^inh 2011121800 | phaenomen |
Warum müssen Opern eigentlich "inszeniert" werden? Also durch die
Bühnenpräsentation "interpretiert" werden,
vielleicht "transponiert" und "kontrapunktiert",
gar "aktualisiert" oder "verfremdet", ja -- "konterkariert"?
Ist denn das überhaupt nötig?
Oder anders herum gefragt:
"Können diese modernen Regisseure nicht mal auf ihre eigenen,
selbstverliebten ajoutés verzichten
und die Oper einfach so auf die Bühne bringen, wie sie nunmal ist, oder von
ihren Schöpfern damals gemeint wurde?"
Die titelgebende Frage, vielleicht in einer dieser Umformulierungen, wird oft von interessierten und engagierten Opernbesuchern gestellt, häufig anlässlich einer besonders "avancierten" Bühnendarstellung, -- oft aber auch nur aus prinzipiellen Überlegungen.
Zur Beantwortung müssen wir ein bißchen weiter ausholen:
Die "Oper" im europäischen Sinne des Wortes, und um die geht es hier, ist allein durch die Namensgebung schon bemerkenswert: Lateinisch "opera" heißt bekanntlich nichts anderes als "die Werke", also der Oberbegriff alles Geschaffenen, und das auch noch im Plural!
Die tägliche Praxis des Musikers kümmert sich i.A. nicht besonders um philologische Subtilitäten. Hier allerdings scheint es, dass das kollektive Unterbewußte die exzeptionelle Stellung der "Oper" zu allen Zeiten geahnt hätte, und dies mit einer exzeptionellen Benennung auch zu würdigen mußte.
In der Tat ist die Oper, seit ihren ersten bekannten (und vielleicht auch seit ihren im griechischen Altertum vermuteten) Anfängen immer schon das, was später als "Gesamtkunstwerk" bezeichnet werden sollte.
Der Herausgeber der Hamburger Goethe-Ausgabe z.B. benutzt den Begriff "Gesamtkunstwerk" explizit für den Text von dessen Proserpina ([goethe, S. 666]), besonders für die in den überlieferten Inszenierungsanweisungen vom Dichter selbst ausdrücklich angestrebte Gestalt. ([goethe, S. 661]).
Bei der Oper in der uns bekannten heutigen Gestalt finden wir eine in der Tat eine Polyphonie von Ereignissen, die sich in den unterschiedlichsten Medien abspielen und sich an ganz unterschiedliche Wahrnehmungsorgane und Rezeptionfähigkeiten wenden:
Wenn auch die "olfaktorische" Dimension zu nutzen eher die Ausnahme geblieben ist, so kommt seit neuestem doch die barbarische Unsitte dazu der
(siehe dazu senzatempo 20111218 01)
Eine zweite, dazu orthogonal stehende Polyphonie findet sich nun aber in der geschichtlichen und bedeutungstragenden Dimension jeder konkreten Oper. Es lassen sich nämlich in jedem Falle mindestens drei(3) verschiedene Bedeutungsschichten identifizieren. Zwar ist deren Abgrenzung, und damit ihre behauptete Anzahl, weitgehend Interpretationssache, aber in vielen Fällen kann auch begründetermaßen von deutlich mehr Schichten (oder "Sichten") ausgehen. Allemal dann, wenn die Rezeptionsgeschichte und die verschiedenen Rollen, die ein Werk im Verlaufe seiner Lebensdauer zwischenzeitlich eingenommen hatte, mitgezählt werden.
Aber schon allein in ihrer Enstehungszeit hat, wie gesagt, eine Oper mindestens drei Bedeutungen oder Sichtweisen:
Die Unterschiede dieser drei Schichten sind evident, ebenso, daß alle drei allemal vorhanden und wirkmächtig sind, wenn auch in durchaus verschiedenen Gewichtungen:
Wenn im Fidelio der Gefangenenchor singt
"Sprecht leise! Haltet euch zurück!
Wir sind belauscht mit Ohr und Blick."
dann
bezieht sich das auf Ebene (1) auf ein fernes, imaginäres
Bananen-Königreich. Auf Ebene (2) hingegen, und so werden es damals alle
Zuhörer auch verstanden haben, auf die Unterdrückungs- und Ausspähungsmechanismen
der politischen Reaktion zur Zeit der Uraufführung.
Die Treue und der Mut Leonores/Fidelios wiederum (Ebene 1) kann nur verstanden werden als eine konkrete Instantiierung eines abstrakt-ethischen Treue-Begriffes (Ebene 3), der wiederum in seiner Wichtigkeit und Schönheit von jedem einzelnen Zuschauer nur empfunden werden kann, indem er oder sie es auf konkrete (positive oder negative) Erlebnisse im eigenen Leben bezieht (Ebene 2).
Tristan und Isolde ist als Erzählung von einem vorgeschichtlichen ehebrecherischen Liebespärchen (Ebene 1) völlig uninteressant. Bedeutung erhält es durch die darin enthaltenen, sowohl explizierten als auch demonstrierten grundlegenden "philosophischen" Aussagen zu "Liebe" in ihren romantischen, pathologischen und bürgerlichen Dimension, und zu Tristans frühkindlichen Traumatisierungen (Ebene 3).
Realisieren konnte Wagner das wegen seiner persönlichen problematischen Beziehung zu Mathilde Wesendonck, die jeder Hörer wiederum durch seine eigenen Ensprechungen ersetzen muss, wenn der die Relevanz des Werkes erleben will. Hier sind also erforderlich viele verschiedene, sehr persönliche Sichtweisen, alle angesiedelt auf Ebene 2!
Diese Vielschichtigkeit der Bedeutungen/Sichten/Interpretationen ist selbstverständlich grundsätzlich auch bei anderen Formen von Drama, z.B. im Sprechtheater, zu finden, wenn nicht gar in Werken jeder Kunstgattung.
Im Falle der Oper jedoch hat sie eine ganz eigenartige Konsequenz: In Verbindung mit der oben dargestellten Vielschichtigkeit der medialen Präsentation ergibt sich nämlich natürlicherweise eine rechteckige Matrix unübersehbarer Kombinationsmöglichkeiten:
Jede Inszenierung einer Oper muss für jede der "medialen Zeilen" eine oder mehrere der "Bedeutungs-Spalten" selektieren. Das gibt (in sehr grober Näherung, da ja nicht alle Medien immer relevant eingesetzt werden, im Gegenzug aber auch mehr als drei Bedeutungsschichten erkannt werden können) allein (2^3-1)*7 = ca. fünfzig verschiedene Inszenierungsmodelle schon nach den ersten, ganz schematischen Entscheidungen.
Und jedes einzelne dieser "angekreuzten Kästchen" muss sich nun, in einem zweiten Schritt, auf einer historischen Achse positionieren:
Musik, Interpretation, Instrumente, Kenntnisse, Spielweisen und -techniken,
Gesangstechnik, Hallengröße und Raumakustik, all das ist in den meisten
Fällen in der Jetzt-Zeit angekommen.
Aber auch das kann allemal "zurückgerollt" werden, wenn es die Intention der
Interpreten verlangt.
Wenn der Text schon wörtlich beibehalten wird, also auf der Ebene 1 bleiben soll,
will man dann auch zu Gasbeleuchtung zurückkehren, um das Erleben der
damaligen Besucher nachvollziehbar zu machen?
(Man bedenke: nicht zuletzt sind gerade wegen der Gasbeleuchtung sämtliche
Opernhäuser mindestens einmal abgebrannt, bis auf Bayreuth und Schwetzingen !-)
Oder realisierte sich nicht schon damals dieses Erleben eher auf der Ebene 2,
also als persönliche Betroffenheit, so dass ein intendiertes
Neu-Ergriffensein, der Nachvollzug damaligen Skandales, vielmehr ganz
im Gegenteil einer neuen, zeitgemäßen Übersetzung bedarf, um dasselbe Gefühl
in anderer Zeit wieder zu erregen?
Kann man Projektionen und Videos verwenden, aber die Kostüme im achtzehnten
Jahrhundert belassen?
Kann man bei einer Barock-Oper auf historischen Instrumenten spielen und
dennoch die Sänger "agieren" lassen, wie es erst viel später üblich wurde?
Wenn ja, was bewirken all diese Kontraste im Zuschauer, was "bedeuten" sie?
Oder sind sie (besser zu ignorierende) ärgerliche unbedachte Nachlässigkeit?
Ein Chor, sobald er z.B. als geschlossene Front anonymen "Volkes" auftritt, kann
niemals ohne Konnotation wahrgenommen werden. Diese aber ist,
so unterschiedlich sie sei, allemal verschieden von allem möglichen
Erscheinungen des achtzehnten Jahrhunderts,
von bürgerlicher Untertanenschaft wie von "Dorfgemeinschaft" wie von Sub-Proletariat.
Was also geschieht im Zuschauer wenn ein Chor allein schon "aufmarschiert" ?
Bedrohung oder Geborgenheit ?!!?
Man sieht, eine "einfach-so-wie-gemeint" Inszenierung kann es bei der Oper
garnicht geben. Zu vielfältig sind die Polyphonien von Medien, Metaphern und
Bedeutungen und deren Kombinationsmöglichkeiten.
Und zu unterschiedlich sind die mittlerweile geschehenen Veränderungen
auf all diesen verschiedenen Achsen,
denen gegenüber die heutigen Interpreten gezwungen sind, Position zu beziehen.
Die in der Formulierung der Ausgangsfrage mitschwingende Skepsis gegen "gewollte" Modernisierungen jedoch ist durchaus ernstzunehmen. Das ist etwas anderes! Allemal nämlich sollen die Inszenierungsentscheidungen nicht Selbstzweck sein, sondern dienen, sich einem als wichtig, gültig und mitteilbar erkannten Gehalt unterordnen und sich in den Dienst seiner Vermittlung stellen.
Gags und Gimmicks als Selbstzweck sind abzulehnen.
Diese sind auch durch Argumentationen wie diese hier niemals zu rechtfertigen.
Oper ist Kunst und nicht Zirkus.
[goethe]
Nachwort zur Hamburger Goethe-Ausgabe, Bd. 4 C.H. Beck, München, 1994 |
^inh 2011121801 | phaenomen |
Seit einiger Zeit ist es üblich geworden, zur Aufführung einer Oper
den gesungenen Text, resp. eine Übersetzung in die jeweilige Landessprache,
über der Bühne zu projizieren.
Diese barbarische Unsitte ist abzulehnen.
Dem Verfasser macht dies den Besuch von Opernaufführungen fast unmöglich, er muss sich immer so setzen, dass er mit (ähnlich wie bei einem militärschen Gruße) über den Augen abgewinkelt angelegter Handfläche sich gegen dieses Geblinke abschirmt. Das ist auf die Dauer sehr anstrengend. Gut, dass er eh oft die Augen gänzlich schließt, um ungestört vom Bühnen-"Geschehen" die Musik zu genießen.
Allein schon das rein physikalische Geflimmere, der dem Fluß der Musik
so ungerührt entgegenstehende Rhythmus des Lichtwechsels verdirbt die
Wahrnehmung der metrischen und melodischen Struktur.
Das LESEN des Textes, noch schlimmer, bewirkte hingegen ein
vollkommenes Umschalten des Wahrnehmungsmodus des Gehirnes, welches
alle vier, fünf Sekunden den aktiven, kreativen Vorgang des Hörens
aufs brutalste abwürgte.
Beim Verfasser impliziert nämlich das Lesen eines Texts das Nachdenken über das
dort Gesagte.
Bei anderen vielleicht nicht.
Wenn er aber über Text beginnt nachzudenken, kann er nichtmehr der Musik
zuhören.
Andere, die begaber sind, scheinen das zu können.
Vielleicht hören die aber auch schlicht ungenau?
Zwar hat, selbst bei ihm sehr bekannten Werken, diese Textprojektion in ganz wenigen Fällen den Blick gelenkt auf ein bis dahin übersehenes Juwel. Das war nett! Aber das berechtigt nicht die grundlegende Zerstörung aller adäquaten Rezeptionsmöglichkeit durch diese Projektions-Barbaren.
Warum diese Gemeinheit?
Dahinter steckt anscheinend der Gedanke (wenn man solch brutalem Unsinn solchen Begriff überhaupt zuerkennen will), dass alle Opernbesucher faul, dumm und ungebildet sind.
Wir aber erwarten anderes:
Man kann erwarten, dass ein Zuschauer sich auf ein Opern-Erlebnis vorbereitet.
Man kann im Zeitalter von wikipedia und on-line-Literaturarchiven erwarten,
dass man sich vorher über den Inhalt informiert, und den Text des Werkes
liest.
Jeder, der es kann, sollte vorher den Klavierauszug mindestens einmal durchgespielt
haben.
Bevor ich zur Messe, zur Beichte gehe (resp. "ging"), habe ich mich ja
auch vorbereitet, durch Sammlung, Gewissenserforschung, Gebet.
Wollen die Verfechter der "schnellen Titel" auch die
h-moll Messe und das Mozart Requiem mit ihren Projektionen
zugänglich machen? Dann kann man ja in den Kirchen für die weniger
Geübten auch eine Neon-Beschriftung aufblinken lassen:
"Zur Kommunion bitte JETZT HIER anstellen! Jeder nur EINE(1) Oblate!"
Pfui über euch!
Beim Verfasser dauert ein Opernbesuch normalerweise sieben Tage: Drei Tage lang
jeweils zwei bis drei Stunden Vorbereitung, zumeist am Klavier. Dann der Vollzug
selber. Dann mindestes drei Tage in denen das Erlebte nachschwingt, nach-gedacht
wird, langsam ins tägliche Leben übernommen wird.
Steht einem diese Art der Vorbereitung nicht zur Verfügung, so kann man
wenigstens erwarten, dass man rechtzeitig vorher da ist, sich das Programmheft
besorgt und die Synopsis liest.
Die Projektion des Textes aber offenbart lediglich eine völlige Unkenntnis, Unsensibilität, Geschmacklosigkeit und Barbarei der Verantwortlichen gegenüber der Wirkungsweise unseres Gehirnes und gegenüber der Integrität des Werkes.
"Frau Minne will: es werde Nacht" ist einer der heiligsten Momente der Menschheit, und (neben dem ach so bedeutungsschweren kleinen Chopin Prélude und dem "Kommt ihr Töchter") das wichtigste e-moll, das jemals konstruiert worden ist.
Wenn man das wirklich erleben will, muss man den ganzen ersten Akt als Subdominante und den F-Dur-c-moll-Doppelklang der vorangehenden Szene als alterierte Dominante begreifen (cf. s.t.20110901 00), und sich minutenlang drauf freuen.
Wenn sie dann wirklich kommt, überstrahlt und bestimmt diese Kadenz alles weitere Hören.
Wenn man dieses e-moll wirklich ganz erlebt hat, dann verändert es das weitere Leben, indem es ihm eine Wahrheit hinzufügt, die unvergeßlich bleibt.
Die hingegen dadurch eher NICHT zustande kommt, dass man im entscheidenden Moment, (wo die über fast eine halbe Stunde aufgebaute harmonische Spannung kollabiert, wo der Doppelklang der Hörner seine wahre Bedeutung offenbart, wo sich die erste große, ja, gewaltsame Hebung des doppelten Quintschrittes des Gesamtwerkes vollzieht, wo alle Sinnen und Zellen des Hörers aufs äußerste angespannt sind, wo die so schmerzhaft erreichte Moll-Terz "g" das fis-is der endgültigen Erlösung vorwegnimmt, wo das H-Dur des Schlusses bereits als Möglichkeit aufscheint und alle Nerven vibrierend einem einen der gewaltigsten Orgasmen des Wagnerschen Werkes entgegenfiebern), wenn man ausgerechnet DANN angehalten wird, das Wort "N-A-C-H-T" gefälligst von der Wand zu buchstabieren.
Pfui über euch!
^inh 2011121802 | editorial |
Ohne weiteren Kommentar sei folgendes der Öffentlichkeit mitgeteilt. (Den Kommentar bilden gleichsam die es umrahmenden, weiterführenden Artikel!)
©
senzatempo.de
markuslepper.eu
2019-12-20_20h48
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and XSLT
music typesetting by musixTeX
and LilyPond