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^inh 2018071300 weiteres
Vom Wesen des LaTeX-Objektes

Aus gegebenem schmerzlichem Anlass versuchen wir im folgenden, der großen wissenschaftlichen Gemeinde der Nicht-LaTeX-Benutzer die Eigenschaften, Möglichkeiten und auch Probleme des anderen großen Text-Erstellungs-Systems LaTeX (samt seinen Sub-Systemen und Nebenprogrammen) zu erklären. Denn zunehmend stoßen (glücklicherweise) beide Welten auf einander: Die Word-Benutzer aus den Geisteswissenschaften und die LaTeX-User aus den technischen und Naturwissenschaften. Auf dass dieser Zusammenstoß ein fruchtbarer sei!

Grundsätzlich sind bei der Verwendung von LaTeX stets zwei verschiedene Ebenen von "Text" beteiligt: Ein "LaTeX-Quelltext", der als ein Programm-Text in einer Programmiersprache funktioniert, und der das Aussehen des letztlich gedruckten "sichtbaren Textes" eindeutig bestimmt. Beides gehört zusammen und wird im folgenden als "LaTeX-Objekt" bezeichnet. (Den sichtbaren Text bezeichnet man auch als "Rendering".)

Dann sind die allerwichtigsten Eigenschaften, die für die meisten der Mißverständnisse zwischen Word- und LaTeX-Usern verantwortlich sind:

  1. Ein LaTeX-Objekt ist ein Programm.
  2. Ein LaTeX-Objekt ist ein Kunstwerk.

Der Quelltext selber ist ein literarisches Ereignis und hat als solcher das Recht auf Autonomie und Autarkie! Er ist (möglicherweise) ein eigenes Kunstwerk und kann durchaus als solcher veröffentlicht werden (was wir mit de Linguis... auch vorhaben, wenn wir mal Zeit dazu finden ...!-)

Wenn ignorante Verleger (die sonst mühsam nur Word-Dokumente mergen) einem fertigen, unabhängig von ihnen als Kunstwerk und Programm komponierten LaTeX-Objekt in Nachhinein Vorschläge, ja Vorschriften für zu inkludierende Moduln entgegenstellen, missachten sie genau diese Autonomie.
Selbstverständlich kann, das ist ja eine der großen Fähigkeiten von LaTeX, der Text sich optischen Verlagsvorgaben meist völlig mühelos anpassen. Aber durch Umparametrisierung der verwendeten Moduln, nicht durch deren tumben Austausch.

Wir reden hier natürlich von komplexeren Texten, die kreativ mit den Möglichkeiten von LaTeX umgehen, besonders zur Generierung von automatischen Verweisen, Tabellen, Hyperlinks, etc.
In de Linguis Musicam Notare definieren wir z.B. über achthundert verschiedene "Modelleigenschaften". Deren Definitionsstellen werden aufgesammelt, in eine "aux"-Datei geschrieben und u.a. in einem Register am Schluss des Werks verzeichnet. Definitionen können auftreten (a) im Fließtext, (b) in Definitionen (als "definition"-LaTeX-Umgebung realisiert) oder (c) in Tabellen, die Formel-Moduln beinhalten. In jedem der Fälle wird ein anderes Makro für die Deklaration der Modelleigenschaft verwendet, und die LaTeX-Umgebungen wurden so "aufgebohrt", dass sie die benötigten Koordinaten in globalen Variablen zum Lesen durch diese Makros ablegen.
Man kann also nicht einfach die Definition der Umgebung "definition" austauschen, weil die vom Programmierer vorgenommenen Anpassungen extra übertragen werden müssten, wobei keinesfalls garanntiert ist, dass das mühelos oder überhaupt möglich ist.
Ein LaTeX-Objekt ist halt ein Programm, das ABLÄUFT, wenn der Ausgabetext generiert wird, und wo alle Teile (das sind interne Prozeduren, definiert in der Programmiersprache TeX, externe Standard-Hilfsprogramme und externe eigens definierte Spezialprogramme) reibungslos zusammenarbeiten müssen.

Es ist eh ein großes unbegreifliches Wunder, dass das Zusammenspiel so vieler Programm-Pakete, die teilweise in ihre gegenseitigen Bereiche eingreifen und von so vielen unabhängigen Gruppen erstellt wurden, fast immer reibungslos funktioniert.

So müssen wir z.B. regelmäßig das \cup zur Mengenvereinigung nach \xcup umdefinieren, wenn wir Mathematik mit musixTex paaren wollen. -- Das ist aber auch die EINZIG nötige Anpassung. Das ist verwunderlich und ein großes Glück, aber auch ständiges Risiko!

Wenn einmal ein LaTeX-Objekt funktioniert, dass ca. ein Dutzend oder mehr Pakete inkludiert, dann sollte man daran tunlichst NICHTS MEHR ÄNDERN, und auch noch nicht einmal die Version auch nur eines der Pakete!

Allerdings gibt es in der World-Welt ähnliche Probleme: Wir erinnern uns der Zeit wo ein nur Read-Only-geöffnetes "Dokument" gleich neu umgebrochen wurde, wenn nur ein andersartiger Drucker am Computersystem hing!?!?

Was LaTeX dann allerdings ermöglicht, ist unschlagbar:

  1. Bruchlose Durchdringung von Graphik in Text, Text in Graphik. Besonders durch die neuerdings mögliche direkte Erzeugung von Postscript-/Pdf-Befehlen.
  2. Semantisches Mark-Up im kreativen Flow des Schreibens, beinhaltend jederzeit umstellbare optische Repräsentation bei Wahrung der inhaltlichen Konsistenz und Trennschärfe, automatisches Aufsammeln und beliebig programmiertes Weiterverarbeiten von Referenz- und Definitionsstellen, etc.
  3. Bequeme und lokale Makro-Programmierung für komplexe Formel-, Text- oder Graphikaggregate.
  4. Einfaches Einfügen von Kommentaren und Meta-Information.
  5. All voranstehenden Maßnahmen nicht durch Klicken und undurchsichtige Assistenten oder zwangs-automatisches Verhalten eines unberechenbaren Programmes, sondern als Programm-Quell-Text, also bruchlos im kreativen Fluss des Schreibens und selbst wieder völlig zugreifbar für Suchen, Ersetzen, Kopieren, Vergleichen, Versionsverwaltung, etc.
  6. Alle programmiertechnischen und Formatierungs-Maßnahmen durch ihre Existenz als Programmtext eindeutig dokumentiert, benennbar und (mittels explizitem Kommentar oder externer Versionsverwaltung) datierbar.
  7. Einfache Kollaboration von Teams wegen der Text-Natur über standardisierte Versionsverwaltungsprogramme.

Wer diese Vorteile einmal genossen hat, wird nicht wieder auf sie verzichten; komplexe Werke wie unser Wege zum Weihnachtsoratorium wären anders gar nicht erstellbar.
Und dadurch wirkt LaTeX sich nicht nur auf die äußerlichen Gestaltungsmöglichkeiten von Text aus, sondern schafft auch inhaltlich ganz neue Bahnen von Darstellung, Verknüpfung, ja letztlich, -- von Denken.

(20210204)


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