zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2017042600 | monograph |
1
Gedankensplitter
1.1
Das Formproblem im Finale der Ersten Sinfonie
1.2
Beispiel Brucknerscher Brutalität
1.2.1
Erste Sinfonie, Finale, Rf
1.2.2
Oktavparallelen der Außenstimmen in der SchlGr von I/1
1.2.3
Uneigentliche Stimmführung in I/3/Rf
1.3
Die Df der Ecksätze der Ersten entsprechen sich
1.4
Steigerungs-Abbruch, Entsagung und Fernbeziehung
1.5
Inverse Steigerung
1.6
Zur Monographie durch Ernst Kurth
1.7
Zum Adagio der Ersten
1.8
Zur Annulierten
1.9
Steinbeck zum Brucknerschen Formtypus
1.10
Verhältnis der Gliederungen von HTh und Df
1.10.1
Df und HTh im Ersten Satz der Neunten nach Steinbeck
1.10.2
Df und HTh im Finale der Achten
1.10.3
Exkurs: Finale unserer eigenen Fünften
1.11
Retro-Klarifikation nicht nur harmonisch, sondern auch groß-formal!
1.12
"Karge Klanglichkeit" und Leuchtkraft
1.13
Manipulative Tricks durch Bruckner
1.13.1
Im Finale der Ersten Sinfonie
1.13.2
Die Schlussakkorde in der Fünften Sinfonie
1.13.3
Der erstes Hp im Adagio der Fünften Sinfonie
2
Bibliographie
So lange es dem Verfasser nicht vergönnt ist, eine größere zusammenhängende Arbeit zu Anton Bruckner zu verfassen, seien hier einige Einzelgedanken zusammengetragen.
(20170430:)
Die letzten Wochen beschäftigte er sich mit dem frühen Bruckner
, also dem
der Ersten bis Dritten Sinfonie, worauf sich also die meisten der
folgenden Gedanken beziehen.
Andererseits ist dieses hier ein "Archiv" im Sinne von "Materialsammlung", nicht im
Sinne von "Einfrierung", so dass sich diese Seiten wohl noch erweitern werden.
Interessanterweise hat es lange gedauert, bis der Verfasser zu diesem Werke einen Zugang gewann.
(Dabei sei vorausgeschickt, dass die "Linzer Fassung", und zwar so wie publiziert in der
Gesamtausgabe Band I.1 [ab1],
ihm die gültige erscheint und diesen Betrachtungen zugrunde liegt.)
Was ihn immer schon störte war der unübersichtliche Aufbau des Finales.
Dieser stellt sich bei genauerer Kenntnis heraus als Folge einer bedauernswerten
Inkonsequenz bei der Verteilung der Tonarten:
Das Wiedereinsetzen des Hauptthemas T.273 mit der sich mutig reckenden Oktave hätte
einer der bewegendsten Repriseneinsätze der Geschichte werden können. Besonders, weil der
Themenkopf selber nach wenigen Vierteln schon vom heroisch-duldenden moll
in ein eher dominantisch-angespanntes DUR umgebogen wird. Der Themeneinsatz ist also
zugleich beglückend wie auch schmerzhaft verzichtend.
Als großes Manko aber muss gelten, dass die Tonart c-moll nicht erst hier, T.273, sondern schon
knapp fünfzig Takte vorher erreicht wird, in Tkt. 224.
Dies vermindert die Wirkung der Kadenz beim Rp-Eintritt bedeutend.
Schade.
Einen solchen Anfängerfehler meint Verfasser schon mit siebzehn nicht mehr gemacht zu haben. Und auch Bruckner macht es sonst immer besser: Zwar wird auch im ersten Satz in T.181, also 18 Takte vor dem Rp-Eintritt in T.199, schon ein c-moll-Klang erreicht. Der aber wird sofort zum Quartsextvorhalt vor der weit auskomponierten Dominante umgewidmet, ein durchaus konventionelles und wirkungsvolles Verhalten.
Es KÖNNTE allerdings auch Absicht sein: Dann wird wegen der Tonart schon in T.224 der Eindruck "Rp" erweckt, und zwar in überwältigender Deutlichkeit, und wenn das Thema einsetzt, also "materialiter" Rp beginnt, endet genau diese c-moll-Fläche. Das wäre dann eine durchaus dialektische Konzeption: das c-moll nimmt an Präsenz, Wirkung und formaler Stellung konsequent ab, um dem C-Dur Platz zu machen.
Allerdings stehen anscheinend die durch Hunderte von Jahren und Werken
eingeübten Gehörs-Mechanismen (jedenfalls beim Verfasser)
einer Würdigung dieses Ablaufes durchaus entgegen ...
Das ist ein zumindest rezeptionstheoretisch interessantes Ergebnis.
Die Steigerung zur Kadenz zur Rp des Finales der Ersten Sinfonie ist auch in ganz anderer Hinsicht interessant. Die letzten Takte in HBl und Str lauten:
Mag die erste Halbe in T.270 noch als konventionell begründbare Stimmführung
durchgehen (die Achtel f ist "Durchgang" in einen frei einsetzenden "Vorhalt" es-d),
so ist die zweite Hälfte, mit ihrer "Auflösung" in den Einklang ganz am Schluss,
vollkommen "unerlaubt".
Aber es funktioniert!
(Dies fällt in jene Kategorie moderner Satzweise, die wir im Kontext von
Mahlers Dritter als Sekund-Stimmführung bezeichnet haben [madrei])
Das menschliche Hören wird als schichtig begriffen, -- mehrere unabhängige Schichten
laufen parallel und werden als solche wahrgenommen, ohne zu verschmelzen, es sei denn
in den letzten beiden Takten, wo die Verschmelzung als letzte Steigerung
(dialektisch, durch Reduktion !-) vor dem Rp-Einsatz physisch tatsächlich stattfindet.
Die Wahrnehmung wird gleichsam "perspektivisch", man sieht den nahen Wipfel vor dem fernen Gipfel und dividiert sie im Kopfe problemlos auseinander.
Dies ist ein konkretes Beispiel für das, was Brucknern an "Rohheit" und "Primitivität" vorgeworfen wurde. Zu recht! Hier wird der materielle Charakter von Musik, dass da tatsächlich körperlich im Raum Leute sitzen, die Tonleitern tuten, als ein Naturphänomen in den Konzertsaal importiert, wie ein Orkan um die Felsnase heult, unberührt von all den Jahrhunderten der Entwicklung ästhetisch begründeter Satzregeln.
Zu Beginn der Df des ersten Satzes der Ersten Sinfonie, bei dem ff wiederauftretenden SchlGr-Thema, bestehen mit fis-g beim Übergang T.122-123 und a-b bei T.125.126 die schier unverschämte Oktavparallelen der Außenstimmen, -- eine Grobheit, die eine Clara Schumann schockieren muss.
In der Rf des Scherzos der Ersten Sinfonie wechseln sich in der dominantischen Steigerungsfläche zunächst die Rufe es-d (ab T.81 Fagott, Ausgabe [ab1]) und fis-d (ab T.82 Fl) ab, um ab T.84 zwecks Steigerung dann gleichzeitig zu erklingen.
Dies ist barbarisch! Jedenfalls nach klassischem Maßstab:
fis-d ist keine Stimmführung, sondern nur akkordinterne Brechung;
es-d hingegen ist Auflösung des Nonenvorhaltes in die Oktave,
zwei substantiell verschiedene, inkomensurable Phänomene.
Allesdings ist die None hier garnicht als Vorhalt, sondern als Klangbestandteil
gemeint (evtl. historisch herleitbar als "eingefrorener Vorhalt").
Also in doppelter Hinsicht inadäquates Verhalten!
In dem (allemal sehr begrüßenswerten)
Sammelband von Renate Ulm [ulm] schreibt Dorothea Redepenning
"Werkbetrachtung und Essay" über Bruckners Erste.
Bei der Abgrenzung der Formteile läßt sie die Df des ersten Satzes
erst mit T.144 beginnen.
Dies ist mehrfach unverständlich:
Zum einen bezeichnet Bruckner selber den von ihm angenommenen Df-Beginn
immer mit einem Doppelstrich.
"Die Form erscheint als Zeremoniell oder gar Ritual." [voss, S.38]
Dieser Doppelstrich steht hier vor T.107.
Zum zweiten beginnt mit der harmonischen Umdeutung ab T.107 eindeutig das, was bei Bruckner den größten Teil der Df-Arbeit ausmacht, das Erforschen der "Lücken" und "enharmonischen Notausgänge" von zunächst harmlos erscheinenden Akkordverbindungen.
Zum dritten sind die Df der Ecksätze überdeutlich auf einander bezogen. Beide sind klar zweiteilig: im ersten Satz wird erst das "Unisono-" oder "Choralthema" durchgeführt, dann das Hauptthema; im Finale zuerst das Hauptthema, dann der Seitensatz. Beide erreichen in ihrer Mitte, beim überdeutlich dargestellten Wechsel des Materials, mit Fis-Dur und H-Dur einen (nahezu) größtmöglichen Abstand zur Ausgangstonart.
Die Quarte cis-fis-cis im Horn, in T.144 des ersten Satzes ist also nicht der Anfang, sondern genau die (ästhetische) Mitte der Df.
Die Frage nach dem Df-Beginn als rein akademisch-theoretische ist überaus müßig.
Relevant ist sie nur, wenn sie konkrete Wahrnehmungsmechanismen bezeichnet.
Wann also der Hörer beginnt, das "In-Fluß-Kommen" des Materials und der Satzstruktur
als solches wahrzunehmen. Also bemerkt, dass "die Reise begonnen hat", und wann er folglich
erwartet, irgendwo (genauer: wieder nahe dem Ausgangspunkt) anzukommen.
Wie schon oft gesagt: nur als Kurz-Sprech-Weise für konkrete Wahrnehmungserfahrungen sind
Formteilbezeichnungen und -abgrenzungen überhaupt sinnvoll.
Den besten Überblick der formalen Gestaltungsprinzipien Bruckners, knapp und komplett, bringt Wolfram Steinbeck, auf 35 Seiten, vorangestellt dem eigentlichen Thema seines Werkes, der Neunten Sinfonie. [steinbeck]
Dort weist er u.a. überzeugend nach, dass die Abbrüche von Steigerungen immer
auf fern-liegende, nachfolgende Wieder-Aufnahme der Prozesse vor-verweisen.
Deutlich auch hier im Finale der Ersten: die Takte 283-296 der Rp entsprechen
deutlich (fast notengetreu)
den Takten 9-22 der Exp. Takt 297 ist eine angehängte Verdoppelung des
letzten Taktes.
Nach dem verdichtend mühsam erreichten Dominantklang
erfolgt aber eben nicht ein zweiter Hauptthemeneinsatz wie in der Exp, sondern
--- Abbruch auf der Dominante, gefolgt von Stille, Nachklang, Garnix.
Es folgt hier wie dort der SS, nun in C-Dur statt Es-Dur (überaus konventionell "eingerichtet") und von 19 auf 14 Takte verkürzt, und dann die Schlussgruppe, in nämlichem Tonartverhältnis. Also hier in der Rp mit einem ff-C-Dur einsetzend!
Dies aber ist zugleich Beginn der Coda. (Eigentlicher "offizieller" Beginn vielleicht mit dem pp in T.338!-) Das C-Dur wird zwar im folgenden noch mehrfach durchaus kurzfristig ausweichend verlassen werden, bestimmt aber dennoch durchgängig bis zum Ende des Satzes das Ende der ganzen Sinfonie. Auf genau diesen nur scheinbar unvermittelten ff C-Dur-Einsatz zielt aber die "abgebrochene Rp" hin, -- die Entsagung der c-moll-Wiederholung führt zum Triumph des C-Dur; die metaphysische Aussage übernimmt eine tragende Rolle in der formalen Architektur.
Ähnlich fernbezogen ist das in die Rf eingebaute, choralähnlich anmutende und ansonsten völlig unvermittelt scheinende Hornsolo ab T.252: der chromatische Schritt am Schluss b-h ist der Schritt in die Dominante und findet seine Begründung rückbezüglich, wenn in T.273 das HTh der Rp erreicht ist.
Damit verschränkt kann eine andere Fernbeziehung gehört werden:
Fast genau in der Mitte der Df wird nach einer c-moll-Flächenentwicklung nach
E-Dur gerückt (T.144). Dies kann hier noch etwas "gesucht" wirken, obwohl
es den Raum für den zweiten Df-Teil mit dem SS in H-Dur aufreißt.
Vielmehr aber wird es logisch vermittelt als "Fern-Dominante" auf das
erst in der Cd eintretende a-moll ab T.331, noch
verstärkt durch den Themeneinsatz auf der Fünften Stufe in T.340.
Charakteristisch für Bruckners Architekturen ist nicht nur "Steigerung und Durchbruch", wie andernorts beschrieben, sondern auch deren Gegenteil: ein systematischer Abbau von Spannung und Volumen. Diese de-crescendierenden Prozesse sind u.E. nicht weniger eindrucksvoll als die crescendierenden. Es gibt zwischen beiden Gemeinsamkeiten und Unterschiede:
Beeindruckendstes Beispiel ist der langsame Abbau des zweiten Stollens zum Abgesang
in T.141-63 des Adagios der Fünften Sinfonie.
Über 22 Takte wird durch solch inverse Steigerung ein einziger Moment angestrebt,
die Kadenz in die Tonika.
Allerdings wird aber mit diesem Punkt auch schlagartig eine ganze Wand eingerissen,
eine neue Welt betreten, beginnt die gewaltige Fläche der Schluss-Steigerung,
so dass dialektischerweise das Ziel der negativen Steigerung sowohl
kürzer als auch länger als das der crescendierenden ist:
das Erreichen des einen einzigen winzigen kitzligen null-dimensionalen Punktes
ist zugleich das Eröffnen eines viel breiteren, mehrdimensional gestaffelten Raumes,
statt nur eines ein-dimensionalen Themas.
Das vielgelobte und -zitierte Werk Anton Bruckner von Ernst Kurth [kurth] ist doch, jedenfalls der von uns bisher gelesene erste Band, eine herbe Enttäuschung!
So unternimmmt er z.B. über fünfzig Seiten, eine Charakteristik der seinen Protagonisten umgebenden Kultur zu entwerfen, -- also dessen, was man Mitte des 19. Jahrhunderts als "romantische Musik" bezeichnen kann. Dabei aber bleibt er im rein biographischen, programmatischen, explizit konzeptionellen, und wiederholt letztlich nur Vorurteile. Hier wäre präzise Vergleichsarbeit auf der Ebene der einzelnen Note nicht nur möglich, sondern sehr fruchtbar, ja, notwendig.
Des weiteren rauben mir die allerorten auftretenden "expressionistischen Neologismen"
den Nerv!
Da wird "umzittert" und "durchbebt",
in "Tiefendunkel" und "dunklem Urschoß" eine "Urerregung" und eine "Tiefenempfindsamkeit",
Es gibt "Hinahnen" und "Hinüberfühlen";
der Komponist war ein "selbstleuchtender Mensch".
"Durchwalten" und "durchwirken" in "Zuckungen einer Zeitgeschichte",
"Leuchten von Kraftstrahlen aus dem innern Urlicht",
"feinnervig durchzittert".
Es gibt "veratmende Kraft" und "Gegenaufwerfung" und
"hinhuschendes Kräfteverstreichen",
"abwärts schichtende Ansatzwellen" und "hinaufdrängende Tiefenflutung".
Die Werke sind "von neuem Geiste durchgossen" und ein "wilddurchschüttertes Klangmassiv".
Weiterhin gibt es "Zerbreitung im Verbeben" , "Anhauch", "Flutart" und "erschwellen";
"nachbebender Wellenanstoß",
"Formwucht" und sogar ein veritables "Nachziehen der Straffung".
Das alles wird schnell schier unterträglich!
(Und eine deutliche Warnung an den eigenen Stil !-)
Und wenn er nun die konkreten Analysen beginnt mit dem Anfang des Finales der Sechsten, und da auf das "Werden", de Prozess als den Grundzug der Gestaltung hinweist, so ist das richtig und ehrenwert. Allerdings, wenn man schon das Notenbeispiel bringt, sollte man doch genauer auf dessen Faktur eingehen: das Zentrale, das Aufregende, Tragende und Wichtigste sind, wie schon der flüchtige Blick zeigt, die vielen Nonen- und Sept-Parallelen (="Sekund-Stimmführung"!). Über die fällt kein einziges Wort.
Alles in allem: schade.
Wir hätten uns mehr erwartet.
Vielleicht wird der Zweite Band ja besser !?!?
Zum Adagio der Ersten Sinfonie hatte Verfasser bis vor kurzem gar keinen Zugang. Der Höhepunkt des zweiten Themas ist originell, einprägsam und ergreifend, -- sonst kam ihm alles recht nichtssagend vor.
Besonders der Anfang ist nichts als eine Folge zerklüfteter Einzelfragmente,
ohne Sinn und Zusammenhang. So meinte er. Und alles sehr unbefriedigend. So empfand er.
Dem entgegen aber trat dann dieses Zitat in [ulm]:
Ein tieferes, bedeutenderes Adagio ist seit Beethoven nicht geschrieben worden.
(Th. Helm, Deutsche Zeitung, nach Göllerich/Auer)
Hier nun einmal der Fall, dass die Lektüre analytisch-kritischer Bewertung tatsächlich
die Wahrnehmung veränderte: Verfasser sah noch einmal genauer hin, hörte
eine Mono-Schwarz-Weiß-Aufnahme 1967 mit dem jungen Claudio Abbado, und
--- wieder machte es "Klick im Kopf":
Das unzusammenhängende Eingangsfeld wird a posteriori gerechtfertigt durch sein
zweites Auftreten, wo es mit einem weitausladenden Violin-Kontrapunkt zusammengehalten wird.
Und das unrelierte Hintereinanderstellen verwürfelter Kleingestalten ist ja gerade Freiheit! Genau dasselbe wird im Adagio der Siebenten stehen, folgend auf die zusammenhängenden, trauermarschigen, in sich geschlossenen, zutiefst enblematischen ersten acht Takte. Als deren lockere Fortsetzung, als ihr frei assoziierender Gegensatz, als ihre Aufhebung und Überwindung.
Ja gerade die zunächst so unvermittelt befremdliche Rückung As-Dur -- A-Dur, das Sekundecho in T.7, ist in Wahrheit in Bruckner-typischer Weise a-posteriori-vermittelt, durch den übergeordneten Stufengang.
Von da aus erschloss sich auch die Schönheit von zweitem und drittem Thema, besonders der große Atem der Modulationen des Mittelteiles.
Die Gesamtform kann als A-B-C-A'-B' beschrieben werden, wobei der Höhepunkt mit der mediantischen Ent-Rückung Es-Dur--Ces-Dur--F-79 hier eine Quarte höher zweimal gebracht wird, das zweite Mal erweitert um eine unverbindliche Engführung.
Damit sind der Schluss des Satzes und dadurch auch sein Gesamtaufbau von äußerst gedrängter Knappheit, -- ganz im Gegensatz zum Ersterlebnis!
Die Nachgelassene Sinfonie in d-moll ist meine neueste Entdeckung!
Interessanterweise fehlt sie in der Sammlung seiner Partituren, allesamt erworben
in begeisterten Jugendjahren.
Inzwischen gilt als gesichert, dass dieses Werk zwischen der Ersten Sinfonie und der Zweiten entstand, -- also durchaus Teil der Reihe der "ernstzunehmenden" Werke ist.
Tatsächlich erscheint es uns, nach eingehenderer Beschäftigung, mittlerweile, dass dieses Werk nötig ist, um die Serie der Sinfonien, als Gesamt-Werk rezipiert, ins Gleichgewicht zu bringen. Nicht nur wegen der Tonartenfolgen, die mit c--d--c--d doch wenigstens ein wenig aufgelockert erscheint, sondern auch wegen der Satzstruktur und formaler Disposition, zu der die Nachgelassene d-moll-Sinfonie doch deutliche Alternativen beisteuert, siehe den formalen Aufbau des Finales, wo der Df-Hp den Rp-HTh-Einsatz ersetzen kann, trotz deutlicher Weiterentwicklung der Gestalt!
Allerdings sind die Einschätzungen dieses Werkes
in der Literatur oft wenig schmeichelhaft:
Wikipedia schreibt: "Attestiert man der „Nullten“, namentlich ihrem zweiten und
vierten Satz, auch oft ein gewisses unfertiges Erscheinungsbild [...]"
Leider ohne Referenz oder Autorenangabe, -- wir finden solche Aussagen zumindest
leichtfertig, -- Kritikpunkte sind entweder genau benennbar oder nur dummes Gerede.
Ähnlich Doris Sennefelder in [ulm, pg.45]:
"Trotz gelegentlicher dramaturgischer Schwächen, die sich nicht abstreiten
lassen [...]"
Welche denn bitte? Kann man die nicht benennen?
Wir würden da gerne mitdiskutieren ...
(Vielleicht der etwas unvermittelte Übergang zu Sechzehnteln in 1/T.135; oder die sehr rohe Chromatik 1/T.200 als Abschluss des überwältigend logischen Chorales; oder die "etwas billige" Methode, mit Oktavschlägen in HTh des Finales Engführungs-Eindruck zu schinden?)
In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass Frau Ulm die Betrachtung der Nullten immer noch VOR die der Ersten disloziert.
Dass er sie nur flüchtig kannte stellt sich aber im Nachhinein als Glücksfall heraus, dann so konne Verfasser den "Erkenntnis-Sprung", den er als Jugendlicher mit all den anderen Sinfonien erlebte, nun noch einmal unter dem Brennglas der bewußten Erwartung wiederholen.
In der Tat ereignete sich Ähnliches:
Während die HTh-Gruppe ihm sofort verständlich erschien (nach etlichen
Jahrzehnten Bruckner-Erfahrung!-), ja, die rückführenden Wiederholungen
ab T.13 eine schiere Offenbarung in ihrer schlichten Zweckmäßigkeit, war
die Exp des SS beim ersten Hören völlig unverständlich.
Ebenso der (dem entsprechende) Beginn der Df.
Besonders die "hakenden Synkopen", zunächst im Bass, dann überall, machten
uns zu schaffen.
Erst nach wiederholten Hören wurden diese gerechtfertigt, ja notwendig, durch
den übergeordneten Verdichtungsprozess bis hin zum Nachschlags-Ostinato der Coda.
Das SchlGr-Th / Choral-Thema erschien beim ersten Hören auch durchaus nichtssagend und vernachlässigbar, was sich änderte, als die Struktur der Rp mit ihrer Steigerung dahin verständlich geworden war.
Das Zweite Thema das Adagio zerfiel auch zu Beginn komplett in Einzelteile, und erst nach wiederholtem Hören konnte Verfasser es als eine der schönste melodischen Erfindungen des Meisters würdigen.
Hingegen war die Coda des Ersten Satzes, besonders die Horn- und Hbl-Rufe ab T.306 unmittelbar verständlich, als Verheißung höchsten Geheimnisses, etc., und Vorgriff auf den Anfang der Dritten ...
Alles in allem scheint uns die "Annulierung" dieses Werkes aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigen, -- es müssen Probleme der persönlichen Wertung gewesen sein. Erster Satz und Scherzo stehen durchaus auf der Höhe der umgebenden Werke; das Trio ist vielleicht das beste dieser drei; das Adagio hat nicht die formale Stringenz des Vorgängers, ist aber substantiell durchaus tragfähig.
Vieles viel später dann Hochbedeutendes ist hier vorweggenommen:
die Anschläge eins bis vier der Viola entsprechen gar den Tönen zwei bis fünf der
Neunten Sinfonie, und die Violine spielt am Ende des ersten Satzes
wörtlich den Oktavschlag aus deren Hauptthema!
Dazu die Abgesang-Melodie T.44 im Adagio, die zum
Kopf der Melodik im Trio der Neunten wurde.
Und das Finale ist eine Vorstudie zu dem der Fünften, und zugleich
ein gelungener Satz mit seinen eigenen Reizen
und einer im Gesamtwerk einzig dastehenden formalen Konzeption.
Die bisher beste Beschreibung der Brucknerschen Formprinzipien findet sich
u.E. bei Wolfram Steinbeck. In dessen Monogrpahie zur Neunten Sinfonie
[steinbeck] finden sich unter dem Titel "Bruckners symphonisches Konzept"
einleitende fünfunddreißig Seiten (pg.15-49) dazu,
Diese seien dem geneigten Leser herzlich empfohlen und dennoch hier kurz zusammengefasst:
Zunächst unterscheidet Steinbeck begrüßenswerterweise deutlich zwischen dem
"Schematisierten", also dem, was der Komponist sich als Formprinzip oder gar -korsett
selbst für die Gesamt-Serie aller Symphonien
allemal auferlegte, oder zu-grunde-legte, einerseits, und dem je Werk jeweils
neu gefundenem 'Charakteristischen', den je Sinfonie
jeweils "individuellen Lösungen" der durch das Schema ja erst nur aufgeworfenen Probleme.
((
Wir möchten dringend hinzufügen,
(da man das zugegebenermaßen deutlich Schematische dem Komponisten oft
zum Vorwurf machte)
dass (a) eine starke, einfache
und konstante Grundlage angesichts von Variabilität, Blütenreichtums und ständiger
Bewegung im Detail durchaus notwendig ist, und (b) diesen Konstanten eine ebenso umfangreiche
Menge an Variablen entgegensteht, nur halt nicht so auffällig.
))
Die weiteren wichtigen Aussagen des Textes lassen sich zusammenfassen wie folgt:
Steinbeck [steinbeck] deutet den Ablauf der Df des Ersten Satzes der Neunten quasi als recht eng definierte Augmentation des Themenablaufes.
Es ergibt sich zusammengefasst folgende Entsprechungen:
Th-Abschnitt | Df-Abschnitt | (Bemerkung) | |
T.3ff | Terz-Quint-Signal | T.227ff | |
T.19ff | Ces-Dur-Aufbäumung | T.245ff | |
T.27ff | Echo der Aufbäumung | T.305ff | |
T.51 | Steigerungsfeld | T.321ff | |
T.63 | Oktavsturz | T.333ff | (dtl. "Reprise") |
T.355ff | (Frtszg. Df) | ||
T.71 | akkord.Kadenz | T.531ff | (erst in der Cd) |
Dabei ist interessant der Wieder-Einbruch der fallenden Oktave des HTh in T.333. Dieser ist in mehrfacher Hinsicht wie eine typische Brucknersche Reprise angelegt:
Damit ist dieser Teil deutlich als Rp gemeint, und wie eine solche wahrzunehmen. Insbesondere ist der Eindruck des Themas ein "majestöser", ganz als Zentralmoment von erfüllter Erwartung, nach dem Prototyp von Beethovens Neunter. Auch Steinbeck nennt es "Kolossalereignis".
Trotz alldem geht aber danach, wie er sinngemäß bemerkt, etwas "Df-Artiges" weiter. "Eindeutiges Rp-Gefühl" ist danach erst wieder mit dem Einsatz des SS in T.421 erreicht.
Wie aber oben schon und oft an anderer Stelle bemerkt, sind Formteil-Etiketten meist nur zweckmäßig als Kurzsprechweisen für historisch und qua Vergleich etablierte Wahrnehmungsmuster: Es ist ja durchaus möglich, zum Zeitpunkt T.333 zweifelsfrei eine "Rp" zu hören, also das Gefühl des Wieder-Heimgekehrt-Seins, des Höhepunktes, der Erfüllung, etc., aber kurz später (ab T.355) wieder Df-Stimmung und -Verhalten zu empfinden, -- gleich wieder "unterwegs" zu sein. (Fremd bin ich eingezogen ...)
Im unmittelbar vorangehenden Satz, dem Finale der Achten Symphonie, läßt sich das exakt entgegengesetzte Verhalten erkennen: In der Df wird das HTh in zunehmenden Bruchstücken von hinten nach vorne präsentiert, -- folglich erreicht sein Erscheinen unmittelbar vor Rp-Einsatz seine ersten Einleitungstakte: Klein- und Großform falten sich vorbildlich in einander.
Im Einzelnen:
Th-Abschnitt | Df-Abschnitt | |
T.32ff | Nachsatz (Skalen-Kadenz) | T.301ff |
T.3ff | Vordersatz | T.345ff |
dto | dto. | T.387ff |
T1-2 | Einleitungs-Vorschläge | T.429ff |
T1 | Rp-Beginn | T.437ff |
Diesen Aufbau der Achten hatten wir auch vorher schon erkannt, und als Modell genommen für das knappe Finale unserer eigenen Fünften Sinfonie. Dort wird ein kurzes eigenes Thema aus vier Bestandteilen exponiert: es erklingt vollständig viermal auf unterschiedlichen Stufen.
Dann wird je Formteil ein Abschitt dieses Themas hinzugenommen, plus das Hauptthema aus einem vorangehenden Satz; beides von hinten nach vorne. Darüber ist definiert eine SHS-Form:
Exp | Df | Rp | |||
Finale HTh | |: 1-2-3-4 :| | 1 | |||
2 | |||||
3 | 3 | ||||
4 | 4 | 4 | |||
aus Satz: | 1 | 1 | |||
2 | 2 | ||||
3 | 3 | 3 |
Der Rp-Einsatz im Ersten Satz der Achten ist von "verdeckter" Typ, wie
z.B. auch von Brahms in seiner Vierten gewählt.
Die Oboe setzt T.283 dem HTh wieder ein. Da aber die Sechzehntel-Schleifer
der Gegenstimmen ubiquitär sind, kann in diesem "ryhthmischen Rauschen" dessen
Erklingen durchaus unbemerkt bleiben.
Jedoch ab T.291, mit dem Erklingen des wg. des Bruckner-Rhythmus so
prägnanten Nachsatzes
in der Trp, wird dieser Einsatz im Nachhinein zweifelsfrei als
Rp-Einsatz definiert, und rückbezüglich auch als solcher empfunden.
Voss [voss] schreibt: "Der Brucknersche Orchesterklang ist, was die Farbigkeit angeht, eher als karg zu beschreiben." und präzisiert das "neue und ungewohnte Klänge interessierten [ihn] nicht".
Dies ist zweifellos zutreffend. Diese Kargheit im Sinne der beschränkten Palette darf aber keinesfalls mit mangelnder Leuchtkraft verwechselt werden. Im Gegenteil! Gerade das kontrastieren der ungemischten Instrumentengruppen, horizontal sich abwechselnd oder vertikal geschichtet, gibt seinem Orchesterklang die Leuchtkraft und Durchsichtigkeit, welche die komplexen Stimmverläufe erst erlebbar macht!
Wir haben das konkret erfahren bei einem Konzert des Bruckner Orchestra of Japan in der Spandauer St.-Nikolai-Kirche, am 20159214: Es lief zunächst Bruckners Fünfte und danach, welch übler Fehler der Programmplanung, die Rheinische von Schumann.
Ganz abgesehen davon dass nach der Aphotheose des Choralthemas eh Stille, Reue und Zerknirschung angesagt ist, -- dass danach nix mehr kommen kann, -- allein schon die Klangfarben waren plötzlich aus der Kirche ausgezogen: matt, grau und gedämpft wimmerten uninteressante Mischungen vor sich hin, während doch eben noch jedes Instrument in klarer Charakteristik seine Formanten feiern durfte.
Nein, Bruckners Orchestrierung mag zwar in obigem Sinne "karg", also "beschränkt" sein, aber sie ist äußerst wirkungsvoll, zweckmäßig, logisch, erhebend, sinnlich und strahlend.
Unser Komponist hatte wenig praktische Erfahrungen mit großen Sinfonieorchestern. Nicht zuletzt deshalb ist der Ausgangspunkt seiner Instrumentierung immer ein einfaches, in Form und Satzstruktur begründetes schematisches Verfahren.
Umso überraschender die Meisterschaft im Erzielen von Durchhörbarkeit, Tiefenperspektive und Ausdrucksstärke.
Daneben gibt es auch durchaus Momente, wo Bruckner zu nachweisbaren manipulativen Tricks greift, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken und gleichzeitig dessen Zustandekommen zu verdecken:
Der Höhepunkt der ersten Hälfte der Df des Finales der Ersten Sinfonie ist
eine ff-Fläche: ansteigende Linie c-d-es-f-fis-g-gis, die sich
in monumentalen Ganzen Noten gegen den Liegeklang c+d+g aufbaut (ab T.134, wie immer hier
nach Ausgabe [ab1]).
(Der vorletzte Ton ist mit C-Dur harmonisiert; der Zielklang ist ein E-Dur; die ganze
Episode ein nur zeitweiliges Aus-Rücken aus einem H-Dur-ähnlichen Kontext.)
Der Eindruck der ersten beiden Klänge, also Melodietöne c und d, ist bestimmt durch die geschichteten leeren Quinten c+g+d, also der von unbewegter und zeitlos thronender Monumentalität.
Beim Übergang von c zum d wird in einer sehr beiläufigen Vorschlagsbewegung von nur zwei Achteln und nur in den Flöten mit der eingeschalteten Figurierung c-d-es-d aber der zweite Klang eindeutig nach moll eingefärbt, ohne dass, bis auf diese winzige Achtel, die Mollterz irgendwie vernehmbar wäre. In sehr vielen Aufnahmen, Live- oder Studio-, ist diese kleine Flötenfloskel nicht vernehmlich. Trotzdem färbt sie den folgenden Akkord und verstärkt die imposante Wirkung der terzlosen Quinttürmung, --- ein deutliches Beispiel einer Maßnahme, die wirken soll, aber nicht nachvollziehbar sein, --- etwas, das man nur "manipulativ" nennen kann.
Am Schluss des ersten und letzten Satzes der Fünften Sinfonie vollzieht nur die erste Vl einen Oktavsprung nach unten. Dieser ist nie deutlich hörbar, sondern nur der Eindruck einer leichten Abschattierung des allerletzten Akkordes. Dies reicht aber, einen "Kadenz-Eindruck" zu erzielen.
Der erste Hp des zweiten Themas im Adagio der Fünften Sinfonie bringt in T.59-60 in den Flöten eine Sechzehntel-Brechung des Gesamtklanges, der wie ein Kontrapunkt gesetzt ist, aber als melodisches Ereignis schwerlich hörbar werden kann. Er bewirkt allerdings eine schrittweise Aufhellung der mächtigen Akkorde des gesamten Bläser-Streicher-Satzes, so als würde, übertragen auf die Methoden des analogen elektronischen Studios "mit einem Hüllkurvengenerator ein Filter aufgezogen".
[ab1]
Erste Sinfonie -- Linzer Fassung Leopold Nowak(Hrsg.) Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien, 1955 |
[kurth]
Anton Bruckner -- Erster Band Georg Olms Verlag, Berlin, 1925 |
[steinbeck]
Bruckner Neunte Symphonie d-moll Wilhelm Fink, München, 1993 ISBN 3-7705-2783-6 |
[ulm]
Die Sinfonien Bruckners -- Entstehung, Deutung, Wirkung Renate Ulm(Hrsg.) Bärenreiter, Kassel, 1998 ISBN 3-7618-1590-5 |
[voss]
Die Brucknersche Symphonie -- Allgemeine Charakteristika in: [ulm] |
[madrei]
Gustav Mahler, Dritte Sinfonie, Erste Abtheilung Eine Annäherung Berlin, 2015 http://senzatempo.de/mahler/gmahler_sinf3_satz1.html |
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