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^inh 2015082300 | phaenomen |
Klassisch/romantische Werke, die sich gelehrt gerieren, die kontrapunktische
Satzweise nach außen kehren, verwenden häufig die Technik
des kontrapunktischen Verbandes.
Darunter versteht man einen Satz von wenigen Takten, in denen mehrere
Kontrasubjekte, also mehr oder weniger gleich berechtigte Themen,
auf eine bestimmte Weise kontrapunktisch (also gleichzeitig) kombiniert werden.
Im Verlaufe der Komposition wird dieser Satz dann immer wieder
gebracht, allerdings in unterschiedlicher Auswahl erklingender und
pausierender Themen, transponiert auf verschiedene Stufen oder Tonarten,
in verschiedenen Oktavlagen, eventuell auch verschieden instrumentiert.
Dies bewirkt automatisch einen gewissen Zusammenhalt der sich ergebenden Komposition und macht es dem Komponisten einfacher: einmal den Verband ertüfteln, damit sogleich ganz viele Takte genieren.
Wenn zusätzlich die relative Oktavlage der enthaltenen Themen umgekehrt werden kann,
liegt doppelter Kontrapunkt in der Oktave vor.
Dies gilt allgemein: Wann immer ein Thema erst unter, dann um ein Intervall x
versetzt oberhalb eines zweiten Themas erklingt, heißt das doppelter
Kontrapunkt im Intervall x. Am weitaus häufigsten ist dabei x=Oktave,
was deshalb oft einfach als "doppelter Kontrapunkt" bezeichnet wird.
Für die Präsentation, also die Abwicklung des Verbandes
im Verlaufe des Stückes gibt es eine Vielfalt von Mustern.
Zwei extrem gegensätzliche zeigen untenstehende Beispiele
A1 und A2:
Im ersten (f-moll-Sinfonia)
erklingt von Anfang an der vollständige Verband, und nur dieser.
Es wird "kein Geheimnis" daraus gemacht, seine Konstruktion ist von Anfang an
offengelegt.
Im gegenteiligen Extrem
(Jupitersinfonie)
werden im Stile einer Metalepsis die Stimmen
erst allesamt einzeln präsentiert. Die reine Tatsache, dass sie als
kontrapunktischer Verband zusammenpassen, wird dem Hörer als
Überraschung und Aha-Effekt erst später präsentiert.
Während erster Fall eher im Barock und vorher anzutreffen ist, wo kontrapunktische
Setzweise vorausgesetzt werden kann, ist zweiter eher in der Klassik/Romantik
anzutreffen
(s.a. Beispiel A3, B2), wo die kontrapunktische Kombinierbarkeit als solche
schon als eine Pointe wirken kann.
Für die Konstruktion eines kontrapunktischen Verbandes gibt es nun grundsätzlich drei verschiedene Methoden. Diese bezeichnen wir mit den Schlagworten
Der kontrapunktische Verband per Konstruktion wird erzeugt, indem
bei seiner Erstellung schon jedes einzelne Thema als Kontrapunkt zu den
anderen erfunden wird.
Beispiele dafür sind
(A1) J.S. Bach, Sinfonia f-moll BWV 795:
(A2) W.A. Mozart, Jupitersinfonie KV 551, Finale, T.389:
(A3) A. Bruckner, Fünfte Sinfonie, Finale :
Dabei ist (A1) ein Beispiel für eine "ehrliche Präsentation": Es läuft 10-mal das Modell ab, in Grundtonart, Dominanttonart, Parallele, etc., getrennt durch unterschiedlich lange Zwischenspiele. Hier herrscht mehrfacher Kontrapunkt: A1 ist das erste Auftreten des kompletten Satzes in Takt 3; dies erklingt viermal in verschiedenen Transpositionen; die beiden "rotierten" Erscheinungsformen, wo eine äußere Stimme ans andere Ende versetzt wird, erklingen je zweimal. Nur einmal eine Vertauschung nur der oberen beiden Stimmen. (Dazu der allererste unvollständige Einsatz.)
Zwei weitere Anordnungen der Themen wären kontrapunktisch möglich, erklingen aber nicht, wohl weil sie zur Vermeidung von Stimmkreuzungen schlicht "zu viel Platz", also vertikalen Tonraum beanspruchen würden. 1
Das andere Extrem ist (A2): Die Stimmen werden vorgeblich als "Haupt-Thema",
"Seiten-Satz", "Schluss-Gruppe" etc. im Stile einer typischen "Wiener-Klassik"
Sonatensatz-Exposition eingeführt und erst in der Coda das Satzes mit großem "Aha"
kombiniert.
Auch hier herrscht muntere Rotation der Themen, also mehrfacher Kontrapunkt.
In der Mitte steht (A3): Die beiden Themen sind zwar eine Art Haupt-Thema und Schluss-Gruppe im Sinne der SHS-Exposition, aber schon die Aufstellung des ersten ist fugiert; deshalb ist die im Laufe der Df-Fuge zunehmende Kombination beider Themen nicht unerwartet und ihre unbegleitete "nackte" Kombination am Df-Höhepunkt zwar ein logischer Zielpunkt, aber durchaus angestrebt, ja ersehnt.
Die Erstellung eines kontrapunktischen Verbandes durch Anpassung
setzt hingegen voraus, dass seine Bestandteile eigene Rechte, innere Logik,
Stil und Ausdruck haben, und auch zunächst alleinstehend durchgeführt werden
und diesen Eigengesetzlichkeiten folgen.
Zum Zwecke der Kombination müssen dann Korrekturen vorgenommen werden,
die einen "erlaubten" oder "funktionierenden" Kontrapunkt herbeiführen.
Diese Korrekturen sind am häufigsten Anpassungen des Ryhthmus, welche
die Diastematik nicht antasten, aber sie dem anderen Thema besser anschmiegen.
Aber auch Stauchungen und Auslassungen sind möglich, solange das Thema
als solches erkennbar bleibt.
Wichtigstes Beispiel ist
(B1) J.S. Bach, Es-Dur-Fuge aus der Orgelmesse BWV 552:
(Interessanterweise scheut sich gerade der bedeutendste Kontrapunktiker nicht, derartige "Verbiegungen" anzubringen, die doch als "Notlösung" miss-gehört werden könnten. Er hat's halt nicht nötig, seine Fähigkeiten zu beweisen!-)
(B2) L.v. Beethoven, Neunte Sinfonie op. 125, Finale, zwei Doppelfugen:
Hier ist die Zeile (a) das bekannte "Freude"-Thema.
Zeile (b) ist der kontrapunktische Verband der Durchführung nach der
Variationenstrophe "Froh wie seine Sonnen fliegen" in Form eines
doppelthematischen Fugatos.
Dabei ist bemerkenswert dass das Thema (a) gleichsam "mit sich selbst" kontrapunktiert
wird, in zwei verschiedenen "Verbiegungen" oder "Korrekturen".
Zeile (c) ist das "Zweite Thema" dieses Satzes auf den Text "Seid umschlungen,
Millionen", und Zeile (d) dann die endgültige Durchführung beider Themen als
Doppelfuge, mit den deutlich sichtbaren Verfahren der korrigierenden Anpassung und
dem der Metalepsis: zunächst getrennt Exponiertes wird hier kombiniert, ein Aha-Erlebnis
erzeugen wollend.
Dem Verfasser sei es gestattet, zwei Beispiele aus eigener Produktion anzufügen:
(B3) M. Lepper, Faust Eins Eins op. 27, Szene 12:
Hier ist bemerkenswert wie gering die notwendigen Eingriffe sind:
sie beschränken sich auf die Dauer des g-eins im letzten Takt und
den dazugesetzten Schlusston.
(B4) M. Lepper, Schreckliche Bürger op. 9, Satz 2:
Die dritte Methode nennen wir rigoristisch.
Dabei werden ebenfalls zunächst die Themen in ihrer Eigenlogik exponiert und
durchgeführt.
Wenn sie dann gegeneinandergeführt werden, wird auf Stimmführungsfehler einfach
gar keine Rücksicht genommen. Sie werden gleichzeitig gesetzt wie
zwei übereinanderkopierte Tonbänder, zunächst ohne Rücksicht auf Verluste.
Es wird danach allerdings aus dem sich ergebenden Klang die Konsequenz gezogen,
also z.B. weitere Stimmen oder Begleitungen dazugesetzt, welche die sich
ergeben habenden harmonischen Verhältnisse (Septimen, Reibungen, Vorhalte)
interpretieren oder verdeutlichen und somit plausibel machen, --
"Vermittlung durch Addition".
Dies ist die "modernste" Methode, und sie ist besonders da anzutreffen,
wo eine oder mehrere der Materialien aus dem Verband zitiert sind,
also nicht aus der Erfindung des Komponisten kommen, und wo es die
Pietät auch verbietet, eigentlich notwendige Korrekturen anzubringen.
Aber auch bei Selbst-Zitaten, also montagehaften Rückblenden, die als solche
kenntlich bleiben sollen, ist dies ein adäquates Verfahren.
Naturgemäßerweise finden sich Beispiele bei
(C1) G. Mahler, Zweite Sinfonie, Scherzo, Coda:
Das höchstliegende Motiv wird hier "dazumontiert": die Ver-Durung des letzten Akkordes im unteren System wirkt als erwähnte Vermittlung durch Addition: sie rechtfertigt den ohne sie zu harten Klang des+c als Dominantform und macht die Sekund-Austausch-Stimmführung erst erträglich. (Siehe auch die Analyse dieses Scherzos in senza⌒tempo.)
Später bei diesem Komponisten:
(C2) G. Mahler, Sechste Sinfonie, Finale, Einleitung:
Hier ist der simple Akkordwechsel Dur-moll zusammen mit dem Pauken-Rhythmus
bekanntlich durchaus als "Thema" aufzufassen, die Oberstimme ist direkt in
den Takten davor als thematisch exponiert worden.
Der Konflikt zwischen c und cis in T.10 macht einerseits das Dur als
"vorläufig", als "Vorhalt" noch einmal deutlicher. Andererseits hat es
seine Echos in den anderen Sekund-Reibungen und -Einstellungen, die
zum Ende hin immer schwächer werden und sich zum Zielklang a-moll einpendeln:
d gegen cis, c gegen cis, f gegen e, dis gegen e, h gegen c, f gegen e.
Sei zum Schluss ein vollständiges Beispiel gesetzt, der Schluss-Satz aus
(C3) M. Lepper Album-Blätter für Klavier op. 29b:
Hierbei ist allerdings bemerkenswert, wie wenig an stützenden Klängen (Vermittlung durch Addition) nötig ist, um den Kontrapunkt genießbar zu machen. Als wäre es so erfunden !?!?
Als großformatige Beispiel, wo dieses Verfahren ins Extreme getrieben ist, kann A. Bergs Kammerkonzert dienen, welches im Finale ja montage-artig Teile der vorangehenden Sätze übereinanderlegt, und die Sinfonia von L. Berio.
Diese drei Methoden zur Herstellung eines kontrapunktischen Verbandes sind ein seltenes und wohltuendes Beispiel von "reinlicher Scheidung": Kombinationsformen sind per definitionem nicht möglich.
1 Es gehört bemerkenswerterweise zu den besonderen Schwierigkeiten beim Auswendig-Spielen vieler Klavierwerke J.S.Bachs, dass man bei bestimmten "Weichen-Stellen" in Stimmkombinationen überwechseln kann, die im Notentext garnicht auftreten, aber klanglich durchaus möglich sind, also im psycho-internen Modell (fast) gleichberechtigt realisiert sind.
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