ist übertrieben: Selbstverständlich ist auch bei Beethoven die kontrapunktische Satzweise konstitutiv und unverzichtbar für Aussage und Wirkung, Architektur und Funktionieren vieler Werke. Je später, je mehr. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied in der Stellung zu der kontrapunktischen Satzkunst. Bei Beethoven wird sie in gewisser Weise schon als "historisches Meta-Ereignis" aufgefasst, und es wird bewußt damit gespielt, dass das der Hörer auch so empfindet! Die Wahrnehmungs-Weise kontrapunktischen Satzes wird zu einer "Klangfarbe", und würde man sehr streng sprechen, könnte man sagen "wird unzulässigerweise zu einer bloßen Klangfarbe degradiert."

(Ähnliches wird später z.B. in den Meistersingern geschehen, am Ende des ersten Aktes, wenn Stolzing sich einen Stoff wählen soll, und die kanonisch-fugierten Begleitfiguren die Engstirnigkeit und Festgelegtheit der beurteilenden Richter evozieren sollen.)

Die kann man an einem einfachen Detail nachweisen:
Das Finale der Hammerklaviersonate op.106 ist bekanntlich eine "ganz normale, einfache durchgehende dreistimmige Klavierfuge".
(Selbstverständlich ist es das nicht, sondern etwas ganz anderes, etwas Transzendierendes, Aufregendes, Super-Neues. Aber erst einmal behauptet es das von sich selbst !-)
(Wir empfehlen die Aufname [wang] als zwar recht konventionell, aber sehr leidenschaftlich und dennoch durchsichtig und formal verständlich.)

Es gibt eine sehr interessante Präsentation von Herrn András Schiff [schiff]. Dort wird nett nachvollziehbar vorgeführt, wie Beethoven in den äußerst klar abgegrenzten, aber beim ersten Hören vielleicht nicht sofort erkennbaren einzelnen Abschnitten dieser Fuge nacheinander und mit Steigerung verschiedene kompliziertere Varianten der Satztechnik anwendet; diese sich zunächst kontrastierend abwechseln läßt, später gar kombiniert, wie Umkehrung, Engführung, Doppelfuge, etc.

Darunter ist auch einen Abschnitt mit Augmentation, recht früh, bereits ab T.96. Das heißt, es passiert grundsätzlich nichts anderes als sonst, aber alles doppelt so langsam, Achtel statt Sechzehntel. Was sich ändert ist der äußere Ausdruck, was sich NICHT ändert ist der innere Gehalt. So etwas ist bei Bach unmöglich! Denn seiner Satztechnik ist die Geschwindigkeit des Spielens egal: Was da kürzester Sechzehnteldurchgang ist, kann genauso als halbe-Pfundnote gespielt werden, und es ändert sich weder die satztechnische Korrektheit noch der tiefer-liegende, innere Ausdruck.
Bei Bach wäre eine so verwendete Augmentation nur eine Änderung der Notations-Methode, das Tempo als solches interessiert ihn nicht. Jedenfalls nicht beim Komponieren, -- es entsteht viel später beim Interpretieren. Und zwar "zwangsläufig", als "das natürliche".
Bei Bach tritt eine Augmentation eines Themas nur dann auf, wenn sie gegen das nicht-augmentierte Thema kontrapunktiert wird. Siehe die vielen Beispiele im Wohltemperierten Clavier und Cp VI und Cp VII in der Kunst der Fuge (Gräser-Zählung).
Einen "Krebslauf", wie ihm in der Hammerklaviersonate auch ein ganzer Abschnitt gewidmet ist (T.153-ca.T.181), gibt es in Fugen bei Bach garnicht, weil er nicht nachvollziehbar ist, -- nur in den Kanons des Musikalischen Opfers, wo sie durch die Aufgabenstellung selbst als hörbar vermittelt werden.

Ebenso mit der Umkehrung: in Beethovens op.110 besteht die Final-Fuge bekanntlich aus zwei Teilen: der zweite beginnt mit der Umkehrung des Themas. Dieser Einsatz, nach dem eingeschobenen "Lamento", ist zweifellos einer der kosmischen Momente der Musik-Geschichte, kündet von einer jenseitigen Wahrheit und ist eine der wenigen wirklichen Tröstungen der gesamten Klavierliteratur. ABER er nimmt eben nicht die Kontrapunktik als solche ernst: Eine Fuge über ein Thema zu schreiben ist genauso schwer oder leicht wie über das umgekehrte Thema (siehe Cp I,II,III,IV). Es wird kontrapunktisch erst dann relevant, wenn Original und Umgekehrung irngendwo gleichzeitig erklingen, "enggeführt" werden, wie es dann in den Cp V-VII "nachgeliefert" wird.
Genau das passiert aber bei Beethoven op.110 nicht. Der Fakt der Umkehrung allein des Themas wird zur "Sensation" hochstilisiert. Mit Recht und gutem Grund. Aber nicht mit kontrapunktischem! Genau wie bei der o.e. Augmentation ist der Zweck ein rein äußerlicher, trans-musikalischer.

Überhaupt ist auch schon die erste Durchführungsgruppe gar kein Fugen-Ereignis (op.110, "Fuga", T.27):

Anfang der Fuge Beethoven op.

Auf allen vollen Schlägen stehen nämlich parallele Dezimen. Das Gegenteil von kontrapunktischer Bewegung, von selbstständigen Stimmen. Die eingestreuten Achtel aber erwecken "die Illusion", "die Anmuthung", "die Farbe" von kontrapunktischer Arbeit.
Ein deutliches Meta-Phänomen, welches mit der Erwartung und Hörgewohnheit der Rezipienten bewußt spielt.

Interessanterweise tut Bach das auch, wenn er ganze Sätze ("Confiteor uno baptisma" etc.) im "stile antico" setzt und damit "mittelalterliche Versenkung" anmahnt. Aber er nimmt diesen Stil als solchen dann auch ernst und führt ihn ernsthaft durch, und täuscht nicht Dinge vor, die garnicht dasind!

[schiff]
András Schiff
Lecture on the Hammerklaviersonate (Engl.)
in: The Guardian, london, 2006
http://download.guardian.co.uk/sys-audio/Arts/Culture/2006/12/13/04-29_bflatmaj_106_2.mp3
[wang]
Yuja Wang
Yuja Wang @ Carnegie 2016 Beethoven Hammerklavier Piano Sonata
New York, 2016
http://youtube.com/watch?v=iQ5qJrtxWzs
^inh 2017121401 monograph
Was fand Bruckner nur an Wagnern?
Des Meisters Begeisterung weist andere Hörwege

Bekanntermaßen war Anton Bruckner ein großer Bewunderer Richard Wagners.
Er trug ihm zwei Sinfonien zur Widmung an, wovon der sich die Dritte Sinfonie aussuchte. Weil ihm das Trompetenthema so eingängig erschien. Dies Werk ging daraufhin in Druck mit geradezu hymnischem Lobestitel und einer unterwürfigsten Ergebenheitsanzeige, die schon fast den Demuthsgrad des Kniefalles Bachs vor dem preussischen König erreicht:

Seiner Hochwohlgeboren
Herrn Herrn
Richard Wagner
dem unerreichbaren,
weltberühmten und erhabenen Meister
der Dicht- und Tonkunst
in tiefster Ehrfurcht gewidmet
von Anton Bruckner.

Weiter gibt es viele mündliche und schriftliche Äußerungen der Hochschätzung, bis hin zur (informellen) Widmung des Trauermarsches der Siebenten Sinfonie, etc.

Das alles ist ein sehr interessantes Phänomen!
Denn die von Bruckner geschaffenen Werke, besonders die "Monumentalsinfonieen", gehen ja (erstens) in eine ganz andere Richtung als die Werke des dermaßen Verehrten, und (zweitens) gar in eine, die dieser in seinen theoretischen Schriften explizit totgesagt hatte.

(Drittens) können wir uns den auf allerabstrakteste musikalische Architekturen konzentrierten Komponisten Bruckner, der äußerstenfalls den Text des Messe als etwas außer-musikalisches in sein Schaffen einzudringen erlaubt, nur sehr schwer als interessiert am Schicksal von Ehebrecher-Pärchens des Mittelalters, Drachenkämpfen und Töchter-Einschläferungen vorstellen. Nichts liegt ihm in seiner Auffassung von Musik ferner, und sollte er sich wirklich daran ergötzt haben (was bestimmt recht komisch gewirkt hätte, wir aber bezweifeln!-) dann nur als Privatmann, ohne jede Verbindung zu seiner Arbeit als Komponist.

Er aber würdigt Wagner explizit als "den führenden Tonsetzer" unserer Zeit. Das kann aber in seinem professionellen Koordinatensystem nur eines bedeuten: Er würdigt ihn als Sinfoniker!

Und das ist in der Tat auch die Art, in der Verfasser dieser Zeilen viele, ja, die meisten Abschnitte Wagnerscher Werke zu rezipieren vorzieht: Die Augen geschlossen eh, um sich von Licht, Bühnenbild und Video-Effekten nicht vom Eigentlichen ablenken zu lassen, aber auch Text und Handlung vergessend und den Strängen der rein musikalischen Höchstleistung folgend.

Auf manche Gipfelpunkte dieses Werkes wurde hier schon hingewiesen, besonders auf die in ihrer zeitlichen Ausdehnung nur vom Weihnachtsoratorium übertroffenen Tonart-Architekturen: der zweifache Quintantstieg des Tristan in senzatempo2011090100; der zweifache Quintfall des Ringes in senzatempo 2013052302.

Aber kompositorische Stringenz herrscht hier auf allen Größenskalen, auch im Kleineren: die meisten Gesprächs-Szenen sind nichts als weit ausholende Inventionen über ein eigens für diese Szene definiertes Grundmotiv: Das Hunding-Motiv im der Vorstellungsrunde in WkI, das "Schlingen-Motiv" beim Dialog Siegfried/Mime in SfII, die Staccato-Variante des Walhall-Motives bei der Begegnung Wotan/Siegfrid, das Gibichungen-Motiv=Beute-Motiv in GdI. All diese Motive werden später nur als Remineszenzen auftauchen, nie wieder strukturtragend, bilden aber bei ihrem ersten Auftreten die inhaltliche Grundlage der ganzen Szene, durch sehr konsequente und rein musikalisch bestimmte Disposition ihres Auftretens und ihrer Sequenzierung.

Aber auch stärker selbstständige, ubiquitäre und global definierte Motive genießen solche Behandlung: In diesem Sinne ist auch der "Wälse!"-Monolog ist nichts anderes als zentrale modulierende "sinfonische Durchführung" des Schwert-Motives, zwischen seiner Exp am Rh-Ende und Rp im Gd-Trauermarsch, und die Verwandlungsmusik in GdI nach dem Text "mir aber bringt er den Ring." nichts als eine Df des Siegfried-Motivs, in äußerst möglicher Verdunkelung.

Die Nibelungen-Szenen sind die Vorwegnahme der "amerikanischen Pattern-Music", mit ihrer sich stets leicht verschiebenden Interferenz aus Schmiede-, Hort- und Weh-Motiv.

Last not least die Zusammenfassung des Disparaten, die Wagnern gelingt wie keinem Komponisten vor ihm: Die drei Strophen z.B. der Wehwalt-Erzählung bestehen aus zersplitterten Miniaturen, winzigen, abbrechenden, zerstörten und verstörenden Fragmenten, nichts passt zu einander, und alles wird doch zuletzt zu einem großen Bogen verbunden, wenn der Hörer es schon nicht mehr für möglich hält, mündend in die drei möglichen Antworten auf die Frage nach dem Namen: "Wölfing", "Wehwalt" und "nicht Friedmund".

Zusammenfassend: sowohl die Definition der Schnitt- und Zielpunkte mit ihrer Umschlags-, Durchbruchs- und Zusammenbruchs-Dramatik, als auch die auf diese hinführenden Flächen und Steigerungswellen sind sinfonische Ereignisse, die ganz unabhängig von Text und Handlungsinhalten einer rein-musikalischen Logik folgen. Diese wurde von Bruckner sowohl was die reinen Größenverhältnisse angeht, als auch wegen der nun erlaubten Verstöße gegen herkömmliche Stimmführungsregeln und harmonischen Gewohnheiten als grundlegend innovativ erkannt, und damit legitimierend und anregend für das eigene Schaffen.

All dies gilt aber nicht nur in dieser technisch/satztechnischer/architektonischen Hinsicht, sondern sogar in inhaltlicher:
Die Stelle "Nun weißt du, fragende Frau, ..." und das angehängte Wälsungenmotiv werden bei rein instrumentaler Ausführung, wenn nicht nur der Gesangstext wegfällt, sondern auch jeder Begriff davon, was denn zum Kuckuck ein "Wälsung" oder ein "Wälsungenmotiv" sei, nichts, aber auch garnichts von der objektiven Verlorenheit, seelischen Verzweiflung, sozialer Vereinzelung und gesellschaftlicher Verdammung verlieren, die sie so überzeugend transportieren.

Wagner ist tatsächlich einer unabdingbare Begründer der spätromantischen Monumentalsinfonie, und als solcher einer der historisch wichtigsten Sinfoniker.
Jedenfalls ein "indirekter".


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