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Kleines Archiv für Musikphilosophie


zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen

^inh 2017042600 monograph
Gedankensplitter zu Bruckner


1          Gedankensplitter
1.1          Das Formproblem im Finale der Ersten Sinfonie
1.2          Beispiel Brucknerscher Brutalität
1.2.1          Erste Sinfonie, Finale, Rf
1.2.2          Oktavparallelen der Außenstimmen in der SchlGr von I/1
1.2.3          Uneigentliche Stimmführung in I/3/Rf
1.3          Die Df der Ecksätze der Ersten entsprechen sich
1.4          Steigerungs-Abbruch, Entsagung und Fernbeziehung
1.5          Inverse Steigerung
1.6          Zur Monographie durch Ernst Kurth
1.7          Zum Adagio der Ersten
1.8          Zur Annulierten
1.9          Steinbeck zum Brucknerschen Formtypus
1.10          Verhältnis der Gliederungen von HTh und Df
1.10.1          Df und HTh im Ersten Satz der Neunten nach Steinbeck
1.10.2          Df und HTh im Finale der Achten
1.10.3          Exkurs: Finale unserer eigenen Fünften
1.11          Retro-Klarifikation nicht nur harmonisch, sondern auch groß-formal!
1.12          "Karge Klanglichkeit" und Leuchtkraft
1.13          Manipulative Tricks durch Bruckner
1.13.1          Im Finale der Ersten Sinfonie
1.13.2          Die Schlussakkorde in der Fünften Sinfonie
1.13.3          Der erstes Hp im Adagio der Fünften Sinfonie
2          Bibliographie

So lange es dem Verfasser nicht vergönnt ist, eine größere zusammenhängende Arbeit zu Anton Bruckner zu verfassen, seien hier einige Einzelgedanken zusammengetragen.

(20170430:) Die letzten Wochen beschäftigte er sich mit dem frühen Bruckner , also dem der Ersten bis Dritten Sinfonie, worauf sich also die meisten der folgenden Gedanken beziehen.
Andererseits ist dieses hier ein "Archiv" im Sinne von "Materialsammlung", nicht im Sinne von "Einfrierung", so dass sich diese Seiten wohl noch erweitern werden.

^Inh 1 Gedankensplitter

^Inh 1.1 Das Formproblem im Finale der Ersten Sinfonie

Interessanterweise hat es lange gedauert, bis der Verfasser zu diesem Werke einen Zugang gewann.
(Dabei sei vorausgeschickt, dass die "Linzer Fassung", und zwar so wie publiziert in der Gesamtausgabe Band I.1 [ab1], ihm die gültige erscheint und diesen Betrachtungen zugrunde liegt.)

Was ihn immer schon störte war der unübersichtliche Aufbau des Finales. Dieser stellt sich bei genauerer Kenntnis heraus als Folge einer bedauernswerten Inkonsequenz bei der Verteilung der Tonarten:
Das Wiedereinsetzen des Hauptthemas T.273 mit der sich mutig reckenden Oktave hätte einer der bewegendsten Repriseneinsätze der Geschichte werden können. Besonders, weil der Themenkopf selber nach wenigen Vierteln schon vom heroisch-duldenden moll in ein eher dominantisch-angespanntes DUR umgebogen wird. Der Themeneinsatz ist also zugleich beglückend wie auch schmerzhaft verzichtend.

Als großes Manko aber muss gelten, dass die Tonart c-moll nicht erst hier, T.273, sondern schon knapp fünfzig Takte vorher erreicht wird, in Tkt. 224. Dies vermindert die Wirkung der Kadenz beim Rp-Eintritt bedeutend.
Schade.

Einen solchen Anfängerfehler meint Verfasser schon mit siebzehn nicht mehr gemacht zu haben. Und auch Bruckner macht es sonst immer besser: Zwar wird auch im ersten Satz in T.181, also 18 Takte vor dem Rp-Eintritt in T.199, schon ein c-moll-Klang erreicht. Der aber wird sofort zum Quartsextvorhalt vor der weit auskomponierten Dominante umgewidmet, ein durchaus konventionelles und wirkungsvolles Verhalten.

Es KÖNNTE allerdings auch Absicht sein: Dann wird wegen der Tonart schon in T.224 der Eindruck "Rp" erweckt, und zwar in überwältigender Deutlichkeit, und wenn das Thema einsetzt, also "materialiter" Rp beginnt, endet genau diese c-moll-Fläche. Das wäre dann eine durchaus dialektische Konzeption: das c-moll nimmt an Präsenz, Wirkung und formaler Stellung konsequent ab, um dem C-Dur Platz zu machen.

Allerdings stehen anscheinend die durch Hunderte von Jahren und Werken eingeübten Gehörs-Mechanismen (jedenfalls beim Verfasser) einer Würdigung dieses Ablaufes durchaus entgegen ...
Das ist ein zumindest rezeptionstheoretisch interessantes Ergebnis.

^Inh 1.2 Beispiel Brucknerscher Brutalität

^Inh 1.2.1 Erste Sinfonie, Finale, Rf

Die Steigerung zur Kadenz zur Rp des Finales der Ersten Sinfonie ist auch in ganz anderer Hinsicht interessant. Die letzten Takte in HBl und Str lauten:

Bruckner, Erste Sinf., Finale, Steigerung zum Einsatz Rp

Mag die erste Halbe in T.270 noch als konventionell begründbare Stimmführung durchgehen (die Achtel f ist "Durchgang" in einen frei einsetzenden "Vorhalt" es-d), so ist die zweite Hälfte, mit ihrer "Auflösung" in den Einklang ganz am Schluss, vollkommen "unerlaubt".
Aber es funktioniert!

(Dies fällt in jene Kategorie moderner Satzweise, die wir im Kontext von Mahlers Dritter als Sekund-Stimmführung bezeichnet haben [madrei])
Das menschliche Hören wird als schichtig begriffen, -- mehrere unabhängige Schichten laufen parallel und werden als solche wahrgenommen, ohne zu verschmelzen, es sei denn in den letzten beiden Takten, wo die Verschmelzung als letzte Steigerung (dialektisch, durch Reduktion !-) vor dem Rp-Einsatz physisch tatsächlich stattfindet.

Die Wahrnehmung wird gleichsam "perspektivisch", man sieht den nahen Wipfel vor dem fernen Gipfel und dividiert sie im Kopfe problemlos auseinander.

Dies ist ein konkretes Beispiel für das, was Brucknern an "Rohheit" und "Primitivität" vorgeworfen wurde. Zu recht! Hier wird der materielle Charakter von Musik, dass da tatsächlich körperlich im Raum Leute sitzen, die Tonleitern tuten, als ein Naturphänomen in den Konzertsaal importiert, wie ein Orkan um die Felsnase heult, unberührt von all den Jahrhunderten der Entwicklung ästhetisch begründeter Satzregeln.

^Inh 1.2.2 Oktavparallelen der Außenstimmen in der SchlGr von I/1

Zu Beginn der Df des ersten Satzes der Ersten Sinfonie, bei dem ff wiederauftretenden SchlGr-Thema, bestehen mit fis-g beim Übergang T.122-123 und a-b bei T.125.126 die schier unverschämte Oktavparallelen der Außenstimmen, -- eine Grobheit, die eine Clara Schumann schockieren muss.

^Inh 1.2.3 Uneigentliche Stimmführung in I/3/Rf

In der Rf des Scherzos der Ersten Sinfonie wechseln sich in der dominantischen Steigerungsfläche zunächst die Rufe es-d (ab T.81 Fagott, Ausgabe [ab1]) und fis-d (ab T.82 Fl) ab, um ab T.84 zwecks Steigerung dann gleichzeitig zu erklingen.

Dies ist barbarisch! Jedenfalls nach klassischem Maßstab: fis-d ist keine Stimmführung, sondern nur akkordinterne Brechung; es-d hingegen ist Auflösung des Nonenvorhaltes in die Oktave, zwei substantiell verschiedene, inkomensurable Phänomene. Allesdings ist die None hier garnicht als Vorhalt, sondern als Klangbestandteil gemeint (evtl. historisch herleitbar als "eingefrorener Vorhalt").
Also in doppelter Hinsicht inadäquates Verhalten!

^Inh 1.3 Die Df der Ecksätze der Ersten entsprechen sich

In dem (allemal sehr begrüßenswerten) Sammelband von Renate Ulm [ulm] schreibt Dorothea Redepenning "Werkbetrachtung und Essay" über Bruckners Erste. Bei der Abgrenzung der Formteile läßt sie die Df des ersten Satzes erst mit T.144 beginnen.
Dies ist mehrfach unverständlich:
Zum einen bezeichnet Bruckner selber den von ihm angenommenen Df-Beginn immer mit einem Doppelstrich.
"Die Form erscheint als Zeremoniell oder gar Ritual." [voss, S.38]
Dieser Doppelstrich steht hier vor T.107.

Zum zweiten beginnt mit der harmonischen Umdeutung ab T.107 eindeutig das, was bei Bruckner den größten Teil der Df-Arbeit ausmacht, das Erforschen der "Lücken" und "enharmonischen Notausgänge" von zunächst harmlos erscheinenden Akkordverbindungen.

Zum dritten sind die Df der Ecksätze überdeutlich auf einander bezogen. Beide sind klar zweiteilig: im ersten Satz wird erst das "Unisono-" oder "Choralthema" durchgeführt, dann das Hauptthema; im Finale zuerst das Hauptthema, dann der Seitensatz. Beide erreichen in ihrer Mitte, beim überdeutlich dargestellten Wechsel des Materials, mit Fis-Dur und H-Dur einen (nahezu) größtmöglichen Abstand zur Ausgangstonart.

Die Quarte cis-fis-cis im Horn, in T.144 des ersten Satzes ist also nicht der Anfang, sondern genau die (ästhetische) Mitte der Df.

Die Frage nach dem Df-Beginn als rein akademisch-theoretische ist überaus müßig. Relevant ist sie nur, wenn sie konkrete Wahrnehmungsmechanismen bezeichnet. Wann also der Hörer beginnt, das "In-Fluß-Kommen" des Materials und der Satzstruktur als solches wahrzunehmen. Also bemerkt, dass "die Reise begonnen hat", und wann er folglich erwartet, irgendwo (genauer: wieder nahe dem Ausgangspunkt) anzukommen.
Wie schon oft gesagt: nur als Kurz-Sprech-Weise für konkrete Wahrnehmungserfahrungen sind Formteilbezeichnungen und -abgrenzungen überhaupt sinnvoll.

^Inh 1.4 Steigerungs-Abbruch, Entsagung und Fernbeziehung

Den besten Überblick der formalen Gestaltungsprinzipien Bruckners, knapp und komplett, bringt Wolfram Steinbeck, auf 35 Seiten, vorangestellt dem eigentlichen Thema seines Werkes, der Neunten Sinfonie. [steinbeck]

Dort weist er u.a. überzeugend nach, dass die Abbrüche von Steigerungen immer auf fern-liegende, nachfolgende Wieder-Aufnahme der Prozesse vor-verweisen.
Deutlich auch hier im Finale der Ersten: die Takte 283-296 der Rp entsprechen deutlich (fast notengetreu) den Takten 9-22 der Exp. Takt 297 ist eine angehängte Verdoppelung des letzten Taktes. Nach dem verdichtend mühsam erreichten Dominantklang erfolgt aber eben nicht ein zweiter Hauptthemeneinsatz wie in der Exp, sondern --- Abbruch auf der Dominante, gefolgt von Stille, Nachklang, Garnix.

Es folgt hier wie dort der SS, nun in C-Dur statt Es-Dur (überaus konventionell "eingerichtet") und von 19 auf 14 Takte verkürzt, und dann die Schlussgruppe, in nämlichem Tonartverhältnis. Also hier in der Rp mit einem ff-C-Dur einsetzend!

Dies aber ist zugleich Beginn der Coda. (Eigentlicher "offizieller" Beginn vielleicht mit dem pp in T.338!-) Das C-Dur wird zwar im folgenden noch mehrfach durchaus kurzfristig ausweichend verlassen werden, bestimmt aber dennoch durchgängig bis zum Ende des Satzes das Ende der ganzen Sinfonie. Auf genau diesen nur scheinbar unvermittelten ff C-Dur-Einsatz zielt aber die "abgebrochene Rp" hin, -- die Entsagung der c-moll-Wiederholung führt zum Triumph des C-Dur; die metaphysische Aussage übernimmt eine tragende Rolle in der formalen Architektur.

Ähnlich fernbezogen ist das in die Rf eingebaute, choralähnlich anmutende und ansonsten völlig unvermittelt scheinende Hornsolo ab T.252: der chromatische Schritt am Schluss b-h ist der Schritt in die Dominante und findet seine Begründung rückbezüglich, wenn in T.273 das HTh der Rp erreicht ist.

Volute

Damit verschränkt kann eine andere Fernbeziehung gehört werden: Fast genau in der Mitte der Df wird nach einer c-moll-Flächenentwicklung nach E-Dur gerückt (T.144). Dies kann hier noch etwas "gesucht" wirken, obwohl es den Raum für den zweiten Df-Teil mit dem SS in H-Dur aufreißt.
Vielmehr aber wird es logisch vermittelt als "Fern-Dominante" auf das erst in der Cd eintretende a-moll ab T.331, noch verstärkt durch den Themeneinsatz auf der Fünften Stufe in T.340.

^Inh 1.5 Inverse Steigerung

Charakteristisch für Bruckners Architekturen ist nicht nur "Steigerung und Durchbruch", wie andernorts beschrieben, sondern auch deren Gegenteil: ein systematischer Abbau von Spannung und Volumen. Diese de-crescendierenden Prozesse sind u.E. nicht weniger eindrucksvoll als die crescendierenden. Es gibt zwischen beiden Gemeinsamkeiten und Unterschiede:

  1. Beider Regelwerk ist "öffentlich": Sequenz- und Verkürzungsprozesse folgen systematischen Prinzipien; diese sind als solche erkennbar, der Prozess folglich nachvollziehbar, ja, vorher-hörbar.
  2. Dadurch soll der Eindruck erweckt werden von "überpersönlich", "naturgemäß", ja "zwangsläufig".
  3. Es wird also auch stets ein eindeutig bestimmter Zielpunkt erwartet. (Obwohl oft eine solche Erwartung ent-täuscht wird und der Zielpunkt weiter weg geschoben !-)
  4. Die Crescendo-Ballung zielt (fast immer) auf einen Themendurchbruch, also eine folgende ff-Fläche aus einer oder mehreren metrischen Perioden; das Decrescendo scheint mehr auf einen einzigen Moment, den End- und Schnitt-Punkt zu zielen, von dem aus dann eine neue Entwicklungswelle ausgeht.

Beeindruckendstes Beispiel ist der langsame Abbau des zweiten Stollens zum Abgesang in T.141-63 des Adagios der Fünften Sinfonie. Über 22 Takte wird durch solch inverse Steigerung ein einziger Moment angestrebt, die Kadenz in die Tonika.
Allerdings wird aber mit diesem Punkt auch schlagartig eine ganze Wand eingerissen, eine neue Welt betreten, beginnt die gewaltige Fläche der Schluss-Steigerung, so dass dialektischerweise das Ziel der negativen Steigerung sowohl kürzer als auch länger als das der crescendierenden ist: das Erreichen des einen einzigen winzigen kitzligen null-dimensionalen Punktes ist zugleich das Eröffnen eines viel breiteren, mehrdimensional gestaffelten Raumes, statt nur eines ein-dimensionalen Themas.

^Inh 1.6 Zur Monographie durch Ernst Kurth

Das vielgelobte und -zitierte Werk Anton Bruckner von Ernst Kurth [kurth] ist doch, jedenfalls der von uns bisher gelesene erste Band, eine herbe Enttäuschung!

So unternimmmt er z.B. über fünfzig Seiten, eine Charakteristik der seinen Protagonisten umgebenden Kultur zu entwerfen, -- also dessen, was man Mitte des 19. Jahrhunderts als "romantische Musik" bezeichnen kann. Dabei aber bleibt er im rein biographischen, programmatischen, explizit konzeptionellen, und wiederholt letztlich nur Vorurteile. Hier wäre präzise Vergleichsarbeit auf der Ebene der einzelnen Note nicht nur möglich, sondern sehr fruchtbar, ja, notwendig.

Des weiteren rauben mir die allerorten auftretenden "expressionistischen Neologismen" den Nerv!
Da wird "umzittert" und "durchbebt", in "Tiefendunkel" und "dunklem Urschoß" eine "Urerregung" und eine "Tiefenempfindsamkeit", Es gibt "Hinahnen" und "Hinüberfühlen"; der Komponist war ein "selbstleuchtender Mensch". "Durchwalten" und "durchwirken" in "Zuckungen einer Zeitgeschichte", "Leuchten von Kraftstrahlen aus dem innern Urlicht", "feinnervig durchzittert". Es gibt "veratmende Kraft" und "Gegenaufwerfung" und "hinhuschendes Kräfteverstreichen", "abwärts schichtende Ansatzwellen" und "hinaufdrängende Tiefenflutung". Die Werke sind "von neuem Geiste durchgossen" und ein "wilddurchschüttertes Klangmassiv". Weiterhin gibt es "Zerbreitung im Verbeben" , "Anhauch", "Flutart" und "erschwellen"; "nachbebender Wellenanstoß", "Formwucht" und sogar ein veritables "Nachziehen der Straffung".
Das alles wird schnell schier unterträglich!
(Und eine deutliche Warnung an den eigenen Stil !-)

Und wenn er nun die konkreten Analysen beginnt mit dem Anfang des Finales der Sechsten, und da auf das "Werden", de Prozess als den Grundzug der Gestaltung hinweist, so ist das richtig und ehrenwert. Allerdings, wenn man schon das Notenbeispiel bringt, sollte man doch genauer auf dessen Faktur eingehen: das Zentrale, das Aufregende, Tragende und Wichtigste sind, wie schon der flüchtige Blick zeigt, die vielen Nonen- und Sept-Parallelen (="Sekund-Stimmführung"!). Über die fällt kein einziges Wort.

Alles in allem: schade.

Wir hätten uns mehr erwartet.
Vielleicht wird der Zweite Band ja besser !?!?

^Inh 1.7 Zum Adagio der Ersten

Zum Adagio der Ersten Sinfonie hatte Verfasser bis vor kurzem gar keinen Zugang. Der Höhepunkt des zweiten Themas ist originell, einprägsam und ergreifend, -- sonst kam ihm alles recht nichtssagend vor.

Besonders der Anfang ist nichts als eine Folge zerklüfteter Einzelfragmente, ohne Sinn und Zusammenhang. So meinte er. Und alles sehr unbefriedigend. So empfand er.
Dem entgegen aber trat dann dieses Zitat in [ulm]:

Ein tieferes, bedeutenderes Adagio ist seit Beethoven nicht geschrieben worden.
(Th. Helm, Deutsche Zeitung, nach Göllerich/Auer)

Hier nun einmal der Fall, dass die Lektüre analytisch-kritischer Bewertung tatsächlich die Wahrnehmung veränderte: Verfasser sah noch einmal genauer hin, hörte eine Mono-Schwarz-Weiß-Aufnahme 1967 mit dem jungen Claudio Abbado, und --- wieder machte es "Klick im Kopf":
Das unzusammenhängende Eingangsfeld wird a posteriori gerechtfertigt durch sein zweites Auftreten, wo es mit einem weitausladenden Violin-Kontrapunkt zusammengehalten wird.

Und das unrelierte Hintereinanderstellen verwürfelter Kleingestalten ist ja gerade Freiheit! Genau dasselbe wird im Adagio der Siebenten stehen, folgend auf die zusammenhängenden, trauermarschigen, in sich geschlossenen, zutiefst enblematischen ersten acht Takte. Als deren lockere Fortsetzung, als ihr frei assoziierender Gegensatz, als ihre Aufhebung und Überwindung.

Ja gerade die zunächst so unvermittelt befremdliche Rückung As-Dur -- A-Dur, das Sekundecho in T.7, ist in Wahrheit in Bruckner-typischer Weise a-posteriori-vermittelt, durch den übergeordneten Stufengang.

Bruckner, Erste Sinf., Adagio, Anfang

Von da aus erschloss sich auch die Schönheit von zweitem und drittem Thema, besonders der große Atem der Modulationen des Mittelteiles.

Die Gesamtform kann als A-B-C-A'-B' beschrieben werden, wobei der Höhepunkt mit der mediantischen Ent-Rückung Es-Dur--Ces-Dur--F-79 hier eine Quarte höher zweimal gebracht wird, das zweite Mal erweitert um eine unverbindliche Engführung.

Damit sind der Schluss des Satzes und dadurch auch sein Gesamtaufbau von äußerst gedrängter Knappheit, -- ganz im Gegensatz zum Ersterlebnis!

^Inh 1.8 Zur Annulierten

Die Nachgelassene Sinfonie in d-moll ist meine neueste Entdeckung!
Interessanterweise fehlt sie in der Sammlung seiner Partituren, allesamt erworben in begeisterten Jugendjahren.

Inzwischen gilt als gesichert, dass dieses Werk zwischen der Ersten Sinfonie und der Zweiten entstand, -- also durchaus Teil der Reihe der "ernstzunehmenden" Werke ist.

Tatsächlich erscheint es uns, nach eingehenderer Beschäftigung, mittlerweile, dass dieses Werk nötig ist, um die Serie der Sinfonien, als Gesamt-Werk rezipiert, ins Gleichgewicht zu bringen. Nicht nur wegen der Tonartenfolgen, die mit c--d--c--d doch wenigstens ein wenig aufgelockert erscheint, sondern auch wegen der Satzstruktur und formaler Disposition, zu der die Nachgelassene d-moll-Sinfonie doch deutliche Alternativen beisteuert, siehe den formalen Aufbau des Finales, wo der Df-Hp den Rp-HTh-Einsatz ersetzen kann, trotz deutlicher Weiterentwicklung der Gestalt!

Allerdings sind die Einschätzungen dieses Werkes in der Literatur oft wenig schmeichelhaft:
Wikipedia schreibt: "Attestiert man der „Nullten“, namentlich ihrem zweiten und vierten Satz, auch oft ein gewisses unfertiges Erscheinungsbild [...]"
Leider ohne Referenz oder Autorenangabe, -- wir finden solche Aussagen zumindest leichtfertig, -- Kritikpunkte sind entweder genau benennbar oder nur dummes Gerede.
Ähnlich Doris Sennefelder in [ulm, pg.45]: "Trotz gelegentlicher dramaturgischer Schwächen, die sich nicht abstreiten lassen [...]"
Welche denn bitte? Kann man die nicht benennen? Wir würden da gerne mitdiskutieren ...

(Vielleicht der etwas unvermittelte Übergang zu Sechzehnteln in 1/T.135; oder die sehr rohe Chromatik 1/T.200 als Abschluss des überwältigend logischen Chorales; oder die "etwas billige" Methode, mit Oktavschlägen in HTh des Finales Engführungs-Eindruck zu schinden?)

In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass Frau Ulm die Betrachtung der Nullten immer noch VOR die der Ersten disloziert.

Volute

Dass er sie nur flüchtig kannte stellt sich aber im Nachhinein als Glücksfall heraus, dann so konne Verfasser den "Erkenntnis-Sprung", den er als Jugendlicher mit all den anderen Sinfonien erlebte, nun noch einmal unter dem Brennglas der bewußten Erwartung wiederholen.

In der Tat ereignete sich Ähnliches:

Während die HTh-Gruppe ihm sofort verständlich erschien (nach etlichen Jahrzehnten Bruckner-Erfahrung!-), ja, die rückführenden Wiederholungen ab T.13 eine schiere Offenbarung in ihrer schlichten Zweckmäßigkeit, war die Exp des SS beim ersten Hören völlig unverständlich. Ebenso der (dem entsprechende) Beginn der Df. Besonders die "hakenden Synkopen", zunächst im Bass, dann überall, machten uns zu schaffen.
Erst nach wiederholten Hören wurden diese gerechtfertigt, ja notwendig, durch den übergeordneten Verdichtungsprozess bis hin zum Nachschlags-Ostinato der Coda.

Das SchlGr-Th / Choral-Thema erschien beim ersten Hören auch durchaus nichtssagend und vernachlässigbar, was sich änderte, als die Struktur der Rp mit ihrer Steigerung dahin verständlich geworden war.

Das Zweite Thema das Adagio zerfiel auch zu Beginn komplett in Einzelteile, und erst nach wiederholtem Hören konnte Verfasser es als eine der schönste melodischen Erfindungen des Meisters würdigen.

Hingegen war die Coda des Ersten Satzes, besonders die Horn- und Hbl-Rufe ab T.306 unmittelbar verständlich, als Verheißung höchsten Geheimnisses, etc., und Vorgriff auf den Anfang der Dritten ...

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Alles in allem scheint uns die "Annulierung" dieses Werkes aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigen, -- es müssen Probleme der persönlichen Wertung gewesen sein. Erster Satz und Scherzo stehen durchaus auf der Höhe der umgebenden Werke; das Trio ist vielleicht das beste dieser drei; das Adagio hat nicht die formale Stringenz des Vorgängers, ist aber substantiell durchaus tragfähig.

Vieles viel später dann Hochbedeutendes ist hier vorweggenommen: die Anschläge eins bis vier der Viola entsprechen gar den Tönen zwei bis fünf der Neunten Sinfonie, und die Violine spielt am Ende des ersten Satzes wörtlich den Oktavschlag aus deren Hauptthema!
Dazu die Abgesang-Melodie T.44 im Adagio, die zum Kopf der Melodik im Trio der Neunten wurde.
Und das Finale ist eine Vorstudie zu dem der Fünften, und zugleich ein gelungener Satz mit seinen eigenen Reizen und einer im Gesamtwerk einzig dastehenden formalen Konzeption.

^Inh 1.9 Steinbeck zum Brucknerschen Formtypus

Die bisher beste Beschreibung der Brucknerschen Formprinzipien findet sich u.E. bei Wolfram Steinbeck. In dessen Monogrpahie zur Neunten Sinfonie [steinbeck] finden sich unter dem Titel "Bruckners symphonisches Konzept" einleitende fünfunddreißig Seiten (pg.15-49) dazu,
Diese seien dem geneigten Leser herzlich empfohlen und dennoch hier kurz zusammengefasst:

Zunächst unterscheidet Steinbeck begrüßenswerterweise deutlich zwischen dem "Schematisierten", also dem, was der Komponist sich als Formprinzip oder gar -korsett selbst für die Gesamt-Serie aller Symphonien allemal auferlegte, oder zu-grunde-legte, einerseits, und dem je Werk jeweils neu gefundenem 'Charakteristischen', den je Sinfonie jeweils "individuellen Lösungen" der durch das Schema ja erst nur aufgeworfenen Probleme.
((
Wir möchten dringend hinzufügen, (da man das zugegebenermaßen deutlich Schematische dem Komponisten oft zum Vorwurf machte) dass (a) eine starke, einfache und konstante Grundlage angesichts von Variabilität, Blütenreichtums und ständiger Bewegung im Detail durchaus notwendig ist, und (b) diesen Konstanten eine ebenso umfangreiche Menge an Variablen entgegensteht, nur halt nicht so auffällig.
))

Die weiteren wichtigen Aussagen des Textes lassen sich zusammenfassen wie folgt:

  1. Die Folge aller vorangehenden Sinfonien gibt jeweils "die Vorgeschichte [ab], auf der das Besondere erst greifbar wird."
  2. "Bruckners Symphonien verbindet ein übergeordnetes 'Problem', eine gemeinsame symphonische Idee." Diese ist eine "immanent musikalische".
  3. Es ist in der Folge der Sinfonien zwar eine Entwicklung abzulesen, aber nicht im Sinne der Annhäherung an ein Ziel, an eine ideale Lösung. "Die Siebente ist nicht weiter als die Fünfte".
  4. Ziel und Inhalt ist "Monumentalität". Dazu dienen konkrete Maßnahmen im Kleinen:
  5. Die Folge von immer zwei Takten bildet die kompositorische Grundeinheit; ihre Stellung innerhalb des metrischen Rasters ist konsititutiv für ihren Inhalt. Das Raster fast maximal 16 Takte zusammen. "Es garantiert Faßlichkeit und Überschaubarkeit in einem so groß dimensionierten Zusammenhang".
  6. "Bausteinartige Reihungstechnik" legt das "Fundament der monumentalen symphonischen 'Gebäude'." Nur Konseqenz der Reihungstechnik sind dann "vehemente dynamische Gegensätze, scharfe Zäsuren, scheinbar unvermittelte Einschübe", etc.
  7. Dennoch ist das Gesamtergebnis ein "höchst kohärenter Prozess", durch Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen:
  8. Die Enden der Perioden sind dominantisch, erwecken also Erwartungshaltung zum Anfang der nächsten Periode. Diese wird oft ent-täuscht (oder verzögert) durch mediante Vertretung etc.
  9. Die Themen vereinbaren Identität und Verwandlungsfähigkeit, weil sie durch charakteristische Kerne (Rhythmen, Tonfolgen, etc.) leicht wiedererkennbar / "abrufbar" sind. "Thematisch werden" heißt als "Substanz" (=Material) einen formalen Prozess bestimmen.
  10. Die Variantenbildung der Themen folgen der Struktur der metrischen Blöcke, "sprunghafte Veränderung in feiner Nuancierung".
  11. Wichtigstes formales Gliederungsereignis ist der "Durchbruch".
  12. Dieser ist Ziel einer Steigerungsfläche ("Ballung"), gekennzeichnet durch (a) "Zunahme an rhythmischer Aktionsdichte, [(b)] Reduktion kürzer werdender Motivteile bis auf einen ostinaten, [(c)] zunehmende Beteiligung der Instrumente bis zum gesamten Orchester," insgesamt (d) "Nivellierung des Thematischen".
    (Wir fügen hinzu: (e) Nachvollziehbarkeit des Prozesses, also Durchhörbarkeit der Verkürzungs-/Verdichtungs-Regeln und Voraussehbarkeit des ryhthmischen Zielpunktes.)
  13. "Auflösung des Thematischen" ist Teil des Prinzips: Der Kern des Themas geht in der "Ballung" unter und färbt die entstehenden Klangflächen.
  14. Aufgrund der Aufgeladenheit der Ballungs-Flächen mit Thematischem erhält der folgende Durchbruch eine "spektakuläre Wirkung" und wird zum "tatsächlich herausragenden Ereignis". "Das Spektakuläre ist das Moment des Monumentalen."
  15. Die Themen sind schon so entworfen, dass sie kontrapunktische Kombinationen mit sich selbst ermöglichen, z.B. in Umkehrung oder Augmentation. Dabei können die thematischen Gestalten "zurechtgebogen werden, ohne dass ihre Identität verloren ginge." (Dies wg. o.e. 'charakteristischer Kerne'.)
  16. "Das spektakuläre Wiederkehren der Hauptthemen [...] schafft Form und Zusammenhang". Dies hat eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt der Form der Einzelsatzes, aber auch für die gesamte Sinfonie.
  17. Das "Individuelle" des Themas wird "aufgehoben" im Gesamtklang.
  18. Die Ecksätze stehen in geraden Takten (meist 2/2). Sie folgen der SHS-Form, der erste Satz strenger, das Finale freier.
  19. "Trithematische Sonatensatzform [gewährleistet] die Synthese von architektonischer Symmetrie (mehrfache Bogenform) und prozessualer Zielgerichtetheit (gleichsam ansteigende Wellenform)."
  20. Die Exp weist (als Erweiterung der vom Komponisten historisch vorgefundenen SHS-Form) vier Felder auf, mit je eigener Funktion.
  21. Es gibt keine Expositionswiederholungen.
  22. Im ersten Feld der Exp wird, nach einem Vorspiel von zwei oder vier Takten, das HTh exponiert und nach kurzer Zeit schon zu einem Höhepunkt geführt.
    Soweit reicht das "Schematisierte". Auf welche Weise dies aber im Einzelnen geschieht, ist für jedes Thema und in jeder Sinfonie anders. Dadurch läßt sich schon gut der Unterschied zwischen Schema und Charakteristischem zeigen.
  23. Fast immer wird das HTh wiederholt (nur nicht IV und IX, wegen innerer Mehrteiligkeit). Oft folgt auf ein erstes Erklingen in pp ein zweites im ff (so V, VI, VIII).
  24. Das erste Feld beinhaltet eine erste Steigerung. Diese kann zugunsten der Gesamtarchitektur nur eine relativ schwache sein. Das erste Feld endet "fast abrupt".
  25. Das zweite Feld ist ein "Gegenstück" und präsentiert das "Gesangtshema" in "sanglich-lyrischem Tonfall". "Gegensatz ist total: in Satztechnik, Charakter, Form und Funktion im symphonischen Gesamtprozess."
    Fast immer (bis auf VII/1) beginnen die Streicher. Die Form ist A-B-A', mit eigenem Hp im Mittelteil. Also Bogenform gegen Entwicklung
  26. Variierende Folge eines zweitaktigen Modelles: zwei melodische Linien, "die einander gleichsam umranken".
  27. Erstes Feld: auf Ziel hin strebende Entwicklung; zweites Feld: Suspendierung der "vorwärtsgerichtete[n] Kraft", die aber "auf einer hintergründigen Ebene dennoch wirksam [bleibt]".
  28. Drittes Feld: Zunahme der Aktionsdichte, Verkürzung der Einheiten. "Unisono-Thema". "Tendenz zur Vereinigung der vorausgegangenen Gegensätze", auch motivisch und bzgl. der Funktion im Gesamten. Wichtige Funktion: Steigerungsmöglichkeit. Nicht Exp-Abschluss sondern Exp-Höhepunkt (="Haupt-Höhepunkt der Exp"). Aber (fast immer) kein Durchbruch des HTh = eigentliches Ziel noch aufgespart. Dies schafft Zusammenhang bis zur Cd.
  29. Immer "Abbruch [...] auf dominantisch-offenen Ballungsklang."
  30. Viertes Feld: "Thematischer Freiraum". "Auflösung bis zum Stillstand", "Nivellierungs-Prozess", "thematisch ungebundene, freie Einschübe". Zitate. "Gleichsam von außen kommendes, vorgefertigtes Material."
  31. Fehlt in Rp.
  32. Df-Beginn wandelt diesen Prozess "in neues Beginnen [um]".
  33. Df: meist vier bis fünf Abschnitte.
    "Bislang größte Steigerungsbewegung und [...] erster tatsächlicher Themendurchbruch."
  34. Nur das ist schematisiert, -- wann und wie dies stattfindet ist je Werk "individuell".
  35. Grundlage der Rp ist zunächst die notengetreue Wiederholung, aber "nicht als Pflichterfüllung", sondern aus Konzept.
  36. 'Potenzierte Bogenform' [A=a-b-a']--B--[A'=a-b-a']; Exp-Df-Rp spiegeln die Dreiteiligkeit der Exp.
  37. Aber zugleich Steigerungstendenz: Rp ist Wdh auf höherer Ebene:
    1. HTh-Wiederholung fällt weg
    2. Zusätzliche Kp in HTh und SS
    3. Höhepunkte der Exp werden überboten
    4. Abbruch des Unisono-Themas (Feld drei) noch abrupter
    5. Evtl. schon Durchbruch des HTh im Hp
  38. Cd: Beginn "pianissimo und gespannt".
  39. "In mehrfachen Anläufen kommt es zum Haupthöhepunkt des Satzes, der noch weit über dem der Df liegt." "Der 'endgültige' Durchbruch des vielfach wiederholten Hauptthemenkerns."
  40. Finalsatz:
    Gesamtkonzeption ist "final": die Exp hat ihren Höhepunkt im dritten Feld; der Kopfsatz in seiner Cd; die Sinfonie im letzten Satz. In dessen Cd bricht das HTh des ersten Satzes durch.
  41. Formale Anlage des Finales freier als die des Kopfsatzes, aber grundsätzlich ähnlich. Grund: Sie soll der des Kopfsatzes entsprechen, und sie zugleich übertreffen. Diese "geradezu paradoxe" Forderung bringt Bruckner "in nicht unerhebliche Schwierigkeiten" und führt zu den sehr individuellen Lösungen für die Finales.
  42. "Nachdem alles gesagt ist, was gesagt werden kann, soll das Unsagbare Sprache gewinnen. (Rudolf Louis)"
  43. Unterschiede zum Kopfsatz (fast immer): (a) es gibt eine Hinführung zum Thema, welches mit einem Durchbruch einsetzt.
  44. HTh des Finales ist "aktionsreicher, drängender, auftrumpfender" als das des Kopfsatzes. Aber "unmittelbar verwandt" mit diesem.
  45. Dies ist nötig damit der endgültige Durchbruch des ersten HTh "nicht aufgesetzt und herbeigeholt wirkt".
  46. Auch die Binnensätze sind "schematisiert".
  47. Alle langsamen Sätze stehen im 4/4-Takt und sind (bis auf IV) mit "Adagio" überschrieben.
  48. Zumeist nur zwei Themen. Drei Abteilungen. Alle beginnen mit dem HTh in seiner Grundtonart.
    Die zweite hat "Züge einer Durchführung".
    Die dritte ist Reprise als "erneut strophiches und zugleich gesteigertes Wiederholen". Sie bringt nur das erste Thema, zum Durchbruch gesteigert.
    ((Was die Auflistung der Ausnahmen und die abeichenden Formpläne angeht, sind wir allerdings deutlich anderer Meinung: die drei-thematischen Sätze sind mit I, III und VI garnicht so selten, und folgen teils ganz anderer formaler Anlage.))
  49. Durchbruch ist primär ein harmonisches Ereignis, nämlich die Folge "übermäßiger Quintsextakkord in dominantischen Quartsext-Vorhalt, z.B. as+es+g+fis-- g+c+e+g
  50. Diese Durchbrüche "trotz der unterschiedlichen Grundtonarten der Sätze mehrfach C-Dur".
  51. Im Ggs zu den Ecksätzen wird die Rp nicht (zugunsten der Cd) "überrollt" sondern wird "zum Ort der Erfüllung des Satzprozesses."
  52. "Der Satz [geht] in gleichsam verklärten Niedersinken zu Ende."
  53. Die Scherzi stehen im 3/4-Takt (bis auf VI).
  54. Sie folgen "dem alten Vorbild der 'sonatisierten' Menuettform mit Trio".
  55. Sie sind ein "'Fest' des Rhythmus".
  56. Die Wiederholungszeichen um Exp und Df-Rp fallen ab II fort und werden ersetzt durch eine 'auskomponierte Wiederholung' des Hauptthemas (Exp=A-A2)
  57. Höhepunkt Ende der Exp (meist im 'ff') und mehr noch Ende der Rp ('fff'). Aber eben kein Themendurchbruch, weil (a) Thema dafür nicht geeignet, und (b) auf das Finale verwiesen werden soll.
  58. Nach Kopfsatz = drei Themen und langsamer Satz = zwei Themen hier nur noch ein(1) Thema.
    ((Nunja, nette Beobachtung, aber wir können ihr nicht vollständig zustimmen: das Scherzo der V hat mindestens zwei deutlich verschiedene Themen. Ja bereits das der Ersten kann als bithematisch aufgefasst werden.))
  59. Trio: "Behaglicher Tonfall [...] im Gegensatz zum Scherzo [...] bringt dessen Vehemenz um so krasser zur Wirkung."
  60. Das Adagio nimmt auf den Charakter des Gesangsthemas des Kopfsatzes, das Scherzo den der Schlussgruppe. "Adagio und Scherzo teilen sich gleichsam in Gestaltungsprinzipien, die der Kopfsatz vorgab". Damit ist aber eine weitere Funktion des Finales die "'Wiedervereinigung' der 'auseinandergelegten' Prinzipien."
  61. (Umstellung in Achter und Neunter kann erklärt werden u.a. aus dem "finalen Prinzip", nämlich Anordnung nach steigendem Gewicht.)

^Inh 1.10 Verhältnis der Gliederungen von HTh und Df

^Inh 1.10.1 Df und HTh im Ersten Satz der Neunten nach Steinbeck

Steinbeck [steinbeck] deutet den Ablauf der Df des Ersten Satzes der Neunten quasi als recht eng definierte Augmentation des Themenablaufes.

Es ergibt sich zusammengefasst folgende Entsprechungen:

Th-Abschnitt Df-Abschnitt (Bemerkung)
T.3ff Terz-Quint-Signal T.227ff
T.19ff Ces-Dur-Aufbäumung T.245ff
T.27ff Echo der Aufbäumung T.305ff
T.51 Steigerungsfeld T.321ff
T.63 Oktavsturz T.333ff (dtl. "Reprise")
T.355ff (Frtszg. Df)
T.71 akkord.Kadenz T.531ff (erst in der Cd)

Dabei ist interessant der Wieder-Einbruch der fallenden Oktave des HTh in T.333. Dieser ist in mehrfacher Hinsicht wie eine typische Brucknersche Reprise angelegt:

  1. Deutlicher Rückbezug zur Exp, hier noch verstärkt durch die Wiederholung der vorangehenden "Zusammenballung".
  2. Zusätzlicher Kp
  3. Abspaltung und Sequenzierung des Themenkopfes, wie auch in IV/4/Rp oder VIII/4/Rp, unmittelbar vorangehend.

Damit ist dieser Teil deutlich als Rp gemeint, und wie eine solche wahrzunehmen. Insbesondere ist der Eindruck des Themas ein "majestöser", ganz als Zentralmoment von erfüllter Erwartung, nach dem Prototyp von Beethovens Neunter. Auch Steinbeck nennt es "Kolossalereignis".

Trotz alldem geht aber danach, wie er sinngemäß bemerkt, etwas "Df-Artiges" weiter. "Eindeutiges Rp-Gefühl" ist danach erst wieder mit dem Einsatz des SS in T.421 erreicht.

Wie aber oben schon und oft an anderer Stelle bemerkt, sind Formteil-Etiketten meist nur zweckmäßig als Kurzsprechweisen für historisch und qua Vergleich etablierte Wahrnehmungsmuster: Es ist ja durchaus möglich, zum Zeitpunkt T.333 zweifelsfrei eine "Rp" zu hören, also das Gefühl des Wieder-Heimgekehrt-Seins, des Höhepunktes, der Erfüllung, etc., aber kurz später (ab T.355) wieder Df-Stimmung und -Verhalten zu empfinden, -- gleich wieder "unterwegs" zu sein. (Fremd bin ich eingezogen ...)

^Inh 1.10.2 Df und HTh im Finale der Achten

Im unmittelbar vorangehenden Satz, dem Finale der Achten Symphonie, läßt sich das exakt entgegengesetzte Verhalten erkennen: In der Df wird das HTh in zunehmenden Bruchstücken von hinten nach vorne präsentiert, -- folglich erreicht sein Erscheinen unmittelbar vor Rp-Einsatz seine ersten Einleitungstakte: Klein- und Großform falten sich vorbildlich in einander.

Im Einzelnen:

Th-Abschnitt Df-Abschnitt
T.32ff Nachsatz (Skalen-Kadenz) T.301ff
T.3ff Vordersatz T.345ff
dto dto. T.387ff
T1-2 Einleitungs-Vorschläge T.429ff
T1 Rp-Beginn T.437ff

^Inh 1.10.3 Exkurs: Finale unserer eigenen Fünften

Diesen Aufbau der Achten hatten wir auch vorher schon erkannt, und als Modell genommen für das knappe Finale unserer eigenen Fünften Sinfonie. Dort wird ein kurzes eigenes Thema aus vier Bestandteilen exponiert: es erklingt vollständig viermal auf unterschiedlichen Stufen.

Dann wird je Formteil ein Abschitt dieses Themas hinzugenommen, plus das Hauptthema aus einem vorangehenden Satz; beides von hinten nach vorne. Darüber ist definiert eine SHS-Form:

Exp Df Rp
Finale HTh |: 1-2-3-4 :| 1
2
3 3
4 4 4
aus Satz: 1 1
2 2
3 3 3

^Inh 1.11 Retro-Klarifikation nicht nur harmonisch, sondern auch groß-formal!

Der Rp-Einsatz im Ersten Satz der Achten ist von "verdeckter" Typ, wie z.B. auch von Brahms in seiner Vierten gewählt.
Die Oboe setzt T.283 dem HTh wieder ein. Da aber die Sechzehntel-Schleifer der Gegenstimmen ubiquitär sind, kann in diesem "ryhthmischen Rauschen" dessen Erklingen durchaus unbemerkt bleiben.
Jedoch ab T.291, mit dem Erklingen des wg. des Bruckner-Rhythmus so prägnanten Nachsatzes in der Trp, wird dieser Einsatz im Nachhinein zweifelsfrei als Rp-Einsatz definiert, und rückbezüglich auch als solcher empfunden.

^Inh 1.12 "Karge Klanglichkeit" und Leuchtkraft

Voss [voss] schreibt: "Der Brucknersche Orchesterklang ist, was die Farbigkeit angeht, eher als karg zu beschreiben." und präzisiert das "neue und ungewohnte Klänge interessierten [ihn] nicht".

Dies ist zweifellos zutreffend. Diese Kargheit im Sinne der beschränkten Palette darf aber keinesfalls mit mangelnder Leuchtkraft verwechselt werden. Im Gegenteil! Gerade das kontrastieren der ungemischten Instrumentengruppen, horizontal sich abwechselnd oder vertikal geschichtet, gibt seinem Orchesterklang die Leuchtkraft und Durchsichtigkeit, welche die komplexen Stimmverläufe erst erlebbar macht!

Wir haben das konkret erfahren bei einem Konzert des Bruckner Orchestra of Japan in der Spandauer St.-Nikolai-Kirche, am 20159214: Es lief zunächst Bruckners Fünfte und danach, welch übler Fehler der Programmplanung, die Rheinische von Schumann.

Ganz abgesehen davon dass nach der Aphotheose des Choralthemas eh Stille, Reue und Zerknirschung angesagt ist, -- dass danach nix mehr kommen kann, -- allein schon die Klangfarben waren plötzlich aus der Kirche ausgezogen: matt, grau und gedämpft wimmerten uninteressante Mischungen vor sich hin, während doch eben noch jedes Instrument in klarer Charakteristik seine Formanten feiern durfte.

Nein, Bruckners Orchestrierung mag zwar in obigem Sinne "karg", also "beschränkt" sein, aber sie ist äußerst wirkungsvoll, zweckmäßig, logisch, erhebend, sinnlich und strahlend.

^Inh 1.13 Manipulative Tricks durch Bruckner

Unser Komponist hatte wenig praktische Erfahrungen mit großen Sinfonieorchestern. Nicht zuletzt deshalb ist der Ausgangspunkt seiner Instrumentierung immer ein einfaches, in Form und Satzstruktur begründetes schematisches Verfahren.

Umso überraschender die Meisterschaft im Erzielen von Durchhörbarkeit, Tiefenperspektive und Ausdrucksstärke.

Daneben gibt es auch durchaus Momente, wo Bruckner zu nachweisbaren manipulativen Tricks greift, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken und gleichzeitig dessen Zustandekommen zu verdecken:

^Inh 1.13.1 Im Finale der Ersten Sinfonie

Der Höhepunkt der ersten Hälfte der Df des Finales der Ersten Sinfonie ist eine ff-Fläche: ansteigende Linie c-d-es-f-fis-g-gis, die sich in monumentalen Ganzen Noten gegen den Liegeklang c+d+g aufbaut (ab T.134, wie immer hier nach Ausgabe [ab1]).
(Der vorletzte Ton ist mit C-Dur harmonisiert; der Zielklang ist ein E-Dur; die ganze Episode ein nur zeitweiliges Aus-Rücken aus einem H-Dur-ähnlichen Kontext.)

Der Eindruck der ersten beiden Klänge, also Melodietöne c und d, ist bestimmt durch die geschichteten leeren Quinten c+g+d, also der von unbewegter und zeitlos thronender Monumentalität.

Beim Übergang von c zum d wird in einer sehr beiläufigen Vorschlagsbewegung von nur zwei Achteln und nur in den Flöten mit der eingeschalteten Figurierung c-d-es-d aber der zweite Klang eindeutig nach moll eingefärbt, ohne dass, bis auf diese winzige Achtel, die Mollterz irgendwie vernehmbar wäre. In sehr vielen Aufnahmen, Live- oder Studio-, ist diese kleine Flötenfloskel nicht vernehmlich. Trotzdem färbt sie den folgenden Akkord und verstärkt die imposante Wirkung der terzlosen Quinttürmung, --- ein deutliches Beispiel einer Maßnahme, die wirken soll, aber nicht nachvollziehbar sein, --- etwas, das man nur "manipulativ" nennen kann.

^Inh 1.13.2 Die Schlussakkorde in der Fünften Sinfonie

Am Schluss des ersten und letzten Satzes der Fünften Sinfonie vollzieht nur die erste Vl einen Oktavsprung nach unten. Dieser ist nie deutlich hörbar, sondern nur der Eindruck einer leichten Abschattierung des allerletzten Akkordes. Dies reicht aber, einen "Kadenz-Eindruck" zu erzielen.

^Inh 1.13.3 Der erstes Hp im Adagio der Fünften Sinfonie

Der erste Hp des zweiten Themas im Adagio der Fünften Sinfonie bringt in T.59-60 in den Flöten eine Sechzehntel-Brechung des Gesamtklanges, der wie ein Kontrapunkt gesetzt ist, aber als melodisches Ereignis schwerlich hörbar werden kann. Er bewirkt allerdings eine schrittweise Aufhellung der mächtigen Akkorde des gesamten Bläser-Streicher-Satzes, so als würde, übertragen auf die Methoden des analogen elektronischen Studios "mit einem Hüllkurvengenerator ein Filter aufgezogen".

^Inh 2 Bibliographie

[ab1]
Erste Sinfonie -- Linzer Fassung
Leopold Nowak(Hrsg.)
Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien, 1955

[kurth]
Ernst Kurth
Anton Bruckner -- Erster Band
Georg Olms Verlag, Berlin, 1925

[steinbeck]
Wolfram Steinbeck
Bruckner Neunte Symphonie d-moll
Wilhelm Fink, München, 1993
ISBN 3-7705-2783-6

[ulm]
Die Sinfonien Bruckners -- Entstehung, Deutung, Wirkung
Renate Ulm(Hrsg.)
Bärenreiter, Kassel, 1998
ISBN 3-7618-1590-5

[voss]
Egon Voss
Die Brucknersche Symphonie -- Allgemeine Charakteristika
in: [ulm]

[madrei]
Markus Lepper
Gustav Mahler, Dritte Sinfonie, Erste Abtheilung
Eine Annäherung
Berlin, 2015
http://senzatempo.de/mahler/gmahler_sinf3_satz1.html

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