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^inh 2016031200 monograph
Vereiste Tropfen
Zum Akkordaufbau des Regentropfen-Prélude

Dem unvergesslichen Rüdiger Kuhs.
Du spieltest es so gerne.

Das sog. Regentropfen-Prélude op.28 Nr.15 von Frédéric Chopin ist eines seiner berühmtesten Werke. Das liegt nicht nur an seiner weiten Verwendung im Kreise der Klavierliebhaber, es birgt relativ geringe technische Schwierigkeiten, sondern selbstverständlich auch am Gehalt.

Es ist ein zunächst Klavierstück von 89 Takten in der einfachen, häufig anzutreffenden sog. "dreiteiligen Liedform" A-B-A'. Ein erster Teil in Des-Dur wird gefolgt von einem "minore", also einem Teil im gleichnamigen moll, hier enharmonisch notiert als cis-moll, und am Schluss eine verkürzte Variante des Des-Dur-Teiles.

Der erste Des-Dur-Teil T.1-27 hat auch in sich einen einfachen Aufbau: das charakteristische Hauptthema ist vier Takte lang und bringt nur eine einzige harmonische Kadenz, dazu als Oberstimme eine Aufwärts-Skala vom Ton der Unterquarte, also der fünften Stufe, bis zur vierten, als Septime der Dominante. Dies wird wiederholt.

Ein dritter Viertakter weicht aus:

         T. | 9                    | 10        | 11
            | As as [as56=] Des7   | Ges Des   | as  Es as 
  Des-Dur:     D  d          (d)   | S   T     |
                                   |  as-moll: | D46 D t

Die Mollterz des angestrebten, ungewöhnlichen as-moll wird als Septime des (recht konventionellen) Des7 "herbeivermittelt".

Der nächste Viertakter beginnt in diesem as-moll, scheint sich nach es-moll zu wenden (=Sp, Tonklasse f statt fes wird rekonstruiert), aber kadenziert nach b-moll, also Tp. Etwas ungewöhnliches wird also benötigt, um das allergewöhnlichste zu erzielen: Umweg über Ges-as-es nach b.

Der letzte Viertakter ist um einen Takt verkürzt: da die Auftakte immer weiter in den letzten Takt der vorangehenden Periode nach vorne wucherten, ist also auch ein Dreitakter fast vier Takte lang. Erst mit dem allerletzten Viertel wird die Dominante nach Des-Dur erreicht, und der allererste Viertakter erklingt nochmals zweimal, den Maggioreteil beendend.

Volute

Auffällig (oder vielmehr bei gelungener Interpretation auf dem Pianoforte: besser un-auffällig !-) ist die Schicht des durchgehend in Achtel-Anschlägen repetierten Quint-Tones as, in der Lage der kleinen Oktave, also verborgen im Klang in der Mittelstimme.

Dieser bleibt im letzten Takt des Maggiore-Teiles einzig liegen, und seine enervierende Repetition wird im minore-Teil (T.28 bis T.75) noch deutlich verstärkt: Hatte sie im Maggiore noch Lücken, die sich aus den Anschlägen der anderen Akkordbestandteile ergaben, passte sich also in die Brechungen des begleitenden Akkordsatzes ein, so ist sie jetzt ein pausenloses und die obere Grenze des Klanges bildendes Ostinato. Nun notiert als Ton gis.

Die beiden Stimmen der l.Hd. intonieren cis-moll, eindeutig durch die moll-Terz groß-e schon im ersten Takt, T.28. Hornquinten und tiefe Lage dominieren den Klangeindruck dieses Teiles und geben ihm den Charakter eines düsteren, ja bedrohlichen Trauerzuges.

Alle Schlüsse sind sog. "Halbschlüsse", also der Klang der fünften Stufe wird erreicht, nie steht ein cis-moll wirklich am Ende der Phrase. Ein vollständiger t-Klang erscheint tatsächlich nur auf sehr schwachen Zeiten.

Aber auch die Schlussklänge der Viertakter sind unvollständig: die Terz his der Dominante erklingt zwar unmissverständlich, aber nur im Vorübergehen, T.28 auf Vier, T.33 auf Drei, endlich T.34 auf Eins.
Höhepunkt dieser Logik ist die Eins von T.35 und das Viertel davor, wo die Abfolge groß-cis--(groß-gis+klein-dis) einen regelrecheten Quint-TURM bildet.

Dieser ist auch der Auslöser, dass ab jetzt beide Oberstimmen bei der Wiederholung eine Oktave nach oben verdoppelt werden. Der innere motivische Bau dieses Teiles ist nämlich zunächst noch simpler als der seines Vorgängers: Der erste Viertakter wird einfach wiederholt, mit erwähnter Lagenverdoppelung, der zweite Viertakter aber bringt die Folge E-gis-E-gis-Dis-gis, die nach gis-moll kadenziert.

Dann wird der gesamte Sechzehntakter unverändert wiederholt.

Der Übergang nach gis-moll am Ende ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:

(a) Am Ende des dritten Viertakters liegt, wie erwähnt, wieder mal ein Gis-Klang ohne Terz, den das Gehör als Dur rekonstruiert. Dies wird durch den E-Dur-Klang, der Gegenklang von gis-moll und Parallele von cis-moll ist, gewaltsam aufgehoben. Es handelt sich also dialektischerweise gleichzeitig um eine Vermollung Gis->gis und eine Verdurung leere Quinte -> Durklang. Der Klang gis-moll folgt tatsächlich, bestärkt noch durch den Wechsel der Skala a->ais.

(b) Der Repetitionston ist auf die Terz h übergegangen, damit überhaupt kadenziert werden kann. Entsprechend dem Streben nach zunehmender Penetranz wird dieser auch bei der anschließenden Kadenz einfach beibehalten, so dass die nun tatsächlich auftretenden Dominante der Voll-Kadenz nach gis-moll die Gestalt eines übermäßígen Dreiklanges dis+fisis+h annimmmt, also mit Sextvorhalt.

Dann wird der gesamte Sechzehntakter wiederholt. Auch dies ist eine (allerdings landläufige) Dialektik: der Auftritt des his rekonstruiert das Gis-Dur, was aber im Quintenzirkel einen Schritt nach unten bedeutet.

Wie nach dem Maggiore das klein-as, bleibt hier T.59, genau 32 Takte später, die Repetition des gis-eins übrig. Hier beginnt ein ebenfalls wiederholter Achttakter, der den zweiten Teil des minore ausmacht.

Volute

Hier finden sich auch die für unser Thema interessanten Klanggestalten. Es beginnt T.60 mit dem schockartig hart einsetzenden Dominantklang Gis-7=D7. Nachdem das Ostinato, und damit die Oberkante des Klanges, vom klein-gis zum gis-eins emporgestiegen ist, geht es jetzt mit his'-cis''-dis''-e'' stufenweise weiter aufwärts, also fast wie der Rücklauf einer Fallparabel.

Dabei steht auf der Eins von T.60 zum allerersten Mal ein Dominantklang nach cis auf betonter Zeit, und der allererste "naive" Dominant-Septakkord im ganzen minore. In der Tat auch das erste Auftreten des Tones fis! Und das als Bass eines Sekundakkordes!

Der vollständige t-Klang ist im allerersten Viertakter T.28ff (und seinen Wiederholungen) bereits aufgetreten: Sextakkord in weiter Lage in T.28/Drei, T.29/Vier, T.30/Eins; Grundstellung enge Lage T.30/Drei, etc. Dennoch ist aber auch seine Wirkung hier die eines Zielpunktes, von etwas Neuem: er erklingt zum ersten Mal für die Dauer einer Halben, dazu mit einem internen Lagenwechsel, der vom Sextakkord in die Grundstellung führt. Diese ist dialektischerweise terz-los und bringt in linker und rechter Hand genau denselben Griff, -- ein perfekter Symmetriepunkt.

Dies ist ein tragischer Moment. Denn nun wird die durch die initiale Vermollung nahegelegte Verlusterfahrung zum ersten Mal "manifest" oder "akzeptiert". Hier kann nichts mehr "in der Schwebe" bleiben.

Die Eins von T.61 nun bringt die Fortsetzung der Schrittbewegung der Oberstimme mit einem harmonischen Schritt wiederum in die Dominante. Dabei bleibt der Vorgängerton als Vorhalt aber auch liegen, so als würden vorher mehr als eine Instrumentalstimme die Oberstimme spielen, die sich nun trennen.
Dies rekonstruiert der Hörer im Kopfe, a posteriori.
Darüberhinaus bezieht die sich ergebende Klanggestalt sich (a) auf die Dominante zuvor: so wie dort gr-fis+gr-gis als Sekunde in der "linken Außenhand" lagen, sind es nun cis''+dis'' in der rechten Außenhand.
Ausserdem ist (b) die gerade repetierende Taste gis' eine Symmetrieachse der Klaviatur, und dis'+gis'+cis'' also gleichzeitig K-, G-, C- und iso-N-symmetrisch, wie definiert in unseren Untersuchungen dazu.

Gewollt sind hier zweimal Sekundklänge. Der erste wird funktionalharmonisch erklärt als Umkehrung eines Dominantseptakkordes, also eines "einfachen" Phänomens. Der zweite als "Vorhalt". Also dann, wenn er wie hier für drei Viertel ausgehalten wird, als ein "eingefrorenes" Stimmführungs-Ereignis: dass das cis noch zum his muss, aber sich damit Zeit lässt, weil es eigentlich nicht will.
Allerdings gilt dies auch für den Dominantseptakkord, der ja nicht als "einfach" betrachtet werden muss. Vielmehr gibt es historische Erklärungsmodelle, die diesen ebenalls als ein "eingefrorenes", oder "festgehaltenes" Stimmführungsereignis erklären: von der Oktave der Dominante ein Durchgangsereignis in die Terz der Tonika.

Also haben wir bis hierhin zwei verschiedene Sekundklang-Phänomene: fis+gis durch D7; cis+dis durch D4-3. Und zwar beide säuberlich getrennt, d.h. die Septime fis fehlt in letzterem, und sogar wieder vollständig bis T.66, nach ihrem kurzen einmaligen Auftritt.

Takt 62 übersteigert den Sekundvorhalt zum Klein-Sekund-Vorhalt e+dis, also t9-8. Das erste Mal das Auflöseton und Vorhaltston gleichzeitig erklingen. Die ist ein deutliches Zeichen, dass hier etwas anderes gemeint ist als mit den Groß-Sekund-Klängen: der Schmerz ist viel höher, aber der "Grad der Objektivität" ist geringer. Es erklingen ja sogar die vollständigen Terz-Knoten cis+dis+e, allerdings auf die Lagen verteilt.

Dasselbe mit vertauschten Lagen auf der Eins von T.64: der Nonevorhalt gis-fis vor der Oktave der Subdominate reibt sich aufs schärfste mit der Terz im Bass. Der Hörer aber überträgt die Dissonanz und rechnet sie ungerechterweise dem Falschen zu: Das a in der l.Hd. wird als Vorhalt wahrgenommen, welcher ins gis geführt werden muss, -- was objektiv nicht zu begründen ist!?!

Der zweite Viertakter ist deutlich anders: das erreichte Gis-Dur wird mit dem Skalentausch a->ais als Tonika umgefärbt, und das erklingende cis-moll erhält dieses ais als Sixte ajoutée und wird damit zur moll-Subdominante.
Erst mit der Drei von T.66 klärt sich die Lage, mit dem Dominantseptakkord dis+fis+gis in der rechten Hand, wieder mit fis, aber dafür ohne his, -- beide kommen nichtmehr zusammen. Wieder ist es die klangliche große Sekunde, die an der Scharnierstelle von Form und Harmonik steht!

Der erste Viertakter wird wiederholt, sein letzter Takt, T.71, aber wird zum ersten eines abschließenden, rückführenden Fünftakters: Cis-sieben als Dominante nach fis-moll, der moll-Subdominanten der momentanen Grundtonart, setzt ähnlich unvermittelt ein wie Gis-sieben in T.60, fast "trug-schlüssig".

Hier werden die Sekundbildungen systematisch komplettiert: im wörtlichen Gegensatz zu T.60 liegt die Terz (eis) im Bass, die Sekunde in der rechten Außenhand. Es folgt wörtlich (modulo Lage, die ist deutlich verschärft) der Nonenvoralt gis-fis aus T.63. Dann T.72 dasselbe eine Quarte tiefer wiederholt, es erklingt also die ursprüngliche Dominante Gis7. Der Vorhalt auf der Auflösung ist der Quartvorhalt der Tonika t4-3, und dieser ist tatsächlich neu. Während fis+gis als D7 und cis+gis als D4-3 erklangen, ist fis+gis als t4-3 völlig unverbraucht

Durch die (im Vergleich zu T.63) in T.71 eingeschobenen Zwischendominante ist der Ton eis neu eingeführt, der bisher im ganzen minore fehlte. Er klingt für eine Halbe; danach für zwei Halbe fis; dann schweigen beide wieder.
Es folgt wieder die Tonikalisierung von Gis durch die Sixte ajoutée cis+e+gis+ais. Im Vergleich zu T.64ff sind in T.73 ff die Sekundklänge durch den Lagenwechsel eliminiert und die Erinnerung an die Stufenbewegung vom Anfang des minore ist durch sehr reguläre Vorhalts-Figuren ersetzt. Die Redundanz nimmt zu, die Entropie nimmt ab, wir haben das Gefühl einer "Rückführung". Diese geschieht mit den allerletzten drei Achtelnoten dieses Teiles: am Ende von T.75 tauchen eis und fis wieder auf (notiert als f und ges); während fis+gis (ges+as) die synchrone Sekunde ein letztes Mal aufgreifen, führt die horizontale Sekunde dis-cis (es-des) zurück in die (stark verkürzte) Wiederholung des Maggiore.

Volute

Die Auswahl aller im zweiten Teil des minore auftretenden Akkorde ist in keinem Moment ungewöhnlich, -- alles ist (z.B. mit funktionalharmonischen Begriffen und Regeln) einfach zu erklären. Die Logik dahinter allerdings, die Auswahl der konkreten Klänge, folgt offensichtlich einem "Zweiten System", einem Willen zum Groß-Sekund-Klang, der dann mehr oder weniger außerhalb der Funktionenlogik steht, sich jedenfalls stückchenweit da herauswagt. Der sich auf Griff- und Klang-Logik bezieht, auf Chiasmen und Aufwiegungen, und der in seiner Starrheit, seiner Verweigerung von Terz und Verschmelzung, eher an Schritte im Schnee, an Kristalle aus Eis, an kalten, präzisen Regen erinnert, denn an zärtlich-warme Sommerdusche.
Ein Regen aus Eis, gefrorene Tropfen.


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