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^inh 2012091600 | phaenomen |
Inhalt
1
Sprünge in der Platte, bei Beethoven und Mozart
2
Bandschnitt als kompositorische Technik
3
Mögliche vor-elektronische Äquivalente, physikalische und psycholgische
4
Bruckner, Es-Dur-Sinfonie
5
Die zweiten Themengruppe im Kopfsatz von Mahlers Dritter
6
Psychologisierende Deutungen bei
Wagner, Wittekopf, Lepper
7
Meistersinger, Vorspiel zum Dritten Akt, und
Adagio aus Mahlers Vierter
Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist eine bei dem Verfasser sich regelmäßig einstellende merkwürdige Empfindung beim Hören des Repriseneinsatz in folgendem kurzen Satz, dem Marsch aus dem Streichquartett a-moll op. 132 von Ludwig van Beethoven:
|
Notenbeispiel 1: Kurzer Marsch aus dem a-moll-Streichquartett op. 132 |
Dies ist der erste von zwei sehr kurzen Sätzen, die zwischen dem weit ausgreifenden Variationen-Adagio und dem leidenschaftlichen Finale vermitteln. Dessen Thema war nach des Meisters Skizzen zeitweilig gar für den Schlußsatz der Neunten Sinfonie vorgesehen (Mitteilung Nottebohms, nach [schenkerNeunte, , S. 305]), und die Bedeutung seiner letztendlichen Ausführung ist im Gesamtwerk wohl gar noch höher als dieses.
Von jener ersten der überleitenden Miniaturen nun bringt oben stehendes
Notenbeispiel in den oberen beiden Systemen eine nur in unwesentlichen
Details vereinfachte Zusammenfassung.
Das rhythmischen Haupt-Element des Satzes, die ubiquitäre Punktierung,
sein Tempo, Gestus und Überschrift behaupten eindeutig, sie sei ein
"Marsch". Aber ein Marsch mit Haken und Ösen!
Zunächst einmal ist der Anfang schon hochgradig mehrdeutig: (1) Der physikalisch lauteste Anschlag steht auf der "Zwei", (2) das erste Viertel, die Figur "a" aus punktierter Achtel und Sechzehntel, ist eigentlich eine typische Auftakt-Floskel, und (3) die lange Pause nach dem ersten Motiv schwächt sehr die metrische Orientierung. All dies ermöglicht, den Anfang mit gleichem Recht ganz anders zu hören als notiert.
Zum Beispiel, wie oben im dritten System notiert, als Drei-Viertel-Takt! Dann ist die punktierte Achtel beidemal ein Auftakt, wie man es gewohnt ist, und die lange Pause entsteht nicht durch zwei Viertel, sondern durch Agogik.
Wir wollen nicht behaupten, dass jeder Hörer den Anfang eindeutig so wie in Zeile drei notiert hören wird, aber doch, dass die Entscheidung zwischen den verschiedenen Notationsvarianten keinesfalls eindeutig ist, dass das Hören sich während der ersten vier Takte in einer Art Schwebezustand befindet. Das einzig Sichere sind die "Einsen" von Takt zwei und vier, Motiv "c", siehe die deutlichen Betonungen bei Zeichen "*".
Diese anfängliche Ambiguität wird aber überkompensiert und aufgefangen durch die extreme Regelmäßigkeit des Periodenbaues: Der zweimal zwei Takten, wie immer sie begrenzt seien, folgen vier Takte, die ein neues Motiv sequenzieren, welches höchst eindeutig konstruiert ist: Die punktierte Viertel läßt keinen Zweifel am Taktschwerpunkt, und die Gesamtstruktur keinen Zweifel an der Taktart, nämlich "4/4".
In den Takten 5, 6 und 7 erscheinen alle rhythmischen Grundkonstrukte plötzlich an ihrer "angestammten" Position im Takt, --- in scharfem Gegensatz zum Anfang, aber mit dem Gestus völliger Selbstverständlichkeit:
Die obere Zeile zeigt das Motiv a, nun in seiner "natürlichen" Rolle als
Auftakt,
also in der, welche die Gehörserfahrung ihr schon im ersten Takt, dort aber
ja fälschlicherweise, zuerkannte.
Die untere Zeile zeigt die real erklingenden Viertel-Punktierung, als
Spiegelbild davon, als Beschwerung der "Eins".
Die mittlere Zeile deutet an, dass unser Gehör als Motivabgrenzung
ebenfalls eine Punktierung konstruiert, die breiteste aller drei.
Die deutliche Etablierung von a als auftaktig hat zur Folge, dass die "zusätzliche" Viertelpause in Takt 8, vor der Wiederholung, wiederum als agogische Verlängerung einer regelmäßingen Achtelpause gehört werden könnte; damit das Motiv a, notiert auf der eins in Takt eins, weiterhin Auftakt bliebe.
Die Großform geht nun weiter wie erwartet, in der Art der "dreiteiligen Liedform mit Wiederholungen", A--A--B--A'--B--A'. Eine höchst einfache, aber berühmte und wichtige Formel, sollten sich doch daraus die Architekturen der gewaltigsten Sonatenhauptsätze entwickeln.
Der B-Teil schliesst nun (folgend einer der beiden möglichen Strategien) an das Ende des A-Teiles an, spaltet dessen letzten zwei Takte ab und sequenziert sie. Demonstrativerweise ohne den besagten Achtel-Auftakt! Dieser bleibt aber im Innern des Motivs erhalten, als Auftakt zu dessen zweitem Takt. Da aber das Motiv als Ganzes im Abstand von einem Takt kanonisch erklingt, bleibt er auch als Auftakt zum ganzen Motiv wirksam, allerdings nur "diagonal" zwischen den Stimmen.
Als Länge des B-Teiles erwarten wir, entsprechend dem A-Teil, acht Takte. Also sollten wir nach vier Takten, nach zwei Abläufen des neuen Zweitakt-Motivs, seine Mitte erreicht zu haben. (Die dünnen Doppel-Taktstriche sind von uns hinzugefügt!)
Hier nun beginnt, durchaus konventionell, eine Variante der Sequenzierung,
die Wiederaufgreifen des Aller-Anfangs-Motivs, allerdings instrumentiert in Oktaven,
in tiefer Lage und unbegleitet, was es als "neue Variante" eindeutig kenntlich macht,
als "durchführungs-artig".
Dem entspricht das Auftreten der Achtelpunktierung auf der Eins des Taktes 14,
als Zielpunkt dieses Motivs, als Auskomponierung der angestrebten Eins.
Dies wird wie folgt organisch herbeigeführt, ja, notwendig gemacht:
Am Anfang der Exposition zielte dieses erste Motiv jedemal mit äußerster Deutlichkeit
auf das Motiv "c" hin, welche eine sehr einprägsame Geste realisier,
nämlich zwei Viertelschläge,
schwer auf der Eins stehend und deutlich abnehmend, harmonisch
kadenzierend, ein Schlag und sein Echo,
ein Schlag und ein Nach-Schlag, eine fast triviale Wendung äußerster
Prägnanz. Dieses Motiv "c" erklingt, als integraler Schluss
des Hauptmotives, zweimal, in Takt 2 und 4.
Dann im zweiten Teil der Exposition dreimal das zweite Sequenzmotiv, und an
dessem Ende dann lediglich einmal, im selben Gestus,
aber um einen Schlag verlängert, drei Viertelschläge, siehe Klammer "c3".
So auch in den ersten vier Takten des B-Teiles, wo dieses Motiv abgespalten
und enggeführt wird, und zweimal diese drei Schläge erklingen
(Takte 10 und 11), beim dritten Male gar fünf ("c5" in Takt 12).
Hier nun die Synthese, die auch deutlich als solche empfunden wird: Wir hören nämlich drei Schläge, die aber nur den Zeitraum von zweien benötigen!
Diese Kompression ist die Initalzündung für weitere Verdichtung: Die
Echos der punktierten Achtel folgen nun mit jeder Zählzeit, insgesamt
(von Takt 13 bis 15) neunmal Motiv a in ununterbrochener Folge! Der Damm ist gebrochen,
das Motiv fließt über den Einsatz von A', der Reprise, in Takt 15 hinweg.
Die ersten Echos, in Takt 14, sind dabei nicht dichter als die des allerersten
Taktes. Sie sind aber anders gesetzt: In Instrumentation und Oktavlage
auseinandergezogen, von unten nach oben sich aufbauend,
also hier deutlich, dort aber verdeckt, werden sie von reiner
Begleitung zur Ehre der Engführung erhoben.
Jede dieser Figuren
kann nun als Repräsentant eines ganzen Themeneinsatzes gehört werden,
so daß in Takt 14 aufs äusserste komprimiert gar vier davon stattzufinden scheinen.
Die organische Folge dieser Verdichtung ist, dass der Repriseneinsatz zwei ganze Takte eher kommt als eine gleichmäßige Dispostion erwarten ließe, dass der zweite Teil des B-Teiles nur noch zwei Takte umfasst, und der B-Teil als ganzer nur sechs statt acht.
Nun aber geschieht das eigentliche rezeptionspsychologische Wunder:
Der Einsatz des Hauptmotivs,
der Einsatz der Reprise in Takt 15, nun eine Oktave höher als zu Beginn,
kommt zwar zwei Takte zu früh, er kommt aber auch ein Viertel zu spät!
Dem Verfasser geht es nämlich ohne Zweifel jedesmal so, dass er mit dem Einsatz ein Viertel früher, der Quinte e-h, auf der Vier von Takt 14, schon den Anfang des Themas vermutet, und dass die Wiederholung der Achtelpunktierung ihn jedesmal brutalst erschreckt, als gäbe es einen Sprung in der Schallplatte, als wäre der Tonabnehmer zurückgesprungen. (Schön, dass auch moderne Zee-Dees dies ab und zu tun, damit bleibt uns die Metapher erhalten !-)
Dieser Effekt ist nur durch die extreme metrische Verunsicherung durch die "Engführungen" in Takt 14 erklärbar, in Verbindung mit der im ersten Takt bereits (oder "noch") herrschenden Unsicherheit über die metrische Position des Motivs a.
Der Rest des A'-Teiles ist an Harmlosigkeit nicht zu überbieten.
Er ist sogar um zwei Takte länger als erwartet, was keinesfalls eine
Unregelmäßigkeit darstellt, sondern, ganz im Gegenteil, die Verkürzung des
B-Teiles auszugleichen bemüht ist, auf dass per Saldo die
brave drei-mal-acht-Taktigkeit wiederhergestellt ist.
Hier nun erheben sich gleich mehrere erkenntnis- und kunsttheoretische
Widersprüche: Selbstverständlich konnte Beethoven beim Komponieren
nicht an eine "springende Schallplatte" denken.
Aber für den Verfasser ist diese
a-historische Rezeption die naheliegendste, von seinem
Gehör spontan produzierte Assoziation.
Wie damals am Schluß von Welcome to the machine von
Pink Floyd, wo viele Hi-Fi-Freunde beim allerersten Hören aufschreckten,
ihre Anlage sei plötzlich defekt.
Ist sein Hören deshalb "falsch", oder zumindest "inadäquat", oder gibt es
etwas gemeinsames zwischen den Epochen und ihren möglichen Wahrnehmungsweisen,
was diese Trennung überbrücken könnte?
Zumindest muss man es dem heutigen Hörer erstmal zugstehen, dass der
Verstand so reagiert. Dass die Komponisten anderes gedacht und gemeint haben,
steht aber auch ausser Frage.
Wenn wir nun diesen zweiten Standpunkt einnehmen, werden wir bald eine
Vielzahl von Auffassungen, Absichten und Mechanismen finden, die sich
für uns allesamt
ihn diesem oder ähnlichen Wahrnehmungseffekten auswirken.
Diese Intentionen gehen von physikalischen über soziale und psychologische bis
letztlich hin zu tranzendental-analytischen, und sollen im folgenden
in ungefähr dieser Steigerungsordnung auch aufgewiesen werden.
Woran z.B. in diesem ersten Beispiel der Komponist sehrwohl gedacht haben kann, was er gemeint haben könnte, und das wäre ein musik-soziologisches, oft reflektiertes Phänomen, sind "Dorfmusikanten", die aus dem Tritt kommen und sich gewaltsam wieder einfangen.
Was er bestimmt gewollt und gemeint hat, hier wie an so vielen andren Stellen (cf. B-Dur-Streichquartett op 130, die quälend falschen Reprisen im ersten Satz) ist, uns eine Lehr-Demonstration zu halten über unsere ach-so-leichte Manipulierbarkeit. Besonders wenn's dann an's Marschieren geht.
Ein sehr ähnlicher, wenn auch viel weniger aufwendig und bewußt herbeigeführter
Effekt besteht im dritten Satz der Jupiter-Sinfonie von
Wolfgang Amadé Mozart, beim Übergang vom Menuett zum Trio:
In den meisten Interpretationen klingen die ersten beiden Akkorde
des Trios beim ersten Mal nur wie ein mattes, floskelhaftes
Echo der allerletzten Schlusskadenz der Coda des Menuettes.
Also wie "garnichts"!
Die ersten beiden Takten ensprechen in ihrem Tonhöhengehalt (modulo
Oktavlage) und rhythmischer Gesamtdauer nämlich exakt den beiden
vorangehenden.
Als sie vier Takte später schon notengetreu wiederholt werden,
kann man zuerst einen "Sprung in der Platte" vermuten. Erst wenn es dann
anders weitergeht wird klar, dass diese beiden nichts-sagenden
Akkorde nicht das nachklingende
Ende des Teiles davor sind, sondern der bewußt gesetzte Anfang des neuen sind.
(Auch hier zeigt sich wieder die Überzeugung Schenkers, dass die
Wiederholung das Motiv konstituiert,
[schenkerHarm] , wenn auch hier "mit was daziwschen". )
Bestimmt vom Komponisten zumindest als "musikalischer Spaß" beabsichtigt. Dankeswerterweise verstehen ihn die meisten Dirigenten und schlagen das Temo "durch", d.h. interpretieren die Fermate dazwischen nur als "Fine-Symbol", nicht als Halt, was den Effekt kaputtmachen würde.
Das dies als Witz gemeint ist zeigt u.E. der B-Teil des Trios, in welchem
das gravitätische Fugen-Motiv des Finales mit all seiner Würde sich
selbst zelebriert, einschließlich gelehrter Umkehrung, gar "B-A-C-H" zitierend
und ...
...als Ergebnis all diesen Fleißes nur wieder jenes zierliche Nichts
vom Anfang!
Für uns Heutige ist es grundsätzlich schwierig, wenn nicht unmöglich, uns einfühlend vorzustellen, wie musikalische Rezeption und kulturelle Verbreitung, musikalische Ausbildung und kompositorisches Denken funktionierten vor Erfindung der Schallaufzeichnung und deren Vervielfältigung.
Dies besonders, wenn man festzustellen meint, dass damals bereits eine bestimmte
Kompositions-Technik entwickelt und angewandt wurde, die wir im allgemeinen
seit der Erfindung des Tonbandes erst überhaupt für möglich
halten, -- genauer: sogar erst nach der Übertragung von zunächst rein
pragmatisch genutzten tonband-typischen Verarbeitungstechniken
in die Erfindung von Musik (die "Komposition") durch
Schaeffer, Eimert, Stockhausen und viele andere.
Wir meinen den "Band-Schnitt", was eine verkürzte Bezeichnung ist für
"sequentielle Montage" oder "horizontale Montage"
von zunächst getrennten Klangaufzeichnungen, für
ihr "Hintereinander-Kleben" oder "Aneinander-Schneiden", wie der nett-paradoxe
Technikerausdruck lautet.
Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde diese Technik
in der Musik aller Genres und Klassen ubiquitär, ja, inflationär eingesetzt.
Für keinen Rezipienten, egal welcher Art und Gattung von Musik, bietet
"Schnitt" heute noch ein Überraschungsmoment.
In der populären Musik (nicht als qualitative Gattungs-Bezeichnung, sondern
schlicht bezogen auf die Quantität ihrer Verbreitung) ist wohl mit
dem "Weissen Album" der Beatles und verschiedensten
Produktionen von Can, Genesis (den frühen!) und
Pink Floyd dieses zunächst in
der experimentellen Musik angewandte Verfahren weiter verbreitet worden.
Dazu kommt die beherrschende Rolle des Filmes für
die heutige ästhetische Bildung. Nur in den allerfrühesten
Werken wurde, ausgehend vom Theater, eine unveränderliche
"Bühnenperspektive" abgefilmt. Sehr bald aber wurde der
"Schnitt", also die sequentielle Montage, ein fraglos akzeptiertes
Gestaltungsmittel, als "dem Medium naturgemäß zugehörig" aufgefasst.
Diese Selbstverständlichkeit hat sich im Laufe der letzten Hälfte des
letzten Jahrhunderts problemlos auf die Musik, ihre Komposition und
Rezeption übertragen.
1
Dabei hat sich der "Bandschnitt" von der physischen Technologie
emanzipiert zu einer kompositorischen Technik.
Jene erlaubte zum ersten Male,
abstrakte, hart berechnete (z.B. in Zentimetern gemessene!),
von metrischer Wahrnehmung und Hervorbringung völlig
unabhängige Zeit-Fenster über rhythmisch-melodische Tongestalten zu legen.
Welch neue klanglichen und semantischen Qualitäten das brachte wird
verdeutlicht durch die musikantischen Schwierigkeiten, dasselbe "live"
hervorzubringen, also z.B. einen Geiger anzuweisen:
"Spiele den Ausschnitt aus folgendem Marsch vom siebenten Sechzehntel bis zum
fünfunddreissigsten Sechzehntel, aber mit
genau derselben Artikulation, Bogenführung,
Dynamik, etc., als würdest du ihn von Anfang bis Ende durchspielen."
Auch unser Beethoven-Beispiel von oben, der "springende" Einsatz der Reprise auf unerwarteter Zeit, weist diese Merkmale auf, kann als "bandschnitt-artig" bezeichnet und rezipiert werden. Dies allerdings zwangsläufigerweise in abgemilderter Form, denn es muss ja dennoch spielbar bleiben, für die Musiker jener Zeit und Bildungsstufe.
Diesen neuen Qualitäten in der Klanglichkeit, --- Crescendi, die ansatzlos in ihrer Mitte beginnen; abgeschnittene Anschlagsverläufe; synkopisch irrational verschobene Rhythmen; aneinandergeklebte widersprüchliche Metriken, --- entsprechen weitgehend neue Semantiken, Assoziationen, Bedeutungen, die sich im Kopfe des Hörers einstellen können: "Um- und Abschalten", "Beschädigen", "Überreichweiten", "Zwangsbeschallung", "Wanzen", "Demonstrationszug", "Martinshorn", etc.
Zur Kompositionstechnik wurde der Bandschnitt, als die Komponisten (a) diese Möglichkeiten bewusst einsetzten und erforschten, und (b) auf ganz andere Medien als das Tonband übertrugen, wie z.B. Schnebel, Madrasha II, und Hufschmidt, Vater unser, auf (mehr oder weniger) fest und konventionell notierte Chormusik.
Der Verfasser schrieb z.B. in der Schlußsteigerung seines "Weiss", op. 7, eines recht konventionellen Liedes für Gesang, Klavier und Zuspielband:
Das funktioniert! Der zeitgenössische Hörer nimmt ohne jedes Problem die zwei Stimmen (im mehrfachen Sinne) wahr, die "Kre-ta" und "Säu-len" sagen und singen, auch wenn sie, wie zwei sich überlagernde Radiosender, ineinander geschoben sind.
Wie aber war das alles vor der "elektronischen Revolution" (die von uns heute wohl selten noch als solche überhaupt empfunden werden kann) möglich? Und wo passierte es tatsächlich?
Nun, es gab allemal die Erfahrung, und damit die Vorstellung, einer dicken, schalldichten Tür zu einem Konzert- oder Tanzsaal, in dem die Musik bereits angefangen hat. Das Öffnen dieser Tür entspricht dann dem "An-Schneiden" einer Tonspur. Dies ist ein ausser-musikalischer, physikalischer Vorgang. Er ist nicht der Musik immanent, aber doch dem Musizieren. 2
Im Bereich der psychologischen Schilderung gibt es das Phänomen der schweifenden Aufmerksamkeit: Die Bühnenmusik am Anfang des zweiten Aktes des Lohengrin spielt (auf der Ebene der gemeinten Handlung) selbstverständlich viel länger als sie uns erklingt: Sie wird immer dann hörbar, wenn die beiden im Dunkeln lauernden "Genossen der Schmach" ihr und dem glücklicheren Feindes-Paar ihre Aufmerksamkeit zuwenden; sie wird "ausgeblendet", sobald sie sich wieder gegenseitiger Schuldzuweisung widmen.
Zum dritten aber gibt es rein musikalisch definierte Beispiele, die zum Verstörendsten gehören, weil die gerade angedeuteten Effekte zwar assoziiert werden können, aber vom Kontext her eingentlich nicht gemeint sein können.
Zunächst aber wollen wir unseren Gegenstand weiter einschränken:
Eine "Montage im weiteren Sinne" ist in der Musik seit eh und je ubiquitär,
und in diesem Artikel nicht gemeint.
Typisches Beispiel sind die beiden Choräle auf die Melodie "Vom Himmel hoch
da komm ich her" am Ende der Teile eins und zwei des
Weihnachtsoratoriums:
"Ach mein herzliebes Jesulein" (Teil I, Nr. 9) erhält nach jeder Choralzeile
(gleichsam "auf der Fermate") jeweils einen Einwurf, der die unimittelbar
vorangehende Trompeten-Arie "Großer Herr und starker König"
in Motivik, Instrumentation und Ausdruck aufgreift, hingegen
recht disparat steht zu Text und Bedeutung des Chorales.
"Wir singen dir in deinem Heer" (Teil II, Nr. 23) erhält in ähnlicher Weise
Rückgriffe auf die diesen Teil eröffnende Hirtenmusik.
Diese Art von "Montage" ist in hunderten von Beispielen nachzuweisen.
Hier meinen wir aber eine solche, die einen Schritt weitergeht, indem sie
einen Bruch und Widerspruch zum herrschend Metrum beinhaltet.
So als würde wirklich in einem ausser-musikalischen oder über-musikalischen
Akt (Gestaltungs-Akt oder Gewalt-Akt),
das Metrum, also den Inhalt des Aufgezeichneten, garnicht beachtend,
Tonband-Stücke auseinandergeschnitten und aneinandergeklebt.
Naturgemäß, das dies ja hier (vor der Erfindung der technischen
Instrumente) nur "integriert" in einen von Musikern zu spielenden Ablauf
geschehen kann, und deshalb zweckmäßig notiert werden muss,
wird eine gewisse Kontinuität des Metrums immer gegeben sein, siehe
unser erstes Beispiel oben.
(Man nehme als entsprechendes Beispiel für vertikale Montage dass die drei
überlagerten Tänze im Don Giovanni natürlich auf einen gemeinsamen
Grundschlag zurückführbar sind.)
Der Effekt kann also nicht mit dem letzten Maß an Deutlichkeit geschehen,
das dem Tontechniker mit Schere und Klebeband zur Verfügung steht.
Dennoch aber ist bei den folgenden Beispielen
auf (wenn auch subtilerer oder übergeordneter)
metrischer Ebene allemal dieser Bruch nachweisbar.
Zur Zeit der Abfassung des nächsten Beispieles war der "Phonograph" schon in seiner Geburtsphase, aber es ist nicht anzunehmen, dass dies einen Einfluss auf dessen Gestaltung hatte. Es handelt sich um den Wieder-Einsatz des Hauptthemas in der Durchführung des ersten Satzes der Vierten Sinfonie von Anton Bruckner, nach einem ersten Höhepunkt, bei Buchstabe "K".
Um diese Konstruktion würdigen zu können, seien zunächst die vorangehende Auftritte dieses Hauptthemas genauer betrachtet, jeweils am Beginn von Exposition und Durchführung:
|
Notenbeispiel 2: Bruckner, Vierte Sinfonie, erster Satz, Takte 1 bis 34 |
Dieser Anfang der Vierten Sinfonie Anton Bruckners (wobei wir uns auf die allgemein verbreitete zweite Fassung von 18778/1880 beziehen) gehört zu den bekanntesten Bildungen in romantischen Orchesterwerken. Er ist darüberhinaus ein Paradigma für die evolutorische Komponsitionstechnik seines Autors. Durch diese werden größere zusammenhängende Abläufe auf möglichst organische, ja zwangsläufige Weise geschaffen aus kleinsten Elementen, durch das systematische Permutieren und Kombinieren ihrer möglichen Varianten und Ableitungsstufen.
Hier bildet bekanntlicherweise ein Horn-Ruf das Ausgangsmaterial, welcher sowohl als "Naturton" interpretierbar ist, -- es handelt sich um den Fall vom dritten zum zweiten oder vom sechsten zum vierten Oberton eines denkbaren Natur-Blas-Instrumentes, -- aber auch als kulturelles Signal, wie ein zu Verständigung genutztes Post- oder Alphorn.
Dieses Motiv besteht aus nur zwei Tonhöhen, aber aus vier Anschlägen: Die erste Tonhöhe wird nach der zweiten wiederholt, das Motiv kreist also in seinen Anfang zurück, und diese zweite wird in zwei Anschläge zerlegt, einen langen, gefolgt von einem über-leichten Auftakt.
Für fast jeden Menschen des europäischen Kulturkreises dürfte ein ähnlich gebautes Motiv zu seiner unterbewußten Vor-Erfahrung gehören! Für unser Empfinden überwiegt hier der Kultur-Charakter, das Signalhafte. Allemal aber ist dieses eingebettet in das Natur-Hafte, nur soweit aus diesem herausgehoben wie nötig.
Aus diesem Minimal-Material wird nun die Themengruppe durch minimale Schritte
und Veränderungen organisch entwickelt.
Allemal wird dann, in diesem größeren Zusammenhang, durch das Kontrastierenlassen
der verschiedenen Varianten, ihre Frage-Antwort-Charakter und das Schema
von Argumentation und Um-Beleuchtung, der Rede-Charakter des Ganzen
dominieren, letztlich also die Vernunft, die sich aus dem mehr oder weniger
Vor-Bewußten zur Herrschaft erhebt.
Zu allererst sind die unscheinbaren zwei vorangestellten Takte zu erwähnen.
In ihnen erklingt der Tonika-Klang Es-Dur im ppp Streichertremolo.
Die Auswahl der konkreten Oktavlagen der
Töne entspricht genau den Partialtönen zwei bis sechs des
Naturtonspektrums auf Kontra-Es. Dieses allerdings, der "Grundton" oder
"erste Partialton", erklingt hier ausdrücklich nicht!
Dahinein klingt nun das Hornmotiv, welches nach dieser Zählung
die Naturtöne zwölf und acht bringt,
als Oktavierung der gemeinten, grundlegenden Proportion von drei und zwei,
von Quinte zu Grundton.
Bekanntlicherweise sind die Brucknerschen Werke im Grunde durch eine strenge, nicht unterbrochene Abfolge von achttaktigen Perioden organisiert. Alle Stellen, die davon abweichen, bringen Wirkung und tragen Bedeutung.
In diesem Zusammenhang nun sind die unscheinbaren ersten zwei Takte, die es bei fast jedem Brucknerschen Sinfonie-Anfang gibt, von fundamentaler Bedeutung, da sie die Verortung der achttaktigen Periode zunächst erschweren, zumindest beeinflussen: Ist der Takt Nummer "drei" der erste schwere, und die zwei Takte wirklich vor-geschaltet, oder ist Takt Nummer "fünf", also das Wieder-erreichen des b, des zwölften Partialtones, der schwere Takt? Wir werden sehen, dass diese Frage Fernwirkungen hat bis zu der Stelle, um die es in diesem Artikel geht, bei Buchstabe "K".
Das erste Auftreten des Motivs ist also nichts als eine "Abwicklung" des bereits präsenten Klanges, die ersten sechs Takte bringen nichts bis auf den Tonika-Dreiklang. Das Hauptmotiv kann als "tonale Beantwortung" des Hauptmotives der unmittelbar vorangehenden Dritten Sinfonie gehört werden, wo dieselbe Art von terzloser Dreiklangsbrechung mit der Klasse des Grundtons begann, nämlich vom achten über den sechsten zum vierten Partialton fiel, also dort: ohne sofortigen "Zirkelschluss". Weiterhin kontrastieren dort konsequent: Trompete statt Horn, einfache statt dreifacher Punktierung, moll statt Dur.
In diesem Werke zumindest greift Schenkers Kritik nicht, es sei "als ein schwerer Fehler [zu] rügen, daß dort fast die meisten Themen mit der Tonika (der I. Stufe) beginnen" [schenkerKp, , Bd. I, Abschn 1, Kap.2, §1], da der Beginn mit dem Quint-ton und eben nicht dem Grund-ton tragende Bedeutung für die Architektur des ganzen Satzes haben wird, vermittelt genau durch diejenigen Wahrnehmungsmechanismen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind.
Insgesamt tritt dieses Hauptmotiv nun mehrfach auf, immer unmittelbar anschliessend,
dann zunehmend überlagert, immer im streng duchgehaltenen Viertakt-Raster.
Das zweite Auftreten betont auf deutlichst mögliche Weise die "Eins"!
Es findet ein Harmoniewechsel statt. der sich gleichzeitig in der Melodik
des Motivs ausdrückt: b' geht zum ces'', as-moll als vermollte Subdominante.
Diese Abweichung "ces" bleibt immernoch in der Schwebe zwischen Kultur und Natur:
Auf einem Signalhorn geblasen kann der Ausgangston b durch Stopfen
nach oben gedrückt werden, -- über dem zwölften Oberton liegt aber auch als
dreizehnter ein Ton, der dem hier notierten "abstrahierten" ces relativ nahe kommt.
Auch die Streicherbegleitung hält diese Waage, diese Dialektik:
Im Bass bleibt die Quinte groß-Es-groß-B liegen! Das ergibt mit dem klein-f
des Klanges eine Quintenschichtung. Ist so etwas nun ein "Naturphänomen",
weil hier einfach "mechanisch etwas weiterklingt", wie der Wind in der Waldschlucht,
wie das Quietschen des Orgel-Blasebalges? Oder weil in jedem Ton die
Quinte natürlicherweise eh mitklingt, also auch das es-b vom Anfang immer
schon das f-eins, wenn auch ganz leise, mit beinhaltete?
Oder ist es eher ein Kultur-Phänomen, weil hier ein Komponist bewust
die harmonische Fortschreitung verweigert und einen Kunst-Quint-Klang konstruieren
möchte, der möglichst dämmerlich-geheimnisvoll zum Drin-Rumspazieren einlädt,
--- und gleichzeitig abschreckt !?
Oder ist es dialektisch, in der Schwebe, eben beides?!?!
Diese Frage ist mitnichten zweitrangig, denn dieser Quintklang hat architektonische Bedeutung für die gesamte Periode: Man sehe den ergänzenden Klang klein-as, es-eins, b-eins, angedeutet durch die Pfeile in Takt 7, zurück zu Takt 5, der hier in Takt 7 noch fehlt. Genau dies sind nämlich die letzten Tonhöhen des Horn-Solos in Takt 15 bis 17! Indem genau diese erklingen erreicht die erste Periode ihre deutlichste Schlusswirkung!
Der zweite Klang des gesamten Werkes ist bereits die Mollsubdominante.
Geschichtlich ist allerdings bereits in den Siebziger Jahren des Neunzehnten
Jahrhunderts die Mollsubdominante (im Dur-Kontext)
eine zwar immernoch recht wirkungsvolle, aber auch
schon sehr abgegriffene Konstruktion.
Mit ihr alleine kann kein Staat mehr gemacht werden,
die Zeiten des Lohengrin sind lange schon vorbei.
Die Mollsubdominate wird sogar mit der als Schluss-Wirkung unverzichtbaren
"Sixte ajoutée" gesetzt, man sehe das kleine f im Akkord, welches
auch seinem Leittoncharakter folgend "korrekt" in die Durterz geführt wird.
So wird, was üblicherweise letzte Konstruktion eines Satz-Schlusses ist, hier
als allererste Regung der harmonischen Fortschreitung gesetzt, was sonst
Höhe-Punkt ist hier Ausgangs-Punkt.
Ausserdem werden, siehe oberste Notenzeile, gleich drei neue Tonklassen
auf einmal eingeführt: f, as und ces, und danach erstmal lange wieder nichts.
Der Evolutionsprozess läuft auf das logischste weiter: Nach der Hälfte der Motivdauer, mit der Wiederkehr des "b", also dann erst, wenn es nötig ist, kehrt die Harmonik zum Es-Dur zurück.
Eine Konsequenz des künstlerischen Grundprinzips "Keine Maßnahme ohne Notwendigkeit"
ist also, dass beide Harmoniewechsel erst dann erfolgen, wenn die
Melodik sie unausweichlich macht. Das hat aber zur Folge, dass das es' und das b'
der Melodie in Takt 8 und 9 jeweils die Quinte des begleitenden
Klanges sind.
Dies schliesst ein eine doppelte Dialektik:
(a) Der erklingende Grundton ist nicht mit dem Grundklang harmonisiert, sondern
mit der Subdominate,
(b) Der Schritt zurück in den Grundklang geschieht gleichzeitig mit dem
Schritt weg vom Grundton.
Diese Widersprüche scheinen hier so unscheinbar und gewöhnlich, dass man den Autor der Überinterpretation zeihen müßte, würden sie nicht beim Wiederauftritt des Motives in der Durchführung aufgegriffen und systematisch weiter verschärft.
Das was in Takten eins bis 10 geschieht ist also nichts anderes als eine Nebennoten-Bewegung b-ces-b. Die Empfindung der Nebennote ist überdeutlich gesetzt, und nur aus dieser heraus wird unsere These der "Bandschnittartigkeit" nachvollziehbar werden:
In der ersten Periode, bis Takt 10, geschieht also "fast nichts"! Und das ist so gewollt, das ist sorgsam konstruiert, das ist errungen. Ein minimales erstes Regen halt, fast reine Natur mit einem ersten Räuspern kultureller Gestaltung. (Immerhin ist Es-Dur die Tonart des Rheingold-Vorspiels, in dem ja auch erstmal nicht viel passiert !-)
Der zweite Achttakter kehrt mit seinem ersten Takt zunächst zu Takt drei zurück:
Die Bratsche geht von der verdoppelten Terz zurück auf das kleine es, den
vierten Partialton.
Aber das, was war, muss immer Konsequenzen bringen! Eine wörtliche Wiederholung ist
immer ausgeschlossen. War das erste Motivauftreten von der Struktur A-A,
das zweite von B-A, so folgt nun A-B: Die zweite Motivhälfte wird
nun verändert.
Das melodische Motiv selbst erklingt wieder in seiner Ausgangsgestalt. Wenn nun die zweite Motivhälfte zwecks Abwechslung anders sein soll, dann kann sich dies also nur auf die Begleitung, auf die Harmonik beziehen. Dem Prinzip der minimalen Veränderung zufolge sollte das wieder die Mollsubdominate sein. Die geht aber nicht, es klingt ja in beiden Motivformen an dieser Stelle ein b im Hornruf. Aber sie ist es doch, indirekt, nämlich vertreten durch ihre Dominate. Diese, Es-sieben, ist die Tonika mit hinzugefügter kleiner Septime, also zur Zwischen-Dominante um-funktioniert. Diese nimmt die zweite Motivhälfte ein, (das "B" aus dem "A-B"), und führt tatsächlich zum as-moll in der ersten Hälfte von Auftritt vier! Dessen zweite Hälfte darf dann zum Ausgangspunkt und nach Es-Dur zurückkehren, das ganze Auftreten vier also die Harmonik (as-Es) und Struktur (B-A) von zwei wörtlich wiederholen.
Die harmonische Auffüllung der Motiv-Hälften stellt sich also dar wie
1 | 2 | 3 | 4 | |||||||
Es | Es | Es | Es | Es | ||||||
as | Es7 | as |
Unter dieser einfachen Anlage, quasi "eine Strukturebene tiefer"
geschehen aber noch weitergehende Veränderungen:
Schon die unveränderte Wiederholung der ersten Hälfte des dritten Motivauftrittes
wäre zuwenig Variation! Also wird auf deren dritter Halbe eine
Durchgangslinie gestartet, die (a) das kleine des, die Septime,
an-gleitend vorbereitet, (b) zum ersten Mal dieses Zählzeit (zweite Halbe des
Taktes) exprimiert,
(c) eine neue Tonklasse d einführt, und (d) zum ersten Mal die Harmonik
spaltet, in verschiedene temporale Ebenen,
Denn das "d" ist ja nicht als Bestandteil des klingenden Es-Dur
zu hören, sondern als unbetonter Durchgang, als sekundär-harmonisch!.
(
Man beachte wie die durchgehend subdominatische Tönung dieses Anfanges noch
durch eine negative Maßnahme unterstützt wird: Die Tonklasse d als Leitton,
als Terz der Dominante, und die Dominantfunktion zur Grundtonart als solche werden
systematisch vermieden, und der Ton d hier (und drei Takte später,
im Echo) mit ganz anderer Funktion,
als tertiäres Phänomen, als Durchgang zu seiner eigenen Aufhebung im des,
gebracht.
Architektonische Idee dabei ist, den Einsatz der zweiten Themenhälfte
Takt 51, Buchstabe A, durch das Zurückhalten aller Dominaten bis dahin
umso sieghafter erklingen zu lassen. Dort wird dann ein voll ausgesetzer
Dominantseptakkord erklingen, sogar mit klischeehaft fallender Kadenz-Oktave im
Bass, und zwar als einziger in Grundstellung, während das Es-sieben als Sekundakkord,
Septime im Bass, und Ces-sieben in Takt 23/24, s.u.,
als Quint-Sextakkord, Terz im Bass, auftraten
)
Bisher war es so, dass der kleinste Wert des harmonische Rhyhtmus die
Brevis, also die Doppelganze war, schnellster Wert der Tonhöhenbewegung,
im Hornmotiv, die Ganze, und schnellster artikulatorischer Wert die
Sechzehntel.
Diese Verteilung in die Extreme bewirkt eine enorme subkutane Spannung,
die der äußerlichen Ruhe deutlich entgegensteht!
Hier nun ist der Rhythmus der Bass-Stimme, auf der sekundärharmonischen Ebenen, die Kombination punktierte Ganze / Halbe, und ein erster Schritt geschieht, die Lücke im rhythmischen Spektrum aufzufüllen.
Auswirkung und Echo dieses chromatischen Abwärts-Durchganges in Halben ist der Takt vierzehn: Weiterer chromatischer Abwärts-Durchgang im Bass und diatonischer Aufwärts-Durchgang in der Oberstimme, diesmal in Ganzen Noten. Ist dies noch Sekundärharmonik, oder hat vielmehr der harmonische Rhythmus von Breven auf Ganze sich beschleunigt? Beide Hörweisen sind möglich, beide schlüssig, beide in der Rezeption vermutlich ungefährt gleich stark präsent. Welch Wunder der Synthese!
Allemal wird durch diese Durchgänge, genau wie vorher, eine neue Tonhöhe, das
c, eingeführt. Diese war ja durch die Vermollung der Subdominaten ganz
zu Beginn herausgefallen. Sie
wird hier nachgeholt, bevor sie, durch das ja (auf der Wahrnehmungs-Ebenen eine
Stufe höher) erwartete as-moll ein zweites Mal, nun explizit, negiert wird.
Allemal klingt hier mit dem neuen Ton c auch der Klang von c-moll.
Während die Mollsubdominate der "romantische" Weg ist, von einer Dur-Tonart
ins moll zu kommen, ist dies gleichsam der "klassische", die Paralleltonart.
Der vierte und diese Periode abschliessende Motivauftritt ist, wie gesagt, wörtlich dem zweiten entsprechend as-moll/Es-Dur, und wir sind wieder daheim. Die Auskomponierung aber ist grundlegend anders.
Besonders das "Wuchern" der Durchgangsbewegungen hat weitreichende Konsequenzen:
Am Ende dieses Prozesses fehlen vom zwölftönigen Total noch
die Tonklassen a und e.
Das Hauptmotiv ist zweimal in der Originalgestalt erklungen, dazu
einmal mit dem ersten Ton ausgetauscht und einmal "um sich selbst" nach unten
transponiert.
Am Ende dieser Periode steht wieder zwei Takte lang nur der Anfangsklang, ehe sich die nächste Periode erhebt.
Diese nun beginnt in (fast notengetreuer) Wiederholung, aber
eine Oktave höher.
Das ist eine interessante Dialektik: Gerade weil die erste Periode
ja eine Transposition um eine Oktave nach unten auskomponierte, erwartet
man, dass nun der Einsatz einer eventuellen wörtlichen Wiederholung
einen deutlichen Sprung nach oben bedeutet.
Ob das nun eine oder zwei Oktaven sein sollten, kann unser
Gehör zunächst, wegen des doch recht langen zeitlichen Abstandes,
nicht a priori abschätzen, sodaß
die Wiederholung um eine Oktave höher, also das "Überschiessen" des Rücksprunges,
zunächst nicht auffällt, die Wiederholung zunächst "natürlich" wirkt.
Diese beginnt auch völlig unverändert. Lediglich die Engführung mit dem "ersten Kontrapunkt" des Hornes macht eventuell den Unterschied der Lage klar. Dieser Kontrapunkt greift die Oktavbewegung nach unten auf und beschleunigt sie von sechs Takten auf eine Halbe (!).
Das zweite Motivauftreten ist ebenfalls fast unverändert!
Statt zur Mollsubdominaten as-ces-es wird einfach noch einen Terz-Schritt
weiter gegangen zu ces-es-ges!
Dies wertet das bereits oben beiläufig als reiner Durchgang eingeführte ges
deutlich auf. Diesem Klang wird die Septime heses beigegeben.
In einer für Brucknern typischen Mehrdeutigkeit kann dies als
ein Dominantseptakkord für ein noch fehlendes e gehört werden, oder als
dreifache freie Leitton-Einstellung: fes nach es, a nach b, ces nach b,
also eine eher non-funktionale Spannungs-Stellung, oder
aber, wenn unser Positionsgefühl den Weg über das as-moll ernstnimmt,
als ein Ces-sieben mit ces-es-ges-heses.
Dieses heses oder a ist eine der beiden noch fehlenden Tonklassen, die andere ist das e, das hier, wenn man einen H-sieben hören möchte, als Tonika-Auflösung indirekt präsent ist.
Wir halten es auch nicht für übertrieben, hier schon den vorletzten Akkord der ganzen Sinfonie, das Schluss-E-Dur der Schlusssteigerung der Finale-Coda, als angestrebt zu hören!
Interessanterweise tut sich, bis auf den Austausch des b durch a und h, garnicht so viel im Vergleich zur ersten Periode! Die enharmonische Notation verschleiert das. Und die Führung der Oberstimme: Ohne Verlust hätte hier wieder ein ces stehen können, exakt wie beim ersten Mal! Dies geschieht aber selbstverständlich nicht! Vielmehr kann der Hörer das "ces-es-es-b" aus dem zweiten Motivauftrittes hier "diagonal" heraushören, herausfiltern, wenn er oder sie das möchte. Gesetzt ist aber nur eine Erinnerung, ein Ahnen der Ursprungs-Sitatuation, nicht eine Wiederholung.
Wiederholt wird allerdings die fallende Oktave des Horn-Kontrapunktes, zwei Oktaven höher. Auch das ist Dialektik: das Untergeordnete beeinflusst das Herrschende! (Und die Oktaven verweisen wieder auf das Finale.)
Zählen wir die Motivauftritte der Oberstimme durch, so folgt nun das siebente, welches (oktavversetzt) wörtlich dem dritten entspricht. Es ist sogar noch zahmer als dieses, als der Durchgang wegfällt, die Harmonik wieder im Doppel-Breve-Rhythmus sich beruhigt hat, und die Melodik wieder in Ganzen geht.
Auftritt sieben ist aber spektakulär neuartig, weil hier zum erstenmal
der Zielton des Motivs die Abweichung darstellt,
nicht wie vorher der Kopfton oder die Harmonik!
Der fallenden kleinen Sexte am Anfang des Auftritts zwei entspricht hier die
aufsteigende große.
Gleichzeitig mit dem abweichenden Zielton
setzt der c-moll-Klang ein, welcher in der Periode davor
nur "halb-beiläufig" auftrat (wir wußten ja nicht so recht, ob sekundär- oder
doch primär-harmonisch?)
Hier nun bleibt es für vier Ganze, für zwei Halb-Motive liegen.
Dialektischerweise nimmt deshalb der Kontrapunkt im Horn die
Originalgestalt des Motives an, bezogen auf c-moll, während der achte
Motivauftritt der Hauptstimme die fallende Quarte zum erstenmal
exprimiert: Er macht halt (im Anschlussintervall der Prime,
sozusagen) da weiter, wo er, mit dem betont abweichenden Ton,
gelandet war, und dies ist nunmal der Grundton/die Oktave
des c-moll-Klanges, nicht wie sonst immer die Quinte.
Das Neue in Auftritt sieben, der Schritt nach oben mit der zweiten Motivhälfte, dem letzten Ton des Motivs, der Ton c statt ces, wird ganz deutlich als Neuartiges betont. Man hört hier (in typischer kompositorischer Verschränkung) gleichzeitig eine Konsequenz/Synthese, da mit der Abweichung ein angestoßener Prozeß fortgesetzt wird, und die Harmonik dabei sich "normalisiert", aber auch zugleich Antithese, da hier eine neue Behauptung aufgestellt wird, die erst durch ihre Abwicklung/Konsequenzen ihre Berechtigung wird erweisen müssen.
Die Deutlichkeit des c-moll Einsatzes wird sanft aufgefangen durch die vermittelnde Funktion der Akkordlage als Sextakkord. Nur das c in der allerobersten Melodiestimme ersetzt das b (die Streicherschicht macht das selbstverständlich mit). Hingegen bleiben alle anderen Töne unverändert, besonders der tiefste ("Bass") bleibt ein es'. Erst einen Takt später, durch das Hornecho, wird c-moll in der Grundlage erreicht, und zwar durch eine Stimmkreuzung. Diese ist Ziel eines sorgfältig disponierten Prozesses zwischen den Klangbereichen von zwischen Bläser-Soli und Streicher-Hintergrund:
Der fast schon "ruckartige", ja fast "gewalt-tätige", wenn auch
begründete und erwartbare Fort-Schritt im siebenten wird im achten Auftreten
sequenzierend wiederholt.
Dem chromatischen, konzeptionellen Schritt "c statt ces" entspricht hier der
Halbtonschritt im Vordergrund "c nach des".
Als Parallelbildung wird das des aber ebenfalls mit der Moll-Harmonie
versehen, in "wörtlicher", "realer" Sequenzierung!
Somit erreichen wir des-moll, die doppelte Subdominate in moll,
ein umständlich weit Entferntes, empfinden aber auf dem Weg dahin
eine höchst organische Entwicklung.
Die acht Einsätze stellen sich also insgesamt dar als
1 | 2 | 3 | 4 | ||||||||
Es | Es | Es | Es | Es | |||||||
as | Es7 | as | |||||||||
mel.var. | X | ||||||||||
5 | 6 | 7 | 8 | ||||||||
Es | Es | Es | Es | ||||||||
Ces7 | c | c | |||||||||
des | |||||||||||
mel.var. | X | X | X |
Mit dem allerletzten Klang ist die letzte fehlende zwölftönige Tonklasse gebracht, das fes (oder enharmonisch e), hier Mollterz von des-moll. Dieses kann deutlich als trugschlüssige Auflösung des ces-sieben von Takt 25/26 gehört werden. Dies ist nicht zuweit hergeholt, denn dieser Klang war einer von bisher lediglich zwei Dominant-Septakkorden, neben dem Es-sieben in Takt 13!
Da das melodische Intervall der verminderten Quinte hier nicht "nackt" erscheinen soll, kommt des unserem Hören nur "natürlich" vor, dass der Sechzehntel-Auftakt hier zum erstenmal nichtmehr eine Wiederholung der zweiten Note ist, sondern der ersten, und somit die Mittelgrund-Stimmführung c-des im Vordergrund (als melodisches Intervall) exprimiert wird. Ausserdem wird das Sechzehntel-c-drei deutlich vorbereitet durch das Sechzehntel-c-eins im Horn, welches das Grundmotiv ja in seiner Grundgestalt bringt (jedenfalls genau bis zu diesem Ton), das c also als den Normalfall des Sechzehntels behauptet (siehe Zeichen "*" in den Noten).
Das Horn verhätl sich hier auf der des-moll-Stufe exakt wie grad eben: es spielt das Hauptmotiv in Grundgestalt, bewirkt durch Stimmkreuzung einen Lagenwechsel und bringt als letzten Ton die Mollterz.
Diese allererste Deformierung des Hauptmotivs wirkt wie ein Dammbruch: Die Spannung des Zwanges zum Beibehalten der Repetition ist aufgehoben, und ab jetzt können die Akkord-Töne viel freier auf die Anschläge verteilt werden, das Melos kann frei fließen. Diese plötzliche Freiheit geht einher mit einem abermaligen Schritt in subdominater Richtung, in den Gegenklang von des-moll, also in seine Subdominant-Parallele, nach Heses-Dur.
Hier sehen wir eine doppelte Dialektik:
Auf der Ebene der Empfindung erlebt er diesen harmonischen Wechsel
einerseits als
unendlich befreiend, öffnend, als wäre über den Morgennebeln endlich die
Sonne aufgegangen, und der Hirsch darf endlich sein röhrendes Geweih erheben, oder so
ähnlich ...
Andererseits klingt es aber auch extrem folgerichtig, hier musste
die Bewegung hin, es ist kein ruck-artiger Wechsel von Welt und Beleuchtung,
sondern ein von Beginn an angestrebter, der sich hier orgiastisch aber sanft
erfüllt.
Auf der Ebene der lesenden Analyse verblüfft hier, dass gerade die Tonart im Tritonusabstand zur Ausgangstonart, also in weitest möglicher Entfernung überhaupt (unter Annahme der Enharmonik) eine solch eindeutige Zielfunktion ausfüllen kann. Es scheint fast, als wäre die Haupt-Tonart nur eine Ausgangs-Tonart und das Haupt-Thema nur eine Einleitung.
Der weitere Verlauf führt allerdings, die Oberstimme weiter chromatisch nach
oben fortsetzend, über
E7 -- F7 -- Ges -- Es7 -- as -- F-79-hv -- B7
auf eindeutigste Weise kadenzierend nach Es-Dur zurück.
Bei Buchstabe A, Takt 51 beginnt damit der zweite Teil des Hauptthemas, etwas ganz anderes und kontrastierendes, basierend auf dem "Bruckner-Rhythmus" Duole-Triole, der aber im vorangehenden Rückmodulationsteil schon "unter der Hand" eingeführt worden ist.
Dieser bleibt nun im "medianten" Bereich von Es, c, es, Ces.
Erst ganz zuletzt, Takt 66 wird dieser Bereich verlassen.
Der Ges-sieben ges-b-des-fes wird in einen verkürzten hartverminderten
(c)-e-ges-b-des umgedeutet, und so, etwas gewaltsam,
allemal aber deutlich, nach F-Dur umgesteuert.
Dieses hier erreichte F-Dur kann, obwohl es nach wenigen Zählzeiten schon wieder sub-mediantisch verlassen wird, als Grundlage der gesamten restlichen Exposition angesehen werden! Die weiten Strecken in B und Es können durchaus als sekundärharmonisch zu einem herrschenden F-Dur angesehen werden, da der gesamte Exp-Schluss, die sog. "Epilog-Gruppe", und der Df-Anfang dieses F wieder eindeutig ausdrücken.
So nähern wir uns langsam dem Thema dieses Artikels. Der Df-Anfang (Doppeltaktstriche wieder von uns!) lautet:
|
Notenbeispiel 3: Bruckner, Vierte Sinfonie, erster Satz, Anfang der Durchführung, Auszug |
Zunächst folgt der Durchführungsanfang, wie fast immer bei Bruckner, der Strategie "wie zu Beginn", also anknüpfend an den Anfang der Exposition (die andere Strategie ist "wie grad eben", also an deren Ende anknüpfend).
Das Hauptmotiv erklingt zunächst in erwähntem F-Dur.
Im Gegensatz zum Anfang liegt die Hornstimme nun allerdings unter den begleitenden Akkorden, diese erscheinen wie zu Beginn als "misterioso" Streicher-Tremolo.
Der erste Motivauftritt T.217 ist allerschlichtester Natur, lediglich Tonika-Töne, genau wie der Aller-Anfang. Im Gegensatz zu diesem wird aber hier bereits ein kontrapunktisches Echo hinzugefügt. Dies ist einerseits Konsequenz der Echos aus dem Expositionsbeginn (Motivauftritte fünf und folgende, T.19 ff.), --- anderseits aber auch schon durchaus "durchführungs-typisch". Allemal ist alles anders: der Abstand ist verkürzt, auf eine Ganze, als "Engführung" (was bei der Einfachheit des Materials nicht gerade übermäßiges kontrapunktisches Geschick voraussetzt !-), der Einsatzton ist die Oktave des gerade klingenden Melodietones, die Antwort bildet also, da die ausgedrückte Harmonik über alle vier Takte dieselbe ist, das strenge Komplementär-Intervall.
Dieses Echo wird beibehalten und ausgebaut. Schon beim zweiten Auftritt erscheint zum allerersten Mal die Umkehrung des Hauptmotivs, und ab dem dritten Mal rectus und inversus gleichzeitig, als "Engführung im Abstand null".
Der zweite Motiveinsatz T.221 bringt in der melodischen Kontur die kleine
Sexte, genau wie zu Beginn, siehe Zeichen "*". Die Harmonisierung jedoch
kann nur als "a-funktional" bezeichnet werden, ist mit herkömmlicher
funktionaler Harmonielehre nicht mehr zu erklären, ist schier sensationell.
Die Harmonik entgleitet, spaltet sich auf in zwei Schichten, die unabhängig von
einander fortschreiten, wird poly-tonal:
Im Vordergrund steht das Horn-Motiv. Den Hintergrund (den Raum, in dem dieses
erklingt, den Wald, der ungerührt schweigt, etc.) bildet das Streichertremolo.
Beide treffen sich im dritten Takt des zweiten Motivauftrittes:
die Harmonik kehrt zum F-Dur-Dreiklang zurück, das Horn steigt
wieder hoch in die Quinte dieses Klanges. Dies greift die im zweiten
Auftritt zu Beginn exponierte Dialektik auf: Der Grundklang wird wieder
erreicht wenn der Grund-TON verlassen wird.
Hier aber wird eine deutliche Verschärfung durch die sehr einfache Maßnahme erreicht, dass statt der sich unmerklich anschmiegenden SUB-Dominante das gebracht wird, was in der ganzen Exposition dieses Thementeiles tunlichst vermieden wurde, die völlig fremde, ungerührt neben der Melodie stehende Dominante!
Dies führt zu spektakulären klanglichen Ergebnissen, die genauer zu betrachten
sind:
Auf der Eins des Motivauftrittes, Takt 221,
bringt das Horn die erwartete, "normale" kleine Sexte.
Die Streicher aber spielen dagegen den "Tonika-Gegenklang" a-c-e,
den moll-Dreiklang zwischen Tonika und Dominante.
Dadurch entsteht ein symmetrischer Akkord, der
Dur- und moll-Terz gleichzeitig (!!) enthält.
Von unten nach oben erklingt des+e+a+c, das entspricht modulo Oktavlage
einem Klang a+(c+cis)+e!
Der zweite Klang ist noch extremer: Das Horn fällt zum Grundton, während die Streicher den reinen Dominantdreiklang bringen. Während gerade das Solo-Motiv die untere große Septime (quasi obere kleine Sekunde) zur Mollterz brachte, ist es nun die zur Durterz, es erklingt die Doppelfunktion von Tonika im Horn und Dominante in den Streichern.
Dann kadenziert der Streicherakkord hinab zur Tonika, während das Horn in die Quinte aufsteigt, also die Gegenbewegung vollzieht. Im Schlussklang ist zwar das Horn in den Streicherklang integriert, es fügt aber die Quinte als tiefsten Ton hinzu, gleichsam "in den Bass", sodass ein labiler "Quartsext-Vorhalts-Klang" entsteht.
Aus dieser Situation löst sich nun zunächst eine neue, nämlich
pentatonische Variante des zweiten Themenbestandteiles (der
charakteristischen Folge Duole-Triole, T.43 oder T.51).
Diese fällt (nur kurzzeitig) in die Bass-Region, verbunden mit der Vermollung.
Dann folgt die Verschiebung um eine Halbe. Dies ergibt
hier zum ersten Mal im ganzen Werk die Folge Triole-Duole relativ zum Takt,
(in beide Takthälften Triolen erklang allerdings bereits in Tkt.135),
und die gleichzeitige Überlagerung von Duole und Triole, wie in
Tkt.48,49,57,58..
Diese Verschiebung ist verbunden mit dem Gegenklang-Übergang f-Des.
Mit einer zweiten Vermollung, und gleichzeitigem "Trugschluss" setzt der zweite Auftritt des Hauptmotivs ein. Die Gesamtfolge heisst also
F | -> | f | -> | Des | -> | (des->) | A |
T | -> | t | -> | tG | -> | (tg->) | tgG |
Der dritte Einsatz beginnt also in A-Dur, mit genau dem Klang, mit welchem in der Exposition Einsatz neun und das befreite Fließen begann (T.35). Allerdings ist genau das hier der Ellipse zum Opfer gefallen, was dort deutlich zu hören war, das unmittelbar vorangehende des-moll!
Welch Wunder an Ausgewogenheit!
Das Paar aus drittem und viertem Einsatz ist ähnlich dem ersten:
Dritter Einsatz extrem "harmlos", da nur Tonika-Töne,
vierter Einsatz unterscheidet sich vom ersten nur dadurch, dass im ersten(/zweiten)
Klang der Dominant-Grundton e durch die Septime d ersetzt(/ergänzt) wird.
Ersteres wird zwingend erfordert von der anderen Lage: statt der großen Septime
des'-c'' wie oben ergäbe sich hier eine unmotivierte Sekundreibung.
Ausserdem sind hier Horn-Solo und Begleitung schon näher aneinandergerückt
und teilweise ineinandergewachsen.
Der zweite Klang, a+d+gis+h+e in Takt 234 ist wieder die Doppelfunktion T+D.
Der erste allerdings, d+f+gis+cis, der analog zu Tkt.221 als Sextvorhalt cis-h
vor dem Dominantklang d+f+gis+h zu deuten wäre, kann nun aber auch
als ein "Cis-sieben-neun mit fehlender Sieben" gedeutet werden, wenn man
das f als eis liest und
davon absieht, dass es einen solchen Klang in der konventionellen
funktionalharmonischen Lehre nicht geben kann.
Diese Interpretation bezieht Takt 233 unmittelbar auf 241/241,
Der weitere Verlauf ist eine typische Brucknersche Steigerung durch Verdichtung, wie er bisher mit dem Hauptmotiv noch nicht durchgeführt worden war.
Die Harmonik geht einfach in bekannter Mediant-Manier:
A | -> | A79(DV) | -> | Cis7 | -> | Fis | -> | B79 | -> | es |
Mit diesem es-moll setzt dann die erste Durchführung des zweiten Hauptthemenbestandteils (Duole-Triole) ein.
Diese kadenziert deutlich in ein B-Dur, Buchstabe K, Tkt.287.
Damit haben wir den ersten von den zwei ja notwendigen Quintfällen zur Rp vollzogen.
Nach dem Abbruch dieser ersten fortissimo-Fläche bleibt von B-Dur die Terz b-d flimmernd stehen. Das Streicher-Tremolo gemahnt zwar an den Anfang, hat aber stufenweise, siehe Takte 1 bis 34, 117 bis 145, seine bisher höchste Lage erreicht.
Hier nun geschieht das Phänomen, das wir oft bewogen sind als "bandschnitt-artig" zu erleben:
|
Notenbeispiel 4: Bruckner, Vierte Sinfonie, erster Satz, Höhepunkt der Durchführung, Auszug |
Denn während diese ersten beiden leer flirrenden Takte das Vorspiel des allerersten Anfanges aufzugreifen scheinen, und so fast eine "Scheinreprise" nahelegen, bietet das erwartungsgemäß einsetzende Hautpmotiv in seinem ersten Auftreten schon die melodische Form des ehemals zweiten Einsatzes, die von Takt 7!
Hier scheint etwas zu fehlen, wir sind hineingesprungen in eine
Sequenz, deren erstes Glied wir anscheinend überhört haben.
Die Nebennoten-Bewegung, die für die ersten Wahrnehmung des Werkes
überhaupt fundamental ist, wird hier angeschnitten. Der Durchführungsprozess
de-konstruiert bewußt den Zusammenhang des Anfanges, in dem
er das Echo der Takte 1 und 2 "hart" an das der Takte 7ff "anschneidet".
Dies wird besonders dadurch betont, dass gleich als
erstes Intervall eine fallende Sexte erscheint. Eine solche gibt es
nämlich als melodisches Intervall (im aller-engsten Sinne) eigentlich garnicht,
wird jedenfalls von vielen Kontrapunkt-Lehrbüchern ausdrücklich verboten!
In Takt sieben des Anfanges entstand dieses Intervall
als Bei-Produkt im Vordergrund, als zwangsläufige
Sekundär-, ja, Tertiär-Erscheinung der als natürlich gehörten Nebennotenbewegung
b-ces-b des Mittelgrundes,
die ja mit dem Zurückkehren zum b das Auf-Heben dieses un-natürlichen
Intervalles zurück in die reine Quinte beinhaltet, -- wie ein Gummiband das
nach kurzer Anspannung schnell, bestimmt, aber sanft wieder zurückgleitet.
Hier nun wird wie mit einem vivisektorischen Schnitt mitten in diesen Prozess hineingesprungen, der einleitende Zusammenhang weggenommen und so der Vorgang dieses Zurückfallens wie unter einem anatomischen Mikroskop isoliert.
Die Harmonisierung der kleinen Sexte ges ist neu und zwar als tG (bezogen auf B-Dur) die Vermittlung zwischen der s des zweiten Themenauftritts (Tkt 7) und dem tG7 des sechsten (Tkt23, beide bezogen auf Es-Dur), bezieht sich also auf die Exposition, deutlich im Ggs. zu den Harmonisierungen der beiden vorangegangenen Df-Stellen (Tkt221 mit Tg und Tkt 233 mit Tg-9)
Die Harmonisierung des nächsten Taktes 291 ist aber wieder die für die Durchführung mittlerweile "normale" Doppelfunktion wie in Tkt. 222 und 234. Auch hier ein sorgfältig disponierter bei-geordneter Steigerungsprozess: Dort Dominant-Dreiklang und Dominant-Septakkord, hier nun DV, also verkürzter Dominant-Sept-Nonenakkord.
Ganz im Sinne "klassischer Abspaltung" wird die so neu gewonnene Motiv-Form unmittelbar sequenzierend wiederholt und dadurch erst als motivisches Material behauptet.
Das Sequenzierungsintervall ist die kleine Terz. Dem entspricht, bezogen auf die in der Rp ja anzustrebende Tonart Es-Dur, der Fall von der D zur SS. Indirekte Begründung ist das "tote" Anschlussintervall f-a als Umkehrung der fallenden kleinen Sexte.
Harmonisch hört man mit dem Einsatz des a und e wohl eine Vermollung des Des-Dur, welches als Quint-Antwort auf das Ges-Dur des Taktes 290 (seinerseits ja tG von B-Dur) gehört werden kann. Also als tp von B-Dur. Damit wird hier das des-moll wieder aufgegriffen, welches in der Exposition als Anfangspunkt des ersten "Aufweichungsprozesses", in Takt 33 erreicht worden war.
Hier nun geschieht eine erste wichtige Synthese im Sinne eines
Zielpunktes des Durchführungsprozesses.
Diese wird verursacht durch die Tatsache, dass in Takt 294 die fallende
Sexte ja wieder an der "richtigen" Stelle steht, bezogen auf das Gesamtmetrum,
einschliesslich der beiden "Einleitungstakte" 288f.
Wenn diese und das folgende Motiv schon in Des-Dur gestanden hätten,
wäre hier alles wieder im Normal-Zustand des allerersten Anfanges, allerdings einen
Ganzton, also zwei Quinten tiefer.
Diese "Zurecht-Rückung", dieses Aufheben der schnittartigen Verletzung
geschieht dialektischerweise ebenfalls schnittartig, durch die Sequenzierung.
Um diese Re-Normalisierung zu verdeutlichen geschieht (als anscheinend selbstverständliche Konsequenz) weitergehende Vermittlung, geschieht Schein-Reprise: Mit dem zweiten Takt nämlich dieses Einsatzes, dem des/cis im Horn, Takt 295, wird die bisher an dieser Stelle übliche spröde Doppelfunktion D+T aufgegeben, und es erklingt die reine Moll-Subdominate, wie beim allerersten Anfang, beim zweiten Motivauftritt, und diese kehrt, genau wie dort, in die reine Dur-Tonika (hier Des-Dur/Cis-Dur) zurück.
Dieser erste Schimmer einer Reprise wird allerdings durch die Akkordform abgeschwächt: Beidemale ist die Quinte der tiefste Ton, einen labilen Quart-Sext-Klang bildend. Die Töne des Haupt- und Hornmotivs liegen an allen Stellen in der Durchführung unten.
Der folgende Choral-Höhepunkt agglutiniert die inzwischen vierfache Engführung des Hauptmotivs weiter zum akkordischen Satz, trennt den ryhthmischen Verlauf (quasi "Talea") vom melodischen ("Color"), und macht aus der tiefliegenden Melodiestimme einen tatsächlichen Bass.
Wir beschränken uns, unserer Themenstellung entsprechend, auf wenige Bemerkungen:
Wie obige doppelte Schnittstelle erkenntnistheoretisch und trans-musikalisch weiter einzuordnen ist, darauf werden wir ganz zum Schluss dieser Untersuchung nochmal zurückkommen.
Auch für das Verständnis des nächsten Beispiels ist das Prinzip der Montage durchaus hilfreich, wenn auch letztendlich eine "psychologisierende" Erklärung an dessen Stelle treten kann. Es handelt sich um die ausgedehnte zweite d-moll Themengruppe aus dem gewaltigen Kopfsatz von Mahlers Dritter Sinfonie, in ihren drei Erscheinungsformen in Exposition, Durchführung und Reprise.
Wie man diese Aggregate korrekt als Form-Bestandteil benennen sollte, kann
durchaus strittig diskutiert werden. "Zweite Themengruppe" oder
"Einleitungs-Thema" sind Bezeichnungen, die bestimmte Aspekte korrekt
wiedergeben, aber keinesfalls erschöpfende Beschreibungen.
Fest stehen folgendes:
Die folgenden Notenzeilen zeigen in einem einstimmigen
Auszug all diejenigen Anteile an diesen
Themengruppen, die man als hinreichend agglutiniert betrachten kann, um
eine "thematische Gestalt" im engeren Sinne zu bilden, also einen
wiedererkennbaren logisch-sequentiellen Zusammenhang.
Die Darstellung behinhaltet (in diesem Sinne "vollständig" !)
jeweils den ersten Teil von Exposition, Durchführung und Reprise.
Um das Wiederkehren der Motive zu verdeutlichen, wurden diese
möglichst untereinander geschrieben. Zu diesem Zwecke sind
Leerstellen einfügt. Ansonsten ist aber alles rhythmisch korrekt
und in allen Zeilen in denselben Proportionen notiert.
Um die Motive untereinanderzustellen erzwingen deren Wiederholungen
in der Tabelle Rück-Sprünge, die durch Aufteilung auf
eine jeweils neue Zeile realisiert werden.
Man lese also für den
Ablauf der Exposition den Inhalt der Zeilen "E1", "E2", "E3" und "E4",
nacheinander, in dieser Reihenfolge, aber nur dort, wo auch etwas notiert ist.
Alle Auslassungen innerhalb dieser Themengruppe sind
markiert durch Kästchen mit Inhaltsangaben.
In E1 und D1 ist das kurze Trompetenthema eingelassen,
welches sich bezieht auf "Alle Lust will Ewigkeit" aus dem vierten Satz.
Zwischen E2 und E3 erfolgt eine erste kurze Exposition des kontrastiereden
Frühlings-Marsches, sogar in D-Dur!
Wo keine derartige Markierung innerhalb einer Gruppe
auftritt, ist unser Auszug vollständig.
Zur besseren Lesbarkeit konnten nicht alle Motive untereinandergestellt werden, siehe das Motiv "x", welches zwar untergeordnet, aber charakteristisch ist. Vice versa stehen aus Platzgründen selten auch nicht-motivische Fortsetzungen unter den im Zentrum des Interesses stehenden, jeweils geklammerten Motiven, was aber leicht zu unterscheiden ist. Ebenfalls weggelassen sind die Metrum-Angaben, die zwischen 2/2 und 3/2 wechseln.
(
Unsere Darstellung hat die stolze Länge von über einem Meter!
Die Datei
ston2012091600_picts/mahler_III_1_hth_split.pdf
enthält eine Version zerlegt auf vier einzelne Din-A-vier-quer Seiten,
die man sich ausdrucken und aneinanderkleben kann.
!-)
|
Notenbeispiel 5: Mahler, Dritte Sinfonie, erster Satz, zweite Themengruppe |
Was man unmittelbar erkennt ist, dass die Längen abnehmen: Die Exposition bedarf vier Zeilen, der Durchführungs-Anfang nur noch dreier, die Reprise nur noch zweier!
E1 beinhaltet das erste Auftreten dieses "zweiten Themas" ff in den Hörnern.
Wichtigstes Motiv ist a1, die auf- und wieder absteigende Füllung der kleinen Terz,
zusammen mit a2, die exclamatio in den Vorhalt.
Jeweils für sich, und auch in dieser Kombination, sind es "Mahlersche Ur-Motive".
Hier jedenfalls ist das meiste des folgenden Materials aus ihnen durch
Weiterentwicklung abgeleitet.
Auf die intervallische Spreizung a3 folgt das charakteristische Motiv b,
das eine komplexe Kombination ist aus der Schluss-Floskel a4/2, der Dur-moll-Rückung,
und espressiver Akkordbrechung (Oktave abwärts, kleine Sexte aufwärts).
Ausgelassen in der Tabelle ist das anschliessende Trompeten-Solo,
der bereits angesprochene Vorgriff auf "alle Lust will Ewigkeit" aus dem
fünften Satz. Dieses mündet in den "kleinen Zusammenbruch" c.
Dann folgt eine variierte Wiederholung der Anfangssequenz, siehe E2.
Dann folgt ein Vorgriff auf den folgenden fröhlichen Frühlingseinzug, der aber nach wenigen Takten sich wieder entfernt.
Mit E3 spielt sich der gesamte Ablauf nochmals ab, diesmal aber in den Posaunen. Einerseits metrisch aufgelockerter, durch die häufigeren Taktwechsel, andererseits motivisch aber knapper und strenger gefasst: E3 bringt nur die Motive a1, a2, das Dur-moll-Motiv b und ein neues Brechungsmotiv d.
E4 schliesst unmittelbar an, wiederholt all das und endet, die Akkordbrechung von d aufnehmend und weiterführend, in einer voll-akkordischen freien Umkehrung des Dur-moll-Motives b.
Nun aber setzt tatsächlich der Frühlingsmarsch in munterem F-Dur ein, und von all der mühsam und kunstvoll exponierten Vielfalt ist für den folgenden langen und inhaltsreichen Haupt-Teil der Exposition jede Spur verschwunden!
Bis dann auf dem Höhepunkt der Schlussgruppe, mitten ins jubelnde B-Dur mit einem "panischen Schrecken" der DV der Dominaten von d-moll einsetzt, und die Motivfolge D1. Das Thema unserer "zweiten Themengruppe" steht also nicht nur positionell am Beginn der Durchführung, sondern drückt diesem Anfang seinen stärksten Stempel auf, durch sein gewaltsam kontrastierendes Einsetzen und durch das schlagartige Zurückreissen in die von ihm definierte Anfangsstimmung.
Man beachte, wie genau der Einsatz D1 dem E1 folgt, bis auf wenige, aber folgenreiche Abweichungen.
Insbesondere geht D1 mit dem Motiv d weiter, welches in der Exposition erst viel später (in E3) erreicht wird. Die Abfolge hier klingt aber durchaus organisch, so als wäre in der Exposition das Motiv d eher künstlich zurückgehalten worden, und nun an den Platz gerückt, der ihm ihn der Abfolge-Logik durchaus zukommt.
In der Tabelle weggelassen ist wieder die Trompetenmelodie,
das Vor-Zitat "Alle Lust will
Ewigkeit"; die anschliessenden Sechzehnteltriolen (siehe Tabelle) führen
aber diesmal nicht zum Zusammenbruchs-Motiv c, sondern (über a4 und x)
zu einer turbulenten polyrhythmischen Dreiklangsfläche.
In der Exposition trat das Motiv x in der definitiv letzten Erscheinungsform
unseres Themas auf, dementsprechend kann sich auch hier ein gewisses
Schlußgefühlt und die Erwartung auf Anderes einstellen.
Nachdem die Fläche verklungen kommt tatsächlich etwas Neues, ein schwermütiges Posaunensolo. Die Vortragsbezeichnung lautet sogar ausdrücklich "sentimental", deshalb nennen wir es "pss", für "Posaunen-Solo-sentimental". Dieses schweift von b-moll nach B-Dur, und hier erst, in solch lyrischem Kontext recht unerwartet, kommt nun nachgeliefert das Zusammenbruchs-Motiv c.
D3 ist dann nur ein abschliessendes p-Echo im Englischhorn, welches sich eng an D1 anlehnt und so in "verharmlosender" Weise auf den allerersten Ursprung der Themengruppe zurückverweist, und auch den motivischen Ursprung der soeben erklungenen drei so unterschiedlichen Katastrophenstellen (Einbruch von D1-Anfang, Dreiklangsfläche, Motiv c) fast schon "didaktisch" nochmal demonstriert. Gleichzeitig ist duch Instrumentation und Harmonik dessen Motivik ein Stück näher gerüctk an in die klanglich-inhaltliche Sphäre der Fröhlichkeit.
Was uns nun aber am meisten interessiert im Zusammenhang mit dem Thema "sequentielle Montage" ist die Reprise, und das überraschende "Verhalten des lyrischen Subjektes" am Ende unserer Themengruppe.
Wie die Tabelle zeigt braucht die Reprise nur noch eine zwei Zeilen. Sie ist sozusagen die "aufgeräumteste" Version von allen.
Sie beginnt zunächst fast notengetreu wie die Exposition, mit einigen kleineren,
aber charakteristischen Abweichungen, aber dem Ablauf der Exposition genau folgend.
also, wie oben beschrieben, mit dem "Haupt-Thema", den Vorgriffs-Motiven,
der kreisenden Motiv-Fläche.
Mit dem Einsatz der hier betrachteten "zweiten Themengruppe" aber
geschieht sofort ein erster Sprung:
Diese läßt nämlich aus die Zeilen E1 und E2 und
setzt (in gleicher Orchestrierung wie damals) direkt mit der
Posaunenvariante ein, die Zeile R1 wiederholt E3, nicht E1.
Es ist, als würde man in der Exposition von
"drei nach Ziffer drei" nach "drei nach dreizehn" springen.
Die Zeile R1 bringt wie E3 die Motive a1, a2 und b. Wahrend aber E3 sich zur Wiederholung E4 wendet, geschieht hier ein zweiter Sprung: Es wird nämlich der Fortsetzung vom Durchführungs-Anfang gefolgt, dem sentimentalen Posaunen-Solo pss! Es entspricht R1 also der Zeile D1, in D-Dur statt in B-Dur.
Man beachte wie sorgfältig diese Bruchstelle verkittet wird, wie subtil
der Schwenk in eine andere Welt vorbereitet wird, und wie dann diese
neue Kombination die melodische Gestalt aus dem Durchführung-Beginn
im Nachhinein erklärt:
Während E4 mit der zweimaligen
Quinte a-e in der Folge Viertelnoten-Auftakt, Halbenoten-Auftakt beginnt,
ist hier in R1 die Reihenfolge umgekehrt.
Damit ist eine schrittweise Annäherung an den Rhythmus von pss
geschehen.
Dieses erklingt dann auch, statt der Themengestalt E4, die nach der
Expositions-Logik folgen müsste, und mit a1 und a2 beginnt.
Setzen wir zur Verdeutlichung diese beiden Stellen nochmals untereinander:
Durch die beiden Stellen vorangehende, exzeptionelle Pauken-Quarte werden
diese nochmals ausdrücklich aufeinander bezogen.
((
Nebenbei, diese Quarte ist einerseits selbstverständlich Echo
des allerersten Intervalles des Werkes, auf der Dominantstufe, andererseits
Vorwegnahme der pizzicato-Quarte, die im letzten Satz den Schlusschoral
dominantisch ankündigen wird. Genau genommen entfaltet sie bis
zu dieser Kadenz nach D-Dur (Zf.33 im Finalsatz) ihre Fernwirkung.
Was ihre Beziehung zum Werke von Hans Rott angeht, siehe
senza tempo 20120909 00
))
Dieses Ersetzen des Themenanfanges E4 durch das pss eklärt dessen
Zustandekommen: Die zunächst wie ein Doppelschlag wahrgenommenen Umspielung,
hier des Tones e, d-e-f-e,
ist (auch!) ein metrisch verschobenes Motiv a1! Gleichzeitig ist
dessen zweite Hälfte die Transposition der exclamatio a2, die durch dieses
Übereinanderschieben von erwarteter und vertretender Figur aufeinandergelegt
werden.
Naklar, die Sexte und ihre Auflösung ist eine Transposition der Terz und
ihres Abwärtsdranges. Was aber, so allgemein formuliert, allertrivialstes
Grundlagenwissen ist,
wird in diesem Moment konkret erfahrbar, wird zum "Aha-Erlebnis".
Nun aber kommt die Stelle, für deren Beschreibung aller voranstehender Text nur notwendiger Vorlauf war, der dritte Bruch in diesem Ablauf, der sich fast wie ein harter Bandschnitt begreifen läßt:
Dann nämlich, wenn in der Durchführung pss in das Zusammenbruchs-Motiv c übergeht, mit den hohen d, verweigert sich die Reprise!
Mitten im Hoch-Ton überlegt die Posaune es sich anders!
"Vorwärts" steht in der Partitur, als nach einer halben Note
ein kommentierender Hintergrund-Akkord einsetzt.
Diese Stelle muss so gespielt werden, als würde vor diesem
Akkord-Einsatz der Posaunist ansetzen, das Motiv c zu spielen,
ganz wie in Takt 436, 4 vor Zf.34.
In der Mitte der ganzen Note würde er es sich dann aber eines Besseren
besinnen und stattdessen mit einer
"einwilligenden und kapitulierenden Kadenz"
in ganz andere Gefilde und Haltungen "beidrehen".
Betonung, Lautstärke-Dynamik, Phrasierung, Agogik und Ausdruck
muss tatsächlich hier wie mit einer Bandmaschine geschnitten sein:
Zuerst ganz so wie das Motiv c angefangen wird, in allen Parametern,
dann aber resignieren, oder -- dazugelernt haben.
Nur so ist diese Stelle verständlich:
Jedes der Motive a1, a2, b, d kommt in der Reprise nur noch genau ein Mal.
Das Trompetensolo "Alle Lust" kommt garnicht, und das Motiv c, auf das
man durchaus wartet, lugt noch so eben gerade um die Ecke, wird aber
dann umgebogen in eine Kadenz nach D-Dur.
Damit ist aber nicht nur die d-moll-Sphäre (vorerst) völlig vergessen und verlassen, auch das D-Dur ist damit abgeschlossen und "erledigt"! Der Rest des Satzes wird sich in der Parallelen bewegen und in bodenständigem F-Dur schließen.
Erst im vierten Satz ("O Mensch, gib acht") wird D-Dur wieder auftreten, obwohl eher ein a-moll die Sphäre, die Grundstimmung determiniert.
Der fünfte Satz feiert wieder fröhliches F-Dur (bis auf den längeren tragischen Mittelteil "ich gehe und weine" in d-moll und ein kurzes Aufblitzen von D-Dur auf "die himmlische Freude"). Erst im Finale kann D-Dur sich dann endlich voll entfalten. Darauf zielt dieses Wieder-Aufnehmen des "sentimentalen Posaunensolos" und sein umgebogenes Beendigen hier in der Reprise bereits hin!
Hier also treffen also bandschnittartige Kompositionstechnik, romanhaft-psychologische Anmutung und architektonische Fernst-Wirkung in diesem einen Takt zusammen!
Wenn auch der heutige Hörer oft nicht umhinkommt, zunächst spontan "Platten-Sprünge" und "Bandschnitte" zu erkennen, so können die dies hervorrufenden Kompositionstechniken aber auch, wie im Beispiel eben angedeutet, ganz anders gemeint sein, nämlich als Umsetzungen psychischer Vorgänge, und das in überaus deutlicher und leicht nachvollziehbarer Weise.
So singt z.B. in Mathias Wittekopfs Gitarrenlied
Lied der Rosen vom Schipka-Paß nach dem Gedicht von
Bertolt Brecht ein Kriegsveteran in vielen verschiedenartigsten
Situationen seines Lebens, nie achtend des
Kontexts, der Angemessenheit und der Erwünschtheit seiner Darbietung,
ostentativ immer wieder
dasselbe Lied von eben diesen selben Rosen. Die Erinnerung scheint ihn zu verfolgen,
scheint ihm wichtiger noch als das eigene Sterben.
Dies wird vom Komponisten umgesetzt indem, egal in welch unterschiedlichen
tonartlichen Kontexten Melodie und Begleitung
(inzwischen, im Verlauf der Strophe) angekommen sind, die
Textzeile "Rosen vom Schipka-Paß", mit der jede
Textstrophe endet, immer wieder wörtlich gleich vertont wird.
Der Eindruck von "Bandschnitt" ist beim Hören
(jedenfalls dem Verfasser) unausweichlich,
aber die inhaltliche Deutung schiebt sich doch deutlich darüber!
Wir wissen nicht ob Vorbild, aber Vor-Läufer allemal ist das Verhalten Siegfrieds beim Abschied von Brünnhilde im Vorspiel zur Götterdämmerung:
Diese, als wissendes Weib, spricht von tiefen und sehr unterschiedlichen Geheimnissen, von Welt und Wille, Vergangenheit und Zukunft. Die Musik moduliert dabei entsprechend in verschiedene, recht weit entfernte Bereiche.
Dem muntren Recken aber ist das alles egal (und wohl auch zu abgehoben !-). Er fällt ihr am Ende jedesmal ins Wort, redet immer nur von dem Einen, -- jedesmal mit demselben überschwenglichen Motiv. Zwar nicht jedesmal in wörtlich derselben Tonart, aber jedesmal natürlicherweise in einer auf gleiche Art falschen, hart eingefügt wie ein Tonbandschnitt.
Ein wunderschönes Beispiel für des Meisters Menschenkenntnis, Frauenbild, Humor und Gestaltungstechnik!
Bewußt auf beide Vorläufer bezug nimmt der Verfasser im ersten seiner Lieder nach Rilke op. 13, Über die Dinge.
Im ersten Satz "Toccata" werden
im bekannten Text "Herr, es ist Zeit ..." auf immer denselben
klagend-ausrufenden Tonhöhen vertont die Anfangszeilen
"Befiehl den letzten Früchten ..."
"Wer jetzt kein Haus hat ..."
"Wer jetzt allein ist ..."
"Unruhig wandern ..." (dies schliesslich eine Oktabe höher, der
Rest danngesprochen )
Jedesmal moduliert es weitgreifend fort, stets anders; der "Rück-Sprung" aber ignoriert jedesmal die erreichte Entwicklung, ist stets rücksichts- und humorlos. Halt herbstlich.
Einen wertvollen Hinweis auf eine noch weitergehende Bedeutung, die in fast allen diesen Stellen mehr oder weniger stark mitschwingt, gibt uns Thomas Mann in der berühmten "undeklarierte Nachbildung" [EDrF, , pg. 58] des Vorspieles zum Dritten Akt der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner. 3
Im XVten Kapitel seines Doktor Faustus [DrF, , pg. 195] heisst es nämlich:
So geht es zu, wenn es schön ist:
Die Celli intonieren allein ein schwermütig sinnendes Thema, das nach
dem Unsinn der Welt, dem Wozu all des Hetzens und Treibens und Jagens
und einander Plagens bieder-philosophisch und höchst ausdrucksvoll
fragt. Die Celli verbreiten sich eine Weile weise kopfschüttelnd und
bedauernd über dieses Rätsel, und an einem bestimmten Punkt ihrer
Rede, einem wohl erwogenen, setzt ausholend, mit einem tiefen Eratmen,
das die Schultern emporzieht und sinken läßt, der Bläserchor ein zu
einer Choral-Hymne [...]
So dringt die sonore Melodie bis in die Nähe eines Höhepunkts
vor, den sie aber, dem Gesetz der Ökonomie gemäß, fürs erste noch
vermeidet [...] und macht einem anderen Gegenstande Platz, einem
liedhaft-simplen, scherzhaft-gravitätisch-volkstümlichen, [...]
Mit dem Liedchen wird nun eine Weile klug und lieblich
gewirtschaftet [...]
wiegt sich dort oben ein wenig noch, und wie es am
schmeichelhaftesten darum steht, nun, da nimmt wieder das milde
Blech, die Choral-Hymne von vorhin das Wort an sich,
tritt in den Vordergrund, fängt nicht gerade, ausholend wie das erste Mal, von
vorne an, sondern tut, als sei ihre Melodie schon eine Weile wieder
dabei gewesen, und setzt sich weihesam fort gegen jenen Höhepunkt hin,
dessen sie sich das erste Mal weislich enthielt, [...]
Dies ist der Hinweis! "Tut so, als sei ihre Melodie schon eine Weile wieder dabei gewesen". Das ist auch die Erklärung für die wunderbare Wirkung der oben aufgeführten Bruckner-Stelle am Ende der Exposition, Takt 290. Wir Hörer werden in "schnitt-artig" in verschiedene Kontexte gleichzeitig versetzt:
Zum einen hätten die gerade verklungenen Takte anders lauten müssen,
wenn der Takt drei des Themas nicht so herausgeschnitten wäre.
Wir rekonstruieren im Kopfe die vorausgehenden "korrekten" Takte,
wir korrigieren unsere Erinnerung a posteriori.
Zum andern erinnern wir uns des Kontextes, in welchem wir diese Takte bereits
gehört hatten, nämlich des Aller-Anfangs des Werkes.
Zum einen blenden solche Stellen für einen Augenblick die Meta-Realität
(die Mechanismen von Wahrnehmung und Erinnerung, Konzertsaal und Konzentrationslücke)
in die wirkmächtige, scheinbar autarke ästhetische
Realität des Kunstwerkes ein, machen
diese Musizier- und Wahrnehmungs-Effekte in einer Art selbstbezüglicher Reflexion
zu ihrem "kompositorischen Material".
Zum anderen decken sie aber auf, dass auch in der Welt der ästhetischen
Gestaltung immer eine Hierarchie von Schichten herrscht, eine Tiefenperspektive.
Dass nicht das vordergründig-klingende das Wahrgenommene ist, sondern
die Vernetzungen, Vergleichungen, Prägungen und Aufladungen, die sich,
jenseits abließender Zeit im Mittelgrund abspielen, in der
Innenwelt von Komponist und Hörer, in der Zeitlosigkeit unserer
psychointernen Modelle.
So decken derartige Stellen jedesmal auf, dass Musik ein transzendental Geschiedenes, in ihrem eigentlichen Wesen niemals wahrnehmbares, sondern nur konstruierbares ist, von uns selbst konstruierbar, im Akt des Nachvollzuges, egal in welcher Weise.
Etwas immer nur in uns existierendes, aber allemal ausser uns bleibendes.
Dies gibt vielleicht auch der letzten Stelle ihre besondere Anmutung,
der Einsatz der ersten Violine in Takt 153 des zweiten Variationensatzes
"Ruhevoll (Poco Adagio)"
der Vierten Sinfonie von Gustav Mahler:
Das erhaben-zurückhaltende Schreiten des Anfanges, die rechtwinklige, aber
nicht steife Gemessenheit haben sich inzwischen zu munterem Gewoge
fortentwickelt. Stimme über Stimme setzt ein, mit zunehmend umgestalteten
Themen-Fragmenten. Darunter in erwähntem Takt die Violine
erst auf der zweiten Zählzeit, einfallend, als hätte jemand schon länger
mit-gesummt und mit-gedacht und würde jetzt sich erst trauen, etwas lauter zu werden.
Als wäre es ihm eben eingefallen, dass man da doch einfallen könnte ...
Als wäre der Kontrapunkt unhörbar immer schon dagewesen ...
Als würde da jemand singen ...
[DrF]
Doktor Faustus Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde S. Fischer, Frankfurt, 2007 ISBN 978 3 596 90403 7 |
[EDrF]
Die Entstehung des Doktor Faustus S. Fischer, Frankfurt, 1960 |
1 Man beachte, dass alle diese Aspekte für "synchrone Montage", auch genannt "vertikale Montage", also das gleichzeitige Übereinander- oder Parallel-Legen von Schichten, sich durchaus anders darstellen und in diesem Artikel hier nicht besprochen werden.
2 Interessanterweise war es ja angeblich genau ein solches "Zu-Spät-Kommen" und das daraus folgende Durch-die-(hier nicht gänzlich schalldichte)-Tür-Hören, das Richard Wagnern auf den Reiz einer derartigen Dämpfung aufmerksam werden ließ und zur Erfindung des überdeckten Orchestergrabens inspirierte. FIXME WO CITE !!!
3 Welches Adorno, wir werden nicht müde es hämisch zu wiederholen, angeblich nicht erkannt hat, [EDrF, , Kap. IX], wo hingegen uns es schon als Sechzehnjährigem spätestens beim Wort "Plagen" unmißverstehbar schien !-)
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