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2015122600 Strittige Formale Grenzziehungen im Ersten Satz von Mahlers Zweiter Sinfonie
2015122601 Die Auskomponierte Wiederholte Exposition (AWE) in den Sonatenhauptsätzen Gustav Mahlers

^inh 2015122600 monograph
Strittige Formale Grenzziehungen im Ersten Satz von Mahlers Zweiter Sinfonie

In seinem lobenswerten Werk über Mahlers Zweite Sinfonie [stephanMahler2] vergleicht Rudolf Stephan verschiedene formale Interpretationen vorangehender Publikationen.
Diese weichen weit von einander ab bezgl. der Fragen, ab wo die "Durchführung" wohl beginne und was als "Zweites Thema" oder "Schlussgruppe" zu bezeichnen wäre.

Selbstverständlich ist der Einsatz der Reprise unstrittig: Dieser geschieht überdeutlich nach einer überwältigenden Steigerungsfläche der Durchführung, die in einem Multi-Funktionsklang g+h+d+f+as+c+es+g ihren Höhepunkt findet und mit einem tutti-Oktavschlag endet.

(Interessanterweise entspricht dies genau der Situation bei J.S.Bach, wo ja, wie bereits beschrieben in ston2015081400.html, lange vor Etablierung der SHS-Form im engsten Sinne, als erstes von deren vielen, komplexen Elementen der unzweideutige Rp-Einsatz ins Leben trat, in Takt 124 des dreistimmigen Cp VIII der Kunst der Fuge, wie auch in Takt 141 im Dreistimmigen Ricercar des Musikalischen Opfers, beide Stellen überdeutlich markiert ebenfalls durch eine drei- bis vierfache Oktave!)

Stephan zitiert die vorangehenden Autoren und ihre Auffassunge ausführlich ab der Seite 20. Was er leider versäumt ist zum Zwecke besserer Orientierung eine graphische Gegenüberstellung, die wir hier nachholen wollen, und die somit nur als zusätzliche Illustration zu der Ausführungen in [stephanMahler2] verstanden sein will: Forminterpretationen verschiedener Autoren von Mahler II/

^inh 2015122601 monograph
Die Auskomponierte Wiederholte Exposition (AWE) in den Sonatenhauptsätzen Gustav Mahlers

Gustav Mahler hat in allen seinen Sinfonien in allen Kopfsätzen (in unterschiedlicher Form und Intensität aber auch in Folgesätzen) seit seines Lebens intensiv mit der Sonatenhauptsatzform (SHS) gerungen.

Dies kann im ahistorischen Rückblick gar als Paradox bezeichnet werden, da die konstitutiven Gestaltungselemente, aus denen die SHS einst hervorging, in der Substanz Mahlerscher Werke zum großen Teil garnicht mehr präsent sind. Sich dennoch an dieser Form zu orientieren könnte programmatische Setzung gewesen sein, oder auch kompositorisch-handwerkliche Hilfskonstruktion, das sei hier dahingestellt. Das Verfahren ist allemal, dass die wegfallenden Elemente durch neuausgewählte, angemessenere ersetzt werden. Im einzelnen sind dies ...

  1. Die Exp behält weitgehend ihre ursprüngliche Gliederung in mehrere Themengruppen (HTh, SS, SchlGr), ja, diese wird durch satztechnisch/instrumentatorische Maßnahmen oft zusätzlich verdeutlicht. Im Gegenzuge weitet sich der Bereich der berührten Tonarten und die harmonische Faktur (gegenüber dem Vorbild der Klassik) deutlich aus.
  2. Die Df bereitet die größten Schwierigkeiten: zunächst kann der Bereich der Tonarten gegenüber der Exp kaum deutlich erweitert werden (dieses Problem hatte aber schon durchweg Schubert, punktuell auch Beethoven, siehe Waldsteinsonate, etc.).
    Zum zweiten ist die Disposition spannungsgeladener harmonischer Entwicklungen, die ja die Df im Sinne eines "Modulationsplanes" trugen, nicht seine Stärke, und zum dritten passen die konventionellen Df-Techniken auf der Ebene der motivischen Verarbeitung nicht zu der "erzählenden" Haltung Mahlerscher Sätze.
    All dies wird ersetzt durch satztechnische Markierungen, e.g. deutlich gesetzte "plötzliche Polyphonie" am Df-Beginn (V/2, VII/1) und durch "klangliche Inseln", die in der Mitte des Satzes, als Höhepunkt der Df, Tore zu ganz anderen Welten ein wenig aufstoßen.
  3. Die Rp bereitet immer am wenigsten Probleme, und ihr Beginn ist immer auf das allereutlichste markiert. Ja, -- der Rp-Beginn ist das zentrale Signal, dass es sich beim Ganzen tatsächlich um seinen SHS handeln soll.
  4. Eine ähnliche Signalfunktion hat die fast immer vorhandene explizite Cd.

Ebenso Signalfunktion hat die bei den klassischen Vorläufern immer vorhandene, beim großen Vorgänger Bruckner aber bereits völlig verschwundene durch Repetitionszeichen vorgeschriebene Wiederholung der Exposition.

Mahler greift zu einer solchen nur zweimal: Im allerersten ("offiziellen") Sinfoniesatz I/1, offensichtlich als SHS gemeint, wenn auch mit ernsten Abweichungen. (Wenn man überhaupt ein "zweites Thema" benennen will, dann ist dies in die Introduktion oder den Df-Beginn disloziert, etc.) Und, sehr viel später, in VI/1, wo eine deutliche Verankerung als SHS nötig ist, um das hypertrophe Finale VI/4 ebenfalls als einen solchen erfahrbar zu machen.

Er scheint aber im Laufe der kompositorisch-forschenden Tätigkeit des Lebenswerkes eine formale Technik entwickelt zu haben, bei der an die Stelle der vorgeschriebenen, notengetreuen eine Auskomponierte Wiederholte Exposition (AWE) tritt. Diese kann, wegen der oben aufgezählten Eigenschaften der Mahlerschen Df, dann zwar einerseits dem Ablaufe der Exp folgen, aber satztechnisch bereits Schritte in Richtung Df machen, also einen Zwitter-Formteil realisieren. Dieses Konzept ist selbstverständlich unterschiedlich scharf ausgeprägt, u.E. jedoch in allen in Rede stehenden Sätzen konkret aufweisbar, also dort wo nicht andere formale Maßnahmen die SHS konstituieren.

Besprechen wir die Eigenheiten zunächst dieser, dann jener:

Bei den anderen Kopfsätzen kann man (in verschiedenen Graden von Deutlichkeit) eine AWE-Situation erkennen:

  1. II/1
    Bereits Stephan benennt die AWE explizit zutreffend als "fausse reprise (T.62) [...] im Sinne der Wiederholung der Exposition", [stephanMahler2, S. 29], führt den Gedanken allerdings nicht systematisch weiter.
    Die hier beginnende Strecke, am Beginn "Wie zu Anfang" vorgeschrieben und mit identischer Instrumentation und Motivik, entwickelt hier bereits das "Anstiegsmotiv", das Hauptmotiv der ersten Themengruppe (Oboen etc. T.18-20) in eine deutlich neue, marschartige Gestalt, und permutiert die weiteren zentralen Motive dieser Gruppe (Vl T.25, tutti T.37). Das Ende ist ein Ermatten mit zwei Varianten des Dreiton-Motivs aus Vl T.29. Also schon unüberhörbar "durchführendes Verhalten" hier in den ersten Takten der Exp,

    Danach T.117 entspricht genau T.48, nun C-Dur statt E-Dur, sodass auch der SS, wenn man ihn so nennen will, einer auskomponierten Wdh unterworfen wird. Die Unterschiede sind allerdings weit weniger ausgeprägt als bei der HTh-Gruppe, deren zweites Auftreten eher als "etwas Neues, wenn auch Abgeleitetes" empfunden wird.

    T.127 folgt eine Rückung nach E-Dur, damit gar in die ursprüngliche Tonart des SS, allerdings aufgewogen durch ein explizit als "Neues" behauptetes Motiv im EHrn.

    T.146, möglichst beiläufig und unbetont, und dadurch mit umso bedeutungsträchtiger Anmutung, erfolgt ein Dur-moll-Wechsel, und dann in e-moll eine einstimmige choral-ähnliche Klageweise im EHrn. Diese wird von den Motiven der HTh-Gruppe in ihrer zweiten Gestalt kontrapunktiert, dem "einstimmigen Trpt-Anstieg" T.160->T.80, zunächst ppp, dann sich deutlich steigernd. Diese "formale Überblendung" oder "Überblendung zwischen Formteil-Erinnerungen" hat mit T.175 ihr Ende, wo die Akkord-Halben T.74 eine verminderte Quinte tiefer wiederholt werden. Ebenso die Fortsetzung T.179->T.160->T.80, "einstimmiger Trp-Anstieg".
    Ab T.87 resp. T.186 geht es allerdings deutlich anders weiter.
    T.191 bringt nochmals das Material von T.179->T.160->T.80, diesmal noch eine Quinte tiefer.

    Dass hier eine solche unmerkliche Überblendung zwischen Formteil-Erwartungen tatsächlich gemeint ist, zeigt u.E. die Orthographie: Ab T.129, der Rückung nach E-Dur, ist bereits e-moll vorgezeichnet, welches erst 17 Takte später erlingt, aber formal hier schon gemeint ist. Also eine Überblendung zwischen AWE- und Df-Charakter auch auf der Ebene der tonalen Disposition. Dies teilt sich dem Hörer deutlich mit.

    T.208 bringt den SS wie T.117->T.48, nun in F-Dur. Also auch hier zweimalige Wiederholung, dreimaliges Auftreten, wie gerade eben mit dem HTh-2-Material, allerdings in zeitlich umgekehrter Anordnung.
    Auch hier folgt eine Rückung, über Ges-Dur nach H-Dur in T.221.

    (In T.244 ein kurzer eingeschobener Formteil, eine Art "Schein-Rp" in es-moll.)

    Ab T.254 dann ein Formteil, der von allen Autoren fraglos der Df zugerechnet wird, was in klassischer Sicht auch alternativlos ist, da dieser über seine Steigerung in eine umissverständliche Rp führt.

    Allerdings beginnt dieser in fast wörtlicher Wiederholung T.262->T.151, die Choralmelodie statt EHrn nun Trp+Pos, statt e-moll nun es-moll.
    (Das damals ff folgende Triolenmotiv des HTh-Bass wird nun im pp als gleichzeitiger Kp vorgezogen: Vl1 T.270->Hrn T.171.)
    (Mit T.270 setzt als neuer Kp das "Dies-Irae-Thema" ein. Dann als Wiederholung das Anstiegs-Motiv aus dem HTh, in der charakteristischen Umbiegung in Halbenoten in T.283->T.175->T.74, dann ein weitere neues, das "Tagesschau-Motiv" T.286. Beide neuen Motive werden vier Sätze und sieben Jahre später im Finale konstitutiv werden.)

    Mit T.291->T.196 die Wiederholung einer vorhin als "Neu" eingeführten Fortsetzung, mit T.304 eine in dieser Form noch nie erklungene klare, apotheotische Form des Hauptthemas; mit T.320->T.189->T.178->T.80 zum letzten Mal der "einstimmige Trp-Anstieg" und mit T.331 endlich die Rp.

    Zusammenfassend kann ein "verzahntes Wiederholungsprinzip" erkannt werden: z.B. SS T.221->T.208->T.117->T.48, "einstimmiger Trp-Anstieg" T.320->T.189->T.178->T.80, darin eingefügt dann der Choral als "etwas neues", aber in sich auch wiederholt T.262->T.151.
    Jeder dieser Teile kombiniert dabei Merkmale, die ihn als Wiederholung singnalisieren, mit solchen, die ihn als Df oder gar als neuartig erlebbar machen, ist also "nach vorne wie hinten vermittelt".

  2. IV/1
    Dieser Satz ist charakterisiert durch eine überquellende Fülle von exponierten Themengruppen, die teilweise in sich noch sehr vielgestaltig sind:

    1 K (= HTh = Ka, Kb, ...)
    32 L (Gestus fast "Schlussgruppe")
    38 M ("gesanglich")
    58 N ("scherzando")
    77 K
    81 P ("Epilog")
    102 K, Df

    Die AWE ist überdeutlich bei T.77: Der Einsatz von K ist immer durch das Vorspiel in h-moll mit Schellen und Vorschlagsfiguren deutlich signalisiert. Hier ist es tatsächlich eine "fausse reprise", der nach den wenigen Takten eines neuen Themas dann tatsächlich die Df folgt, genauso markiert beginnend! Also zugleich "Schein-Df" und "Schein-Exposition", sic verba licent.

  3. VII/1
    Hier erscheint uns das Prinzip zum ersten Mal ganz deutlich ausgearbeitet:
    Auf die langsame Introduktion (die auch in der Rp wieder erklingen wird) folgt ab T.50 das Allegro-Hauptthema. Ein zweites, explizit "ordinäres" tanzähnliches Thema im gleichnamigen Dur, mit "ordinärem" chromatischen Kp, folgt ab T.80. Eine schlussgruppenähnliche Zusammenfassung des HTh ab T.99. Der Gesangs-Seitensatz T.118. Ab T.136 die "lärmende, kindliche" Schlussgruppe, genau wie in VI/1 ein Familienidyll.

    Ab T.145 eine deutliche AWE:
    Zunächst wird zwar deutlich vernehmbar "Df" behauptet, durch die "plötzliche Polyphonie" mit Umkehrung und Engführung. Jedoch bleibt die Tonart unverändert, und der Eindruck von Exp-Wdh wird bald schon deutlich überwiegen, durch die Entsprechung T.64->T.163 mit der charakteristischen Ausweichung nach c-moll und die Trompetenmelodie mit formaler Signalfunktion T.72->T.178.

    Der Übergang ist verkürzt, dann aber wieder deutlich T.80->T.182, der "ordinäre Tango".
    Die neu hinzutretenden Kontrapunkte, besonders die Einbettung des Tenorhornmotives aus T.3 in die Vl T.183 geben dem Ganzen einen klaren Df-Charakter, während die identischen Tonarten und die fast wörtlichen Wiederholungen formteilsignalisierender Elemente (erwähnte Trp-Melodie) den Eindruck der Exp-Wdh unterstreichen.

    Ab T.212, mit dem schnittartigen Wiedereinsetzen einer Variante des HTh, scheint dann endgültig der gleitende Übergang vom AWE-Charakter zum Df-Charakter vollzogen. In der Tat folgen nur noch wenige Takte, in denen noch weitergehende kontrapunktische Kombinationen von Motiven unterschiedlicher Provenienz durchgeführt werden.
    Allerdings endet das alles, nach einem kurzen Erklingen des SS (T.122->T.231) mit der Schlussgruppe (T.138->T.241), sodass gegenläufig zum zunehmenden Df-Charakter der AWE-Charakter am Schlusse noch einmal ausdrücklich und mit nachvollziehbarer formaler und inhaltlich-emotionaler Wirkung bestätigt wird.
    Der Eindruck ist, dass die Festigkeit der Exp im Laufe ihrer Wiederholung zunehmend aufgeweicht wird, und die wenigen Fragmente des Schlussgruppe in dieser Schmelze treiben und bedeutungsvoll die Position ihres stattgefundenen Unterganges markieren.
    Es folgt T.296 eine für den Komponisten typische und deshalb formal eindeutige "Df-Mittel-Insel", dann T.317 eine weit ausladende Df von SS- und SchlGr-Material und ab T.338 die Wiederkehr der Introduktion, die als solche sowohl "schon Rp" als auch "noch Df" ist.

  4. VIII/1
    Hier ist das AWE-Prinzip nur schwach ausgeprägt, als auf den ersten SS ("Imple superna gratia", und weitere Strophen) bei Zf.15 Text, Melodie und Tonart des Aller-Anfangs recht schnitthaft einfallen, im Sinne einer AWE. Nach kurzer Steigerung folgt dann allerdings doch deutlich Anderes, nämlich "zweiter Seitensatz" oder "Schlussgruppe" ("infirma nostri corporis"), durch Tonart und Instrumentation kontrastierend.
    Die Zf.23 beginnende Df ist harmonisch und klanglich deutlich abgesetzt.
    (Man beachte, mit welch untrüglichem Gefühl für größt-formale Zusammenhänge der Meister trotz allem Aufwand, aller Gewalt und aller übermäßigen Deutlichkeit des Rp-Einsatzes diesen auf dem Quartsextakkord stattfinden läßt!-)

  5. IX/1
    Hier zeigt sich schnell ein ähnliches Bild wie in II/1: zwei überdeutlich gegeneinander abgesetzte Themengruppen wechseln sich mehrfach ab und verändern sich dabei ständig. Dabei ist der motivische Gehalt vom allerersten Anfang an vielgestaltig und immer im Flusse, so dass bei jede Wiederkehr weitgehende Umgestaltungen durchaus erwartbar sind, und harte Abgenzungen und Benennungen innerhalb der beiden Gruppen schwer fallen.

    Erkennbar ist die äußere Gliederung: T.1 D-Dur, T.27 d-moll ("zweites Thema" ?)
    Ab T.44 mit dem zweiten Einsatz des "chromatische-Triolen-Themas" (und noch vor Wechsel der Vorzeichnung!) wieder D-Dur. (Darin eingebettet B-Dur, aber als Ausweichung, nicht als Formteil empfunden.)
    T.80 g-moll, selbes Motiv Vl T.81->T.29.
    Aber zunehmender Dur-/Jubel-Charakter, B-Dur, T.92 Höhepunkt mit Jubelmotiv aus Sinf I, gleichsam Schlussgruppenfunktion.

    In T,108 beginnt "eindeutig" eine Df, genauer gesagt: formale Signale sind deutlich gesetzt: satztechnische Reduktion, der harmonische Schritt durch die Unterterzung, das motivische Wiederaufgreifen und weitergehende Zerlegen des Anfanges, etc.
    Darin ab T.136 etwas als "neu" Behauptetes, ein diffuses Aggulitinierungsfeld aus zerrissenen Trillern, Schleifern und aufsteigender Chromatik.

    Mit T.148->T.7 ist aber eine fast wörtliche, jedenfalls stimmungsmäßig eindeutige Wiederholung der Exp erreicht, was Satz, Tonart und Motivik angeht.
    Df-Moment allerdings ist, dass nach der Ausweichung nach B-Dur (als solche bekannt T.160->T.54 !) auch das "thematische Material" von T.7 in dieser Tonart erscheint (T.166).

    Mit T.174, ff-Fanfare leere Quinten "mit Wut", ist klar, das hier etwas Neues erklingt, wir also vermutlich in "einer Df" uns befinden. Dies wird auch durch "kontrpunktische Komplexierung" wie ab T.184ff signalisiert: zunehmend werden die Motive aus der D-Dur- und d-moll-Exposition kombiniert.

    Ein erster Zusammenbruch T.201 führt zu einem neuen amorphen Feld T.205, welches im Prinzip an T.136 erinnert.

    Dementsprechend eine weitere wörtliche Wiederholung aus der Exp, nach der ersten Themengruppe wird nun auch die zweite wiederholt: T.211->T.181, notengetreu beginnend in Lage, Instrumentation und Tonart.

    Zweite Df-Steigerung, ein etwas harmloserer Zusammenbruch. Die beiden Auflösungsfelder: erst T.239->T.205, danach dann endlich wörtlich T.254->T.138.

    Ab T.269->T.148->T.7 eine zweite Wiederholung der allerersten Maggiore-Exp, immer mit unveränderter Tonart, obwohl wir uns (inzwischen ganz eindeutig!) in einer "Df" befinden.

    Diesmal führt die Steigerung zum dritten und schwersten Zusammenbruch, T.317, der über ein Rf-Feld (wieder mit Fanfaren und Streichern, die Trompeten imitieren) zur dritten Wdh des Anfanges T.347->T.269->T.148->T.7 überleitet, die nun aber eindeutig als "Rp" gemeint ist: zahmeres Verhalten als alle vorangehenden Wiederholungen, Integration des minore-Materials T.372, Zerbröselung hin zur Kammermusik, das Schlussgruppenmotiv nun deutlich ein solches, aber im pp. (Dies Motiv markierte höchst regelmäßig Schluss von Exp, Df=Zusammenbruchshöhepunkt und Rp durch T.408->T308.->T.295->T.290->T.196->T.92.)
    Coda ab ca. T.420.

    Hier also kann die gesamte Df aufgefasst werden als organisiert in auskomponierten (nicht-transponierenden!) Wiederholungen der Exposition, resp. des ersten Teiles der Exp, wobei jeder Teil sich im Sinne "entwickelnder Variation" weiter vom Ausgangspunkt entfernt. Dies gilt überaschenderweise auch für die letzten Teile der Df, wo eine konventionelle Disposition die Haupt- und Zieltonart unter allen Umstänen vermieden hätte. In den ersten Teilen der Df tritt hingegen bekannter Irritationseffekt ein, dass dem wenig vorbereiteten Hörer nicht von Anfang an klar ist, ob eine vorgeschriebene oder eine auskomponierte Exp-Wdh vorliegt, oder ein sich nahe der Exp haltender Df-Anfang.
    In Wahrheit ist es beides!

Volute

Wir haben das Prinzip der AWE und auch die weitergehenden Wiederholungs- und Variantenstrukturen (besonders anhand von II/1 und IX/1) deshalb so ausführlich betrachtet, weil daran grundsätzliche Fragestellungen deutlich werden:

  1. Zum ersten ist zu betonen, dass "die akademische Frage nach den Formteilgrenzen" als solche nur sinnvoll ist, wenn man sie und das zu ihrer Antwort zur Verfügung stehende Vokabular als "Kurzfassungen" für komplexe Wirkungen, Rezeptionsmechanismen, Kompositionsmaßnahmen, historisch definierte Konventionen etc. begreift. Diese mögen in vielen Fällen hinreichend sein, -- oft wird es aber nötig sein, ihren Gebrauch zu hinterfragen und auf die eigentlich gemeinten Dinge zurückzugehen.
    Z.B. im Falle von II/1 reden manche Autoren von "doppelter Exp", andere von "doppelter Df" oder "zwei Durchführungen". Es ist nicht klar, was damit jeweils ausgesagt sein soll. Klar ist allerdings: wenn so viele verschiedene De-Finitionen durch verschiedene namhaften Experten möglich erscheinen, dann besteht die Eigenschaft des Objektes offensichtlich gerade in dieser Ambivalenz, und es wäre Aufgabe wissenschaftlicher Analyse, genau nachzuweisen, welche Eigenschaften, Wahrnehmungsmechanismen oder handwerkliche Maßnahmen in die eine Richtung wirken oder in die andere.
  2. Zum anderen ist für den Hörer, also vom Standpunkt der nicht-wissenschaftlichen Rezeption, wichtig, dass diese Ambivalenz der Formteilbezeichnung keinesfalls eine Ambivalenz des Geschehens entspricht; vielmehr herrscht im gelungenen Werk ein genau defniertes Prozessverhalten, was durchaus authentisch diese mehrfache Bezogenheit auch meint und will: z.B. die beiden Abläufe (des Allegro-Teiles) der Exp aus VII/1 sind eine Variationenfolgen, in der die Starrheit des Anfanges systematisch aufgeweicht wird, und dies soll auch so erkannt und nachempfunden werden. Die "Irritation", wo ich mich denn jetzt befinde, ob noch im Alten oder schon im Neuen, hervorgerufen durch solche sorgfältig geplanten "gleitenden Übergänge" sollte vielmehr produktiv aufgefasst werden: es kann Gewohnheiten aufbrechen, so neuartige Hörerlebnisse ermöglichen und vielfältige Verbindungen erfahrbar machen.


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