zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2018071304 | monograph |
Endlich habe ich mich doch überwunden, meine frühen, bisher nie erklungenen Sinfonieen in einen Rechner einzugeben und von einem Notensatzprogramm klingend realisieren zu lassen.
Bisher hatte ich das immer abgelehnt, u.a. aus prinzipiellen Überlegungen, weil
z.B. synthetische Orchester niemals die Präzision und Ausdruckskraft
echter erreichen. Aber der Preis war, dass ich dreißig Jahre lang die
Gewissheit mit mir rumtragen musste, dass diese Stücke funktionieren und
niemand anderes es überprüfen konnte.
Da ich nun aber auf die public-domain und kostenlose Software
museScore stieß (http://musescore.org) und auch nach einem längeren
Theorie-Projekt wieder "in's Musik-Machen reinkommen" wollte, begann ich frisch,
meine sog. Erste Sinfonie abzutippen.
1
Damit war ich dann vom Donnerstag, 15.April bis Sonntag 25. rund um die Uhr, in Flow und
Wahn, sechzehn Stunden am Tag beschäftigt.
Entgegen meiner Skepsis war das Ergebnis allemal informativ. Dennoch aber gibt es einige grundlegende Schwierigkeiten, ontologischen Probleme und drohenden Missverständnisse, denen hier knapp aber deutlich entgegegetreten werden soll.
Zunächst einmal überraschte es mich angenehm, wie gut das Werk insgesamt doch funktioniert, und zwar in allen Bereichen wie kontrapunktische Durchhörbarkeit, dramatischen Kurve, Harmonik, ja selbst Instrumentation (welche aber, siehe unten, nur eingeschränkt beurteilbar ist). Selbst die von mir als bedenklich erachteten Teile ("Durchführung" im zweiten, die "Coden" im vierten Satz) funktionieren perfekt.
Auch in horizontaler Richtung, was die Formteile und das Timing angeht, war meine damalige Vorstellung hinreichend tragfähig: Im ersten Satz musste ich einmal einen Takt einfügen und einmal einen streichen, etc., -- im Finale in der "Rückführung zur Reprise" mussten viele Sekundärstimmen gestrichen werden, der Groß-Rhythmus der Taktzahlen stimmte aber dennoch. Das war überraschend!
Allerdings sind an einigen wenigen Stellen durchaus mehr oder weniger große Korrekturen
angewandt worden, so dass der Prozess des "Einhackens" in den Rechner kein mechanischer sondern
ein durchaus nach-schaffend kreativer war.
Zunächst mussten beseitigt werden eine ganze Menge von
Über-Differenzierungen wie "Pedal-Effekte" (= Stimmverdoppelungen, die nur den Anfang
einer Linie mitspielen und bald in Liegetöne übergehen) und rein instrumentatorische
"colla parte" Verdoppelungen
Diese Weglassungen haben ganz unterschiedliche Gründe:
(a) ist die Rechenkapazität meines Computers begrenzt und zwanzig Stimmen gleichzeitig
lassen sich nicht realisieren.
(b) manche Differenzierungen sind schlicht überflüssig für den klanglichen und
(mehr noch!) den inhaltlichen Eindruck, oder gar störend.
Dies gilt besonders für sehr schnelle Notenwerte, die in einem flotten Grundtempo
weder ausführbar noch vom Hörer bewußt wahrnehmbar sind. Davon sind viele
gestrichen worden.
Größere Korrekturen, auch im Sinne von Weglassen und Zusammenfassen, waren z.B. nötig am Ende der Durchführung des ersten Satzes, wo die ursprüngliche Grundidee nun ganz ohne Begleitstimmen viel besser zum Tragen kommt, und selbe Stelle im Finale, wo alle Hintergrund-Stimmen auf ein einziges Motiv reduziert wurden, mit großem Gewinn für Durchhörbarkeit und Wirkung.
Überhaupt, -- was mich ermutigte, auch liebgewordene Dinge wegzuwerfen war das große Vorbild Anton Bruckners, der ja auch Sinfonieen revidierte, die im ersten Wurf schon perfekt waren (wie seine Erste) und andere erst mühsam schrittweise zur Perfektion erzog (wie die Vierte).
An vielen Stellen war die notwendige Bearbeitung im Sinne von Streichung von Nebenstimmen
also durchaus eine Verbesserung der Komposition.
Aber nicht an allen! Wer immer es irgendwann unternehmen würde, die eigentlich gemeinte
Orchesterfassung wieder-herzustellen, müsste einige von den Arabesken reanimieren,
aber bitte nur die wenigsten!
Insgesamt können nämlich die entstandenen Partituren nur als die einer ausdrücklich neuen, "elektronischen" Fassung bezeichnet werden. Dies bezieht sich auf fast alle Parameter eines musikalischen Werkes:
Ein generelles Hauptproblem sind Artikulation und mehr noch
Lautstärke/Dynamik!
Die diesbezüglichen Angaben in den nun vorliegenden elektronischen Dateien sind
rein technische Angaben und haben mit semantisch-inhaltlichen einer richtigen
Orchesterpartitur nicht das Geringste zu tun!
Sie dienen lediglich dazu, für diese eine erzeugte klangliche Fassung
die Wiedergabelautstärke einzustellen und beziehen sich
deshalb konkret auf diese eine technische Distribution des Werkzeuges "museScore",
nämlich "Version 3.6.2.548021803, wie heruntergeladen am 20210415".
Wenn eine Trompete dort ein "mp=Mezzopiano" trägt, dann ist das lediglich eine technische
Lautstärkeeinstellung und ungefähr gleich laut wie ein "Forte" in der Violine.
All dies hätte auch mit nicht-sichtbaren Noten-Attributen eingestellt
werden können ("MIDI Attack-Wert"),
aber es sollte tatsächlich alles von mir Eingegebene auch im Notentext sichtbar sein.
Deshalb wurde diese Art der Codierung gewählt.
2
Insbesondere ist die "sichtbare" Skala der Lautstärken nicht sehr fein: Oft wäre dringend eine Stufe zwischen "p" und "mp" notwendig gewesen, etc. Ich habe mich aber dann doch stets auf die vordefinierten Werte beschränkt. Generell ist diese Realisierung damit zwar in gewisser Weise ein "Notat" des gemeinten klanglichen Ergebnisses, aber keineswegs eine "Modell-Aufführung", an die sich alle zukünftigen Interpretationen zu halten hätten, -- ich habe nicht mehr Arbeit in die Details investieren können als unbedingt nötig und in diesen zehn Tagen möglich.
Auch Artikulationen und schnelle Vorschläge musste ich teilweise
"aus-komponieren", um eine adäquate klangliche Realisierung zu erhalten. Diese Auskomponierungen
sind weder Bestandteil der Partitur des "Werkes an sich", noch verpflichtend für dessen
Interpretation, sondern rein technische Notwendigkeiten.
Dies geht bis zu eingeschobenen Takten oder Vierteln, weil Atempause (=Fermaten auf
Taktstrichen) beim Abspielen nicht berücksichtigt werden. Dazu musste z.B. ein "9/8-Takt"
verwendet werden, der nur ein 4/4 mit einem zusätzlichen "Atem-Achtel" ist.
Auftakte gehen teilweise im Gesamtklang unter und mussten durch ein "f=Forte" extra
hervorgehoben werden, so gleich zu Beginn des ersten Satzes der Dritten
und dort beim allerletzten Kontrabass-Einsatz, sogar durch das zusätzliche Instrument Tuba.
Ähnliches gilt für alle Triller und Tremoli, wobei allerdings die meisten Triller,
jedenfalls die "thematischen", auch bei Menschenwiedergabe
tatsächlich irgendwie "ausgezählt" werden sollen, allerdings nicht so mechanisch-gleichbleibend.
Ganz generell halte ich die Umsetzung durch lebende, atmende
und mit-denkende Musiker für um Größenordnungen effektiver als stundenlanges Geschraube
an klanglichem Fein-Tuning an einem Computersystem durch einen Einzelnen.
Damit zusammen hängt das Problem der Besetzung: Die Anzahl der Hörner auf acht
zu erhöhen bringt im physikalisch klingenden Saal eindrucksvollen Klangrausch
(Vorbild: Mahlers Dritte!-). In der digitalen Realisierungen allerdings
entspricht es nur einem minimalen Hochziehen des Mischpultreglers. Hat also keinen Sinn!
Als Konsequenz musste auch mehrfach die Instrumentation angepasst werden,
denn es ist nicht spezifiziert, was die Klangsynthesealgorithmen machen, wenn mehr Stimmen in
einem System oder Töne in einem Akkord stehen, als für dieses System Instrumente deklariert sind.
Und für weitere, die meiste Zeit schweigende Systeme sind die Bildschirme allemal zu klein,
siehe auch die Warnungen vor der
Bestimmung des Produktes durch das digitale Werkzeug.
Die köstlich-reibende kleine Sekunde in der Rp des Choralthemas des Finales der
Ersten Sinfonie z.B. erklingt nun zwischen Posaune und Horn, im Original zwischen zwei
Hörnern.
Nachdem dieses erste Experiment aber im Großen und Ganzen doch recht erfolgreich war, habe ich mir vorgenommen, auch die folgenden Werke nach und nach so zu realisieren. Allerdings nicht mehr in einer zehntägigen Gewaltaktion, das ist nun nicht mehr nötig, weil das "Proof of Concept" ja erbracht ist, sondern als Nebenjob, ein paar Seiten pro Woche, etc. 3
Vom Fortschritt werde ich berichten.
1 Die ersten drei Sinfonieen waren als Triptychon geplant, da mit einer schlicht einzelnen Sinfonie die großen Vorgänger ja nicht zu übertreffen waren. (Ähnlich dem Trick, mit dem Beethoven nach op.106 weitermachen konnte!-) Dabei ist die sog. "Zweite Sinfonie" als allererste fertiggeworden.
2 Was nicht sichtbar ist, ist die Panorama-Einstellung der Instrumente: Holzbläser, Blechbläser und Streicher in Partituranordnung jeweils von links nach rechts angeordnet. Ab Sinfonie drei dann dasselbe, aber die zweite Violine als "ganz unten notiert" umsortiert.
3 In der Dritten Sinfonie wurde das Schlagzeug weggelassen, weil die von "MuseScore" bereitgestellten Samples allzu schlecht sind. Das ändert in gewisser Weise deutlich sowohl den Klangcharakter des ersten Satzes und läßt auch ganze überleitende "Trommel-Solo" Formteile wegfallen. Dies könnte in einer zukünftigen professionellen Orchesterfassung wiederhergestellt werden.
©
senzatempo.de
markuslepper.eu
2021-05-14_19h44
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and XSLT
music typesetting by musixTeX
and LilyPond