zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2012090900 | monograph |
1
Grundsätzliches Verhältnis der beiden Personen und Werke
und zum Stand der Diskussion
2
Eine grobe Zeit-Tabelle
3
Mögliche Querbezüge im einzelnen
4
Versuch einer Wertung
5
Bibliographie
Mit der Wiederentdeckung der ersten und einzig vollendete Sinfonie des jungen und so tragisch früh verstorbenen Hans Rott begann auch sehr bald die Diskussion über den Verhältnis dieses Werkes zu den nachfolgenden seines Studienkollegen Gustav Mahler.
Über die Art und den Grad ihrer Bekanntschaft, ihrer gegenseitigen Kenntnis und Wertschätzung gibt es verschiedene Zeugnisse und unterschiedliche Interpretationen. Diese erschliessen sich ausgehend von den Artikeln in untenstehender Bibliographie, besonders [kreylitt] , [vdhoogen] und [hagels] .
Die Beziehungen zwischen den Werken allerdings, auf der einen Seite die eine
E-Dur-Sinfonie Rotts, auf der anderen Seite fast alle Sinfonien
bis hin zur siebenten Mahlers, zeigen sich in den meisten Fällen
auch ganz ohne die historischen Sekundärquellen, drängen sich gar auf beim
Hören und Notenlesen unmittelbar!
Das gab vielfältigen Spekulationen Nahrung über die
Natur dieser Übereinstimmungen und Beziehungen, von
unbewußter Beeinflussung über gemeinsame Wurzeln bis hin zu
widmendem Zitat oder dreistem Plagiat.
Dieser kleine Artikel versucht, die offensichtlichsten und hinreichend materiell gewordenen Beziehungen aufzulisten, zu klassifizieren und zu diskutieren, -- all dies als Vorschlag zur Diskussion in concreto und keinesfalls mit dem Anspruch einer abschliessenden Würdigung und Wertung.
Es folgen also eine Auflistung von Entsprechungen, ein Versuch deren Rubrizierung und eine abschliessende Diskussion. Die meisten dieser Entsprechungen wurden in der Literatur schon explizit erwähnt, wenn auch vielleicht nicht so taktgenau verortet wie es hier versucht wird.
Vorangestellt sei im nächsten Abschnitt eine grobe Zeit-Tafel, um dem Leser, obwohl dies wie gesagt nicht weiter Gegenstand dieses Textes ist, dennoch eine Orientierung im historischen Kontext zu erleichtern.
Zur Orientierung diene folgende grobe Zeit-Tabelle:
1858 | Hans Rott geboren | |
1860 | Gustav Mahler geboren | |
1875 | beide Kompositionschüler am Wiener Konservatorium, gemeinsame Kurse | |
1878 | Erster Satz der E-Dur-Sinfonie als Teil der Kompositionsprüfung vollendet [hagels, , S.XXV] | |
1880 | E-Dur-Sinfonie in toto (Partitur und Stimmen) vollendet | Das Klagende Lied vollendet |
1880 | Nervlicher Zusammenbruch und Einlieferung in Klinik | |
1884 | Tod | |
1885 | Lieder eines fahrenden Gesellen | |
1888 | Erste Sinfonie vollendet | |
1888 | Totenfeier (i.e. der spätere erste Satz der zweiten Sinfonie), vollendet | |
1894 | Folgesätze und Finale der Zweiten Sinfonie vollendet | |
1900 | entleiht Rotts Sinfonie, angeblich wegen möglicher Aufführung | |
1896 | Dritte Sinfonie vollendet | |
1901 | Vierte Sinfonie uraufgeführt | |
1902 | Dritte Sinfonie uraufgeführt | |
1904 | Fünfte Sinfonie uraufgeführt | |
1906 | Sechste Sinfonie uraufgeführt | |
1908 | Siebente Sinfonie uraufgeführt | |
1910 | Achte Sinfonie uraufgeführt | |
1911 | Tod | |
1989 | Uraufführung der E-Dur-Sinfonie |
Die Arten der Bezüge zwischen den Werken beider Autoren können zunächst grob wie folgt kategorisiert werden:
Diese Einteilung ist nur als Hilfsmittel für eine grobe Vor-Sortierung
hilfreich, und keinesfalls immer sehr trennscharf.
Fast eine Widerlegung dieses Einteilungsversuches wäre
z.B. Entsprechung (11), das "Streicher-Fugato-Motiv" aus den Scherzi
in der E-Dur-Sinfonie und Mahlers Fünfter. Dies kann
als notengetreue Übernahme (mit einigen Abweichungen), oder lediglich
als Anklang, oder gar als rein übernommenen Strukturprinzip aufgefasst
werden (Saitenwechsel zwischen Liegeton und Skala).
Aber als Orientierungsraster ohne Anspruch auf wissenschaftliche Begründetheit mögen diese Kategorien hingehen; sie werden in der folgenden Graphik durch abnehmende Linienstärke verbildlicht.
Es liegt in ihrer Natur, dass eine "genaue Verortbarkeit" in der Folge
diese Kategorien abnimmt. Dennoch versuchen wir zunächst eine solche
Tabelle und Graphik, die beide Werk-Stränge "punktweise" in Beziehung setzt.
Dies soll einerseits dazu dienen, Überblick zu verschaffen, ist andererseits
aber auch nur bedingt aussagekräftig.
Wir visualisieren dabei jeweils das textlich erste
Auftreten eines Phänomens. Dies mag nicht immer das deutlichste oder
im Sinne der Diskussion relevanteste sein. Die unten stehenden
Erläuterungen weisen ggfls. darauf hin; in die Graphik aber
wollten wir kein Element von Interpretation einführen, sondern
gleichsam mechanische Eindeutigkeit walten lassen..
1
(1) - Gem. Strukturprinzip / Anklang: Rott Erster Satz, (T.73) Seitenthema
<--> Mahler Dritte, vierter Satz (T.14)
Die Pendelbewegung des Seitensatzes alleine ist eine ubiquitäre Allerweltsfigur.
In Verbindung aber mit der "subkutan" sich ändernden Harmonisierung, also
des Abstiegs der Tonhöhe der je zweiten Note in der Unterstimme ergibt sich eine
typische Wirkung, die Mahler im Eingangsmotiv der Posaunen
im vierten Satz der Dritten Sinfonie konsequent weiterentwickelte.
(Vor-zitiert im Eröffnungssatz, T.14 und Rp).
(Darüberhinaus kann auch eine Beziehung zum Choralthema des ersten Satzes
der Sechsten Symphonie angenommen werden, doch tritt diese deutlich
zurück im Vergleich zu dessen charakteristischen Eigenarten.)
(2) - (fast) notengetreu: Überlappung C-As, Rott erster Satz,
Einsatz des Seitensatzes (T. 156)
<---> Mahler Siebente, Finale, ebenda, (T. 51)!
Auf diese Entsprechung wird ausführlich hingewiesen von
Kreysing/Litterscheid, [kreylitt] ;
sie wird aber u.e. als Entsprechung überbewertet.
Zunächst frappiert das scheinbare Maß von Ähnlichkeit: Formal beidemal der Anfang des Seitensatzes, dieselben Tonarten, scheinbar dieselbe Art der Überlappung.
Jedoch, beidemale ist etwas fundamental anderes, ja gegensätzliches gemeint:
Bei Rott liegt nur der Ton c, und der Einsatz von Posauen
und Trompeten mit dem As-Dur-Akkord ist als solcher deutlich hörbar.
Allein schon ein einsetzender Dreiklang, der einen einzelnen Ton harmonisch
grundlegend umfärbt, ist als solcher ein einschneidendes Ereignis,
hier gar noch betont durch die Lautstärkevorschrift und
instrumentale Masse.
Der Ton c ordnet sich dem Dreiklang natürlich ein, und es besteht keinerlei Reibung
oder "Überlappung" im engeren Sinne.
Bei Mahler hingegen liegt ein "ganzer" volltönender
C-Dur-Dreiklang
2
im ff, zumeist ohne jedes diminuendo.
Währenddessen und hart dagegen setzt ein As-Dur-Dreiklang ein,
zwar auch im ff, aber nur mit den hohen Holzbläsern besetzt und
sofort diminuierend.
Hier ist maximale Reibung, von Umfärbung ist keine Rede, und
die Überlappung dauert auch so kurz wie möglich und gerade noch
deutlich, nämlich eine Achtelnote.
Der Einsatz des As-Dur Klanges als solcher, ganz im Gegensatz zu
Rott, wird und soll unhörbar bleiben.
Erst wenn der C-Dur-Klang dann "wie abgerissen" hart aufhört, soll der
As-Dur-Klang aufscheinen, ohne dass sein "Anschlags-Geräusch" je stattgefunden hätte.
Es ist bei Mahler etwas viel Moderneres gemeint, (kein Kunststück, fast dreissig Jahre später!), nämlich eine visionäre Vorwegnahme von Klangmanipulation, die erst mit der Tonband-Schnitt-Technik wirklich flexibel möglich wurde, aber mit derartigen Instrumentationstricks durchaus schon simuliert werden kann, ähnliche Effekte liefernd.
Der zweite Satz, das Adagio, hat eher
grundlegend-konzeptionelle Bezüge
zu den langsamen Sätzen Mahlers.
Deren konkrete Auswirkugen sind bestimmte Gesten und
Material-Konturen, wie z.B. die in Skalenausschnitten
(also in Sekundintervallen) voran-schreitende Motivik, oft symmetrisch
zur Zeit- und Raumachse angeordnet; choral-artige Kontrapunktik
der Aussen- und Binnenstimmen; Beginn nur durch die
Streicher, sukzessive Einführung der Holzbläser und Hörner.
Diese Bezüge sind aber nicht
deutlicher zu Mahler als zu
vorangegangenen Komponisten und ihrer Satzweise,
besonders zu Bruckner, aber auch zu langsamen Sätzen älterer
Romantiker, wie Mendelssohn und Schumann. In dieser
Allgemeinheit also nicht unbedingt signifikant für das Verhältnis
von Rott zu Mahler.
Das ist aber deutlich anders zumindest für (3) und (5) von den folgenden Details:
(3) - Anklang: Chromatische Terzen Höhepunkt Rott Adagio (T. 74)
<---> Mahler Dritte, Kopfsatz, Expositions-Höhepunkt (T. 362)
Diese Beziehung ist fast tongetreue Übernahme, transponiert von
F-Dur nach B-Dur am Ende der Exposition, resp. nach Des-Dur am Ende der
Reprise. Dies B Beispiel besprechen auch
Kreysing und Litterscheid ausführlich, [kreylitt] .
Hier könnte, wenn andere dazu notwendige, eher äußermusikalische Voraussetzungen auch vorliegen (z.B. dass dem Komponisten sonst nichts eingefallen wäre, dass er die Entlehnung zu verheimlichen vorhat, dass die Entnahme signifikante Wirkung für das gastgebende Werk hat, etc.), sogar von einem "Plagiat" gesprochen werden.
Die genannten Autoren weisen allerdings darauf hin, dass die Stelle bei Mahler "wesentlich wuchtiger klingt", was an der verbesserten Instrumentation liegen könne, oder daran dass es hier eine Interpretations-Tradition gibt, welche beinhalte, "den Höhepunkt mit aller Konsquenz herauszustellen".
(4) - Spielanweisung: Mit aufwärts gerichtetem Schalltrichter
Rott Adagio (T.120)
<--> Mahler Erste, Schluss Finale (T.296) (dann auch Dritte Adagio)
Wir wissen nicht, wieviel Signifikanz diese gemeinsame Spielanweisung hat,
wieweit sie zu dieser Zeit vielleicht verbreitet war oder gerade aufkam,
oder vielleicht von der Praxis der Militärkapelle übernommen ist.
Kreysing und Litterscheid
diskutieren dies, [kreylitt, , S. 60], kommen aber auch zu keinem
abschliessenden Ergebnis.
Die Parallele ist bei der Dritten, Adagio, Takt 296 deutlicher,
auch wegen der zugleich stattfindenden Parallele (5).
Beidemale aber ist bei Mahler ein ff-Klang angestrebt,
bei Rott hingegen ist es gar ppppp.
(5) - Anklang UND notengetreu: Choral am Schluss Rott Adagio (T.120)
<---> am Schluss Mahler Dritte, Adagio (T.252)
Die Erscheinung des Schlusschorales in den beiden Adagio-Sätzen ist
eine deutliche klangliche Übereinstimmung: Vierstimmiger "strenger"
Choral der Blechbläser, ppp-Hintergrund der hohen Streicher-Tremoli.
Kreysing und Litterscheid weisen weitere Ähnlichkeiten nach.
Allerdings herrschen auch deutliche Unterschiede:
Überdeutlich allerdings sind die Einleitenden Takte: Beidemale eine Quarte im pp-pizzicato in den Celli! Notengetreue Übernahme, transponiert von H-Dur nach D-Dur.
Die folgenden beiden Beziehungen gehören eng zusammen, sind dabei von sehr unterschiedlicher Natur:
(6) - Strukturprinzip: Hauptthema Rott Scherzo,(T.10) <--> Mahler Eins, Scherzo, (T.9)
(7) - Motivzitat: Hauptthema Rott Scherzo, (T.10), <--> Mahler Zwei, Scherzo, "Trio-zwei", (T.212, T.257, T.441)
Das zweite ist eine deutliche, notengetreue Übernahme des Kopfmotives des Themas aus Rotts Scherzo, in drei verschiedenen Tonarten, zuletzt in seiner Ursprungs-Tonart C-Dur, in das "Fischpredigt-Scherzo". Allemal tritt es auf als "barbarischer Einbruch", die ersten Male eröffnet es eine Art "zweites Trio", sehr lyrisch, beim dritten Male aber führt es zu einem typischen "Zusammenbruch". vorwegnehmend den gewaltsamen Beginn des Finales.
Diese drei Stellen werden in der Literatur mehrfach besprochen, die Bewertung aber zumeist offengelassen: "hommage", Zitat, Plagiat?
In diesem Zusammenhang hilfreich ist Beziehung (6), die Ähnlichkeit zwischen den Scherzo-Themen der beiden ersten Sinfonien: Diese ist gegründet sowohl in einem gemeinsamen Strukturprinzip, als auch im "Gestus", im "Genre", bäuerlich-derb, wie es spätestens seit Bachs h-moll Violinsonate in der höchsten Kunstmusik seinen gültigen Platz hat.
Interessant ist, dass Rott mit der Verschiebung von Motiv und Metrik (siehe Klammern in der ersten Zeile) einen ersten zaghaften Schritt hin zu Polymetrik tut, der dann im Scherzo von Mahlers Fünfter deutlich weitergehend erforscht werden wird.
Das folgende Notenbeispiel zeigt alle drei Stellen, durch Transpositionen dem Rottschen Original angenähert:
Dies aber klärt alles eindeutig!
Das Erklingen des Rottschen Motives ist eindeutig Zitat mit
programmatischem Inhalt, und weit entfernt vom "Plagiat", wie immer
man es definiere. Es ist bewußt als Bezug gemeint und soll (unter
den passenden Umständen) auch als solches gehört werden!
Denn wäre es Mahlern nur um das brutale Einbrechend des Barbarischen und Trivialen in die kunstvolle Kontrapunktwelt der "Fischpredigt" gegangen, dann -- hätte er ja auch einfach sich selbst zitieren können!
Dies besonders, da die motivischen Elemente der folgenden Takte eh
eine muntere Verwürfelung von Motiven aus beiden Scherzi beinhalten, siehe
Klammern in Zeilen zwei und drei.
Ein Blick auf obige Notenzeilen zeigt nämlich, dass man sie mit wenig Auswirkungen
auf die Ergebnisse sehr gut "diagonal" lesen kann, also z.B. in Zeile
zwei beginnen und an dem (von uns
eingefügten) ersten Atemzeichen nach Zeile drei überwechseln.
Geringe Anpassungen wären notwendig, aber formal und inhaltlich hätte ein
Selbst-Zitat des eigenen Scherzos hier problemlos alle Funktionen
des Rott-Zitates übernehmen können!
Das Verfahren des Selbstzitates ist von Mahler selber ja bald
darauf ausgiebig angewendet worden, und spätestens seit
Bruckner mit den vielfachen, nachvollziehbar als Zitat markierten
Aufgriffen von Motiven aus Vorgänger-Sinfonien ja keinesfalls fernliegend.
Dass Mahler hier ausdrücklich ein fremdes Werk "benutzt" ist nur programmatisch und inhaltlich zu begründen. Eine berühmte diesbezügliche Briefstelle sei dazu etwas ausführlicher zitiert:
"[...] Wenn Sie dann aus diesem wehmütigen Traum aufwachen, und in das wirre Leben zurückmüssen, so kann es Ihnen leicht geschehen, daß Ihnen dieses unaufhörlich bewegte, nie ruhende, nie verstängliche Getriebe des Lebens grauenhaft wird, wie das Gewoge tanzender Gestalten in einem helle erleuchteten Ballsaal, in den Sie aus dunkler Nacht hineinbrlicken, -- aus so weiter Entfernung, daß Sie die Musik hierzu nicht mehr hören! Sinnlos wird Ihnen da das Leben, und ein grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels auffahren! -- Dies ist der 3. Satz." (Brief an Max Marschalk, 26. März 1896, [mahlerBr, , S. 150])
Nach dem dritten Auftreten des Rott-Motivs, in C-Dur, also der Tonart seiner ursprünglichen Exposition, erfolgt der Ausbruch des vollen Orchesters, der in diesem Brief als "Schrei des Ekels" bezeichnet wird. Dessen Wortlaut ist hinreichend klärend.
Die etwas launisch formulierte Fußnote bei Kreysing/Litterscheid, ob
denn "Rott vom Himmel herunterruf[e]" und wer es denn sei,
der den Schrei des Ekels ausstößt, kann u.E. beantwortet werden,
dass eindeutig das Schicksal Rotts gemeint ist, und Mahler
voller Ekel dagegen protestiert.
Gemeint schon, allerdings nur unter anderem!
Dass Mahler mit der Klage über diesen letztlich wohl eher auf
seine eigen unangenehme Lebenssituation sich bezogen hat
("die sich seit zehn Jahren ewig wiederholenden Zurückweisungen,
Enttäuschungen, ja Demütigungen", Brief an Eichberg, 30.3.1895,
[mahlerBr, , S. 120]),
kann analog zu der scharfen Analyse von Kreysing/Litterscheid der
sich auf Rotts Zusammenbruch beziehenden Briefstelle durchaus angenommen werden.
Etwas wohlwollender betrachtet, wäre es eine Klage über die
unangenehme Lage des schöpferischen Geistes überhaupt,
über die Verlorenheit des sensiblen Künstlers in der bürgerlichen
Erwerbswelt im allgemeinen.
Noch allgemeiner über die Grenzen, Bedingtheiten und das mögliche Scheitern
menschlicher Existenz schlechthin.
All dies ist selbstverständlich gleichzeitig im Werke vorhanden, ohne
diese allerallgemeinste Bedeutung wäre es kein Kunstwerk, das
überzeitlich und global Interesse erregen könnte, und seine Leistung
ist es ja gerade, den konkreten Anlass ins Allgemeine abzubilden, ohne
ihm etwas von der individuellen Schärfe zu nehmen.
Kunstwerke und Akte des Kunstschaffens sind allemal poly-kausal.
All diese Ebenen existieren durchaus parallel und mit je ihrer eigenen
Berechtigung.
(8) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, ein Nebenthema (T.72) <--> Mahler Fünfte, Scherzo, erstes Trio(T.136)
Diese sechs wenigen Töne und ihre Harmonisierung entsprechen sich weitgehend. Die Relevanz dieser Entsprechung ist allerdings schwer einzuschätzen. Im Genre des "Wienerliedes" mag die Gesamtgestalt ein weitverbreiteter Allgemeinplatz sein, und so das Auftreten in beiden Werken begründet durch den Bezug auf gemeinsame Vorbilder.
Auffällt, dass die Reihenfolge der Takte und damit die Funktion der
Vorhalte genau umgekehrt ist:
D9-8, T6-5
heisst es im älteren Werk.
Ebenfalls vertauscht sind das Tempo in beiden Werken:
Bei Rott erscheint erst eine Allegro-Version, bald darauf eine langsame,
in der Überleitung zum (explizit so genannten) "Trio", Takt 178.
Zwischen den beiden langsamen Stellen ist die Deutlichkeit am größten!
Bei Mahler folgen dann vollständige Allegro-Varianten erst im Rahmen von
Reprise (T.563) und Coda (T.632).
(9) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Trio <--> Mahler Zweite, Finale
Hier nun wieder eine notengetreue, "wörtliche" Entsprechung zwischen älterem und neuerem Werk:
Deutliche Übereinstimmung besteht im jeweils ersten Takt der angeführten Stellen. Benennen wir dessen Inhalt für die folgenden Betrachtungen so neutral wie möglich, z.B. "Skalenmotiv".
Bei Rott erscheint das Skalenmotiv mit verschiedenen Fortsetzungen zunächst mehrfach auf engem Raum im "Trio" des dritten Satzes: in a-moll in der Solo-Violine (T.193) und im Solo-Horn (T.199), dann in F-Dur im Kanon in Trompete und Horn (T.208) und im Horn (T.217), abschliessend, nun in f-moll, wieder in der Violine, pppp, "wie von ferne", T. 219.
Danach erscheint das Skalenmotiv erst wieder im Rahmen eines "Fortsetzung der Durchführung" zu nennenden Formteils ab T.247 als Kontrapunkt zum Hauptthema, sequenziert in den Mittelstimmen, erst von erster Trompete, dann vom ersten Horn.
Bei Mahler hingegen wird das Skalenmotiv viel weitgreifender verwendet, es ist durchaus konstitutiv für den gesamten Finalsatz:
Diese sehr unterschiedlichen Rollen machen den Versuch einer Bewertung diese Bezuges (dieses einen Taktes als solchem!) fast überflüssig. Überspitzt formuliert: Warum sollte der eine nicht verwenden, was der andere als nicht-verwertbar weggeworfen hat?
Wichtiger hingegen ist der Zusammenhang, die Gesamt-Aura, die Gestaltung der
"Beruhigungs-Flächen" und "Vogelstimmen-Welten" über diese konkrete Tonfolge
hinaus:
So erscheint das Skalenmotiv bei Rott kombiniert mit den steigenden
Quintenrufen des Hornes (als seiner melodischen Fortsetzung) und
mit Vogel-Lauten in Flöte und Klarinette (als seinem Kontrapunkt).
Dies alles ist sehr ähnlich denjenigen Klangkombinationen, die im Finale
von Mahlers Zweiter zwar das Skalenmotiv nicht direkt kontrapunktieren,
aber ihm so nah als möglich angeschlossen sind.
Auf all diese Ähnlichkeiten, besonders zwischen den diesem und dem Rottschen
Finalsatz, und auf die Auren und Klangwelten im allgemeinen
gehen Kreysing/Litterscheid in diesem Zusammenhang ein,
-- wir hingegen weiter unten, am Ende dieses Kapitels, bei der Besprechung
der von Rotts Finale ausgehenden Pfeile.
Als ein mögliches Vorbild für das Skalenmotiv nennt
Floros die sog. "Friedensmelodie"
(Benennung wohl von Wolzogen, [wolzRi, , S. 94]) aus
dem letzten Akt des Siegfried.
"Mahler hat das Thema der Friedensmusik fast unverändert [...] in das
Finale der Zweiten Symphonie übernommen." ([florosMa2, Seite 129])
Eggebrecht widerspricht dieser Deutung explizit, ohne jedoch
tatsächliche Gründe anzugeben [eggMa, , S. 46].
Wir bestreiten nicht die offensichtliche
Ähnlichkeit zwischen Rott/Mahler
einerseits und Wagner andererseits, aber "Identität"
im musikalischen Sinne, und damit "Zitat", liegen hier nicht vor.
Es ist nämlich für die Gestalt-Wahrnehmung einer Melodie
keinesfalls die "gelesene", trockene Tonhöhenabfolge bestimmend,
sondern die Kombination von Tonhöhen und ihrer metrischen Gewichtung!
Ein "schwerer" und ein "schwacher" Ton haben nicht nur
eine andere "Farbe", sondern werden auch beim Vergleich von
Melodiemustern von unseren psycho-interen Vergleichsalgorithmen nur
sehr schwer in Beziehung gesetzt, -- selbst
identische Abfolgen von Tonhöhen, die von rhythmisch-metrischen
Differenzen überlagert sind, können in vielen Fällen
erst nachdem die Vernunft unser
Wahrnehmungsvermögen hinreichend oft dahingehend "trainiert" hat, als
Identitäten empfunden werden!
So wird kein Hörer jemals "zwanglos" eine Identität zwischen den auf dem Papier durchaus identischen Tonhöhenfolgen im voranstehende Beispiel empfinden: Das fis und das a sind "schwach" in dem einen und "stark" in dem anderen Motiv; so werden unterschiedliche harmonische Kontexte aufgespannt, und beide Tonhöhen deshalb völlig unterschiedlich eingefärbt.
Dasselbe gilt für erwähntes Verhältnis von unserem Skalenmotiv zur Friedensmelodie:
Hier ist aber auch jeder Ton der aufsteigenden Skala (bis
auf das vorletzte "a")
anders, ja, geradezu gegensätzlich metrisch gewichtet zum Skalenmotiv
bei Rott und Mahler.
Wer hier von "Übernahme" spricht, kann Noten lesen, aber nicht hören.
Viel eher wird sich jedem unvoreingenommenen Hörer,
besonders der augmentierten Mahlerschen Fassungen, eine
fast notengetreue Übereinstimmung mit der
Tagesschau-Fanfare aufdrängen, zumindest denen im Sendebereich
des Ersten Deutschen Fernsehens!
Diese "Ewigkeits-Melodie" zu taufen wäre allerdings, selbst
angesichts ihrer nunmehr sechzigjährigen Konstanz, etwas überhöht.
3
Darauf allerdings geht keiner der Autoren ein, obwohl es durchaus
diskussionswürdig ist, warum der Komponist Hans Carste und
alle Bearbeiter, Verwerter und Verwender sich anscheinend
niemals ernsthaften Plagiatsvorwürfen ausgesetzt sahen?
Die Schuztfrist für Mahlers Werk endete erst 1981, fünfundzwanzig Jahre lang hat das Deutsche Fernsehen also den Juden schamlos beklaut!
(10) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Trio(T.203)
<--> Mahler Dritte, Zweiter Satz (T.117, 267)
Diese chromatisch absteigende Oberstimme in einer
Folge abwärts gebrochener Triolen ist eine fast wörtlich Übereinstimmung.
So sehr es sich auch um einen häufig vorkommenden Allgemeinplatz handeln
mag, so frappant ist doch die Übereinstimmung beim bloßen Hören.
(11) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Rückführung, Fugato-Motiv (T.402) <--> Mahler Fünfte, Scherzo, Fugato (T.40).
Die Übereinstimmungen sind auch hier deutlicher beim Hören als im Notentext; sie werden erwähnt von Litterscheid, [litt, , S. 33]. Sie bestehen in Tonart, motivischer Kontur und motivischem Bildungsprizip. Letzeres, Brechung zwischen zwei virtuellen Stimmen, von denen ausgerechnet die auf dem starken Achtel schlicht liegenbleibt, führt mit den zunehmend größeren Intervallen zu "hüpfenden" Saitenwechseln, die den charakteristisch "fiedelnden" Klang dieses Motivs ausmachen.
Dieses "Fugato-Kopf-Motive" taucht bei beiden Komponisten ausschliesslich in den Streichern auf! (Vielleicht ungeachtet der Holzbläserstellen wie T.241, welche aber als deutlich "langsamer" nur daraus abgeleitet sind). Dies zeigt einmal mehr, welch konstitutive Bedeutung sowohl konkreter Klang als auch die "Semantik der Musizierpraxis" bei Mahler haben, -- aber offensichtlich auch schon im beginnenden Werk von Rott!
(12) - Bildungsprinzip: "Gewaltsam" Polyphone Satzschlüsse, (Rott Scherzo T.501)
Das Bildungsprinzip, an Schluss eines Satzes, womöglich der ganzen Sinfonie, die verschiedenen und grundsätzlich unabhängig von einander exponierten und durchgeführten Themen in einem kontrapunktischen Verband übereinanderzutürmen, ist spätestens seit Bruckners Achter weithin bekannt.
Rott beginnt eine Weiterentwicklung mit seinem Scherzo ab Takt 501, -- die Themen werden fast "gewaltsam" übereinandergezwungen, und auch vor entstehenden stimmführungsrechnischen Härten, ja, "Satzfehlern" nicht zurückgeschreckt. (Siehe im folgenden die Oktav- und Quintparallelen zur Trompetenstimme, angezeigt durch Klammern, und das nur global, durch die Ubiquität des H-79 vermittelte, lokal unvermittelte Eintreten in die Ganzton-Felder a-h-cis-dis, bei "*" und anderswo)
Dies geschieht (grundsätzlich immer, hier schon ansatzweise, und in der weiteren
geschichtlichen Fortentwicklung zunehmend)
(a) flächig, (b) repetititiv, in "Schleifenstellung" und (c)
poly-metrisch.
Das ganze ergibt den Eindruck von kunstfertig, aber kraftmeierisch,
komplex, aber grobschlächtig, abschliessend, aber widersprüchlich,
geglückt, aber eher ein Naturvorgang, als eine Kunstäusserung.
Bei Rott ist diese "Kontrapunkt-Fläche" nicht der direkte
Satzschluss, aber kurz vor diesem.
Mahler führt diese Entwicklung weiter mit den Schlüssen
des Scherzos aus der Fünften (ab Takt 799),
dem eh nahe verwandten und nun schon zweimal erwähnten Satz,
dem Finale derselben (T.749), den Kopfsätzen der Sechsten
(T.467) und der Siebenten (T.523).
(Und im "contrapuntissima" Finale der Siebenten sowieso !-)
Dies mag als Muster des einen Extrems von Arten von Übereinstimmungen gelten: Hier hat nicht der eine vom andern übernommen, sondern beide greifen eine immanente, von Material, inner- und aussermusikalischer Geschichtsentwicklung und Kompositionslehre nahegelegte, ja, notwendige Entwicklung auf, die sich ja auch in ganz anderen Traditionslinien, andernorts auf der Welt, in ähnlicher Form wiederfinden ließe.
(13) - Übermäßiger Dreiklang als vorletzter Akkord des Satzes
Rott, Scherzo, T.590 <--> Mahler, Schluss V/5 und VII/5
Dies ist empfinden wir als eine sehr deutliche Entsprechung! Den übermäßigen Dreiklang
als vorletzten Klang eines Satzes, an Dominantstelle in der Schlusskadenz
zu setzen war für Rott durchaus ein kühnes Wagnis.
Bei Mahler steht diese Konstruktion am Ende der Finales der Fünften und
der Siebenten noch etwas "nackter" und härter im Raume.
Wir persönlich hören alle diese drei Stellen als direkte Antwort auf die Schlusskadenz vom Ersten Akt Walküre, wo die duale Konstruktion, der DV aus vier kleinen Terzen, die bisher provokanteste Schlusskadenz der Musikgeschichte darstellte.
(14) - Tiefer Choral, Rott Einleitung Finale (T.22) <--> Mahler Zweite, Einleitung Finale (T.143)
Beide Finale haben gemeinsam, dass sie mit breit angelegten Einleitungs-Bereichen beginnen. In diesen werden verschiedenartigste Motive, geradezu widersprechender Provenienz, scheinbar unverbunden gereiht und kontrastiert, ehe durch allmähliche Verdichtung und zunehmende Konflikte ein Spannungspotential sich aufbaut, welches dann zu fester gefügten "Themen" und deren "Verarbeitung" im eher konventionellen Satzstil führt.
Dies ist als solches nicht völlig ohne Vorläufer, beginnend vielleicht bei Haydn's Schöpfung, über die Sinfonien Schumanns und Bruckners. Hier aber, in beiden Fällen, wird die Entwicklung deutlich weiter getrieben: Vogelstimmen, Naturlaute, ferner Trommelschlag, klagende Oboenmelodien, bei deren Erklingen man den Hirtenknaben auf einem Blumenhügel zu sitzen erwartet, wenn denn endlich der Vorhang sich mal hebt, Hörnerrufe und Trompetensignale in der Ferne, dumpfe Pilger-Choräle, Gewitter und dann wieder Vogelstimmen.
Das Material wird deutlich disparater als bei allen Vorgängern, läßt sich fast nur noch durch die Annahme einer "Bühnenhandlung", die all diese Dinge benötigt, rechtfertigen. Dennoch aber ist die Vermittlungstechnik, die wirklich "musikalische" Komposition eine zutiefst autonome, kontrapunktische. Sie ist "sinfonisch" zu nennen, was die Weite der gespannten Bögen betrifft, aber "kammermusikalisch" in Besetzung, Liebe zum Detail und Strenge der Stimmführung.
Eine deutliche Gemeinsamkeit (von vielen) ist dabei das Auftretens des
"Chorales in tiefer Lage", in der E-Dur-Sinfonie ab Takt 22,
im Finale Mahler Zweite ab Takt 143.
Ähnliches wird es dann geben in der Einleitung zum Finale der Sechsten
Sinfonie, dort ab Takt 49.
(15) - Horn und Vogelstimmen, "rufend". Rott, Einleitung Finale, (T.29) <--> Mahler Zwei, Einleitung Finale (T.44)
Eine weitere, für beide Werke konstitutive Konstruktion ist die Kombination von Hornruf und Vogelstimmen. Dies diskutieren auch Kreysing und Litterscheid in begrüßenswerter Ausführlichkeit.
Einen weiteren Höhepunkt wird diese Kombination, diese Aura, diese Farbe, dieses Prinzip in der ersten Nachtmusik der Siebenten Sinfonie haben. Dort findet sich dann auch die letzte der hier aufgelisteten Übereinstimmungen:
(16) - Horn Vortragsbezeichnung "rufend".
Rott, Einleitung Finale (T.29) <--> Mahler Siebente, erste Nachtmusik (T.1)
Wir führen diese Übernahme deshalb mit eigener Nummer auf, weil
das wörtliche Auftreten der Vortragsbezeichnung "rufend" schon eine
selbstständige Bedeutung hat.
Wichtiger aber ist allemal deren Einbettung in den gesamten vorgenannten Kontext, in das ganze Beziehungsgeflecht, (motivisch, satztechnisch und semantisch) zwischen dem Trio des Scherzos und der Einleitung des Finales bei Rott und den verschiedenen Stellen im Gesamtwerk Mahlers.
Beinhalten vielleicht auch die Einleitung zum Finale der Zweiten Sinfonie
und erwähnte erste Nachtmusik deren deutlichstes und
am stärksten konstitutiven Auftreten, so sind doch
Vogelstimmen (wie auch Hornrufe, genauer: "rufende" Hornrufe,
und Trompetensignale) in Mahlers Werk durchaus ubiquitär:
Eindeutig beginnend bei den Vogelrufen in den Überleitungsbereichen der Ecksätze
der ersten Sinfonie, über, wie erwähnt, den Großen Appell,
Kuckuck hat sich zu Tod gefallen und den Nachtvogel
in O Mensch gib acht, am Ende dann begleitend den Trunknen im Frühling
und die schweren Blech-Vögel des Abschied.
Vielleicht ihren End- und Höhepunkt hat diese Eintwicklung
dann im "unübertroffenen" (Mahnkopf, [mahnk, , S. 40]) Trio von
Flöte, Horn und tiefen Streichern in der Coda des ersten Satzes
der Neunten Sinfonie, Takt 383 ff, wo die Vögel frei
und ungebunden, polyrhythmisch und natürlich zwitschern, und gleichzeitig
aufgehoben sind in die kunstvoll-künstliche Sphäre der strengen dreistimmigen
Invention.
Das ist vermutlich der End- und Höhepunkt einer Entwicklung, die
mit dem "Ziküth" des fahrenden Gesellen begann.
Ach nein, sie begann ja vorher schon, mit den Trillern und Vorschlägen in Rotts Trio, und mit den Kanons und Kontrapunkten in der Einleitung seines Finales.
Um so bitterer, dass dieser Komponist diese Entwicklung nicht selber
weitertreiben konnte.
Zu spekulieren, was wir dadurch verloren haben, ist müßig.
Tröstlich ist allein der Gedanke, dass es ja eben nicht mit ihm begann,
sondern vorher schon, und vorher, und vorher.
Und dass es ewig weitergeht, ewig, ewig.
Was aber sollen uns nun diese mehr oder weniger "objektiv nachweisbaren"
Übereinstimmungen?
Was wir hier nicht leisten wollen und können, und was auch den interessierten
Rezipienten der betroffenen Werke nicht gerade weiterbringt, wäre eine
Diskussion der Absichten, Verhaltensweisen, Befindlichkeiten und
Wertungen der beteiligten historischen Personen.
Nur soviel: Die Äußerung Bauer-Lechner gegenüber, dass dessen Sinfonie "[Rott] zum Begründer der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe." kann als authentisch gelten aus denselben Gründen, die Hagels ([hagels, , S.IX f.]) für die Anekdote über Bruckners Bemerkung vor der Prüfungskommission "von dem werden Sie noch Großes hören!" anführt, dass nämlich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gemeinte Person und Werk fast vollständig vergessen waren, und nichts auf ihre baldige (Re-)Habilitation hinwies, so dass eine Fälschung durch den Berichtenden, um des verehrten Lehrers Weitsicht zu unterstreichen, unwahrschenlich ist.
Damit hätte Mahler nicht nur Gerechtigkeit geübt, sondern auch
Weitblick bewiesen.
Dass dieser Aussage dann später keine Taten folgten, die
Uraufführung des Werkes unterblieb, kann durchaus seiner
Egomanie geschuldet sein, und der unterschwelligen Befürchtung, die vielen
unmittelbar auffälligen Anklänge zwischen den Werken würden
tiefgreifend fehlinterpretiert. Man kann, wenn man will, dies als einen
Akt von Unterdrückung werten, alldieweil Mahler im Jahre neunzehnhundert
nicht mehr Kritik hätte fürchten müssen als ihm (von seinen Gegnern) eh
schon zuteil wurde.
Aber mehr als diese persönliche interessiert uns die sachliche Ebene, die kompositorischen Fragen.
Wir haben oben schon versucht, die aufgelisteten Entsprechungen zu
kategorisieren. Nach ihrer genaueren Betrachtung kann man zusammenfassend
feststellen, dass es ein Spektrum gibt, an dessen einem Ende
die noten-getreue Übernahme steht, die als bewußt gesetztes und
als solches gemeintes Zitat gehört werden soll, siehe oben Nummer (7),
vielleicht auch die pizzicato-Einleitung zu (5).
Dann folgen noten-getreue Übernahmen mit größeren Freiheiten,
oder weiter verbreiteten Materials, bei denen schwache Erinnerungen
Mahlers an die vor langer Zeit auf dem Klavier vorgetragene
Sinfonie Rotts eine Rolle spielen können, oder aber tatsächlich
ein Plagiat im engeren Sinne vorliegt.
Beispiele sind (3), (10) und (11).
Für den Hörer zum Verständnis ist es nicht nötig, diese
Beziehungen zu kennen; dem Komponisten waren sie vielleicht selber
nicht (mehr) bewußt.
Dann folgen Gemeinsamkeiten, die statt in der Kind-Beziehung auch Geschwister gemeinsamer Eltern sein könnten, wie (8), (9) und (10).
Viel wichtiger aber als diese "konkreten" Übereinstimmungen sind die kompositiorischen Prinzipien, Tendenzen, Techniken und Programme. Diese Art von Übereinstimmungen resultieren nicht aus einem gegenseitigen Lernen, sondern einem gemeinsamen Aufnehmen von Zeitströmungen, notwendigen historischen Entwicklungslinien, Konsequenzen aus dem was vorliegt, dem "was in der Luft liegt", dem "Walten des Weltgeistes".
Sie beinhalten im Falle beider Komponisten
Notabene sind besonders die ersten beiden Punkte keinesfalls neu, sobald man die größere Musikgeschichte betrachtet: In Renaissance und Barock sind Gewitter, Bauerntanz und Jagdhorn selbstverständlich in Kunstmusik abbildbar. Nur in den letzten Jahrzehnten hatten sich derartige Inhalte auf die Opernbühne zurückgezogen. Das Posthorn-Signal im Finale von Brahms Erster Sinfonie ist das Extrem dessen, was damals in der sinfonischen Musik als aussermusikalisches Material erlaubt schien, und gerade gegen diese Sterilität rennen sowohl die E-Dur-Sinfonie als auch Mahlers Erste vehement an.
Derartige Übereinstimmungen in obiger Liste sind (5), (6), (12), (14), (15), und in der Tat wurden alle diese hier beginnenden Entwicklungslinien von Mahler ja über die Jahre seines Schaffens niemals aufgegeben. Obige graphische Darstellung endet nur deshalb mit der Siebenten Sinfonie, weil sie nur das jeweils erste Auftreten des Bezuges darstellt. Vielleicht sind die Holzbläser-Triller im Adagio der Zehnten die allerletzten Zuckungen der Mahlerschen Vögel.
Bei all diesen Vergleichen ist aber zu beachten, dass
alle Befunde zur E-Dur-Sinfonie
stets kritisch auf dem Hintergrund ihrer gewaltsam abgebrochenen
Enstehung zu sehen sind:
Keine Aufführung, keine Instrumentationskorrektur, keine
Verbesserungen der Form
haben stattfinden können!
So gesehen ist sie fast als ein Torso zu bezeichnen.
Allemal ist sie "halbes Jugendwerk".
Bei aller Frische des Einfalls, Tiefe der Empfindung, Mut der Konzeption, die E-Dur-Sinfonie besitzt auch (nicht allzuviele, aber dennoch nicht vernachlässigbare) typische Fehler eines Erstlings in der Gattung: formale Längen, ungeschickter Satz, nicht funktionierende Instrumentations-Einfälle. 4
So ist der eigentliche "Satz" und seine Instrumentation bei Mahler um Größenordnungen klarer und transparenter und die formalen Konzepte und Gliederungen wesentlich zugespitzter und "didaktischer":
Die reine Tatsache, dass
zwischen dem schmalen Werk Rotts und dem elaborierten
Mahlers genau diese Unterschiede bestehen, liegt in der Natur
der Sache: Jede Aufführung einer Sinfonie ist eine "Korrekturschleife";
in der Vorstellungen sich klären und Schlacken entsorgt werden.
Aber diese Liste kann vielleicht andeuten, in welcher Richtung der Unvollendete sich
entwickelt hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre.
Von all diesen Einschränkungen abstrahierend aber meinen wir feststellen zu dürfen, dass der historisch Ältere, aber in unserer Wahrnehmung der Jüngere, da viel jünger Geschrieben-Habende, der deutlich Mutigere war!
So verweigern sich alle Sätze seiner E-Dur-Sinfonie
der Rundung, der Geschlossenheit!
Der erste noch am wenigsten, er weist eine Reprise auf, die allerdings,
so lange man sie klassisch hört, nur das Hauptthema bringt und den
Satz so knapp wie möglich beendet.
Zweiter und Dritter Satz bringen zum Ende hin zunehmend Neues, statt
sich zur Reprise zu runden: Das Adagio den Choral,
das Scherzo gar dreimal neues Material: ein neues Kontrasubjekt
(T.323), das Fugato-Motiv (T.403) Thema und das abschliessende
"Polter-Thema" (T. 471).
Soviel neues, wo eigentlich alles auf dem Rück-Weg sein sollte,
kann naturgemäß erst recht nicht gerundet werden.
Das Finale führt dieses Aus-Greifen, Immer-weiter-Müssen konsequent fort. Sein Schluss rundet dann zwar die Sinfonie als ganze, aber nicht den vierten Satz als solchen!
"Quasi spiralförmig" nennt van den Hoogen dieses Formprinzip in einer schönen und wahren Metapher [vdhoogen] .
Mahler hingegen ist ab der ersten Sinfonie immer bemüht, die
neu erfundenen formalen Freiheiten, Prozesse, Bezüge und Dispositionen
mit dem herkömmlichen Raster, besonders der Sonatenhauptsatzform zu
vereinbaren.
Zunächst allerdings recht unverbindlich und locker und
nicht ganz gelungen in den Ecksätzen der ersten
und zweiten Sinfonie.
Aber Mahler entwickelt sich auf dieser Ebene, der "musikalischen
Form" im akademischen Sinne, scheinbar "rückwarts", --
wie zeitweilig ein Planet von der Erde aus gesehen:
Je größer und inhaltsschwerer seine Sätze werden, um so deutlicher ausgeprägt
"halten sie sich" an die hergebrachte Gliederung des Sonatenhauptsatzes auf
allen seinen Ebenen.
Die an Ausdehnung und Inhalt alles Maß sprengenden Sätze
III/1, VI/1, VII/1 und
besonders VI/4 und VIII/1 funktionieren nur, weil sie die
Sonatenhauptsatzform bewußt als formbestimmend "evozieren", ihre
Scharniere aufs deutlichste markieren, sie gleichermaßen verwenden wie zitieren.
Sonst fiele das alles fürchterlich auseinander!
Selbst das Scherzo aus der Fünften und fast alle
langsamen Sätze bedienen sich der obersten Gliederungsebenen
der Sonatenhauptsatzform, um Wahrnehmung zu strukturieren,
wenn auch überlagert mit anderen formalen Rastern.
Die Frage drängt sich auf, welche Techniken formaler Gestaltung Hans Rott im weiteren Verlauf seiner Entwicklung gefunden hätte.
Bei der "Spiralform" hätte es nicht bleiben können.
Oder etwa doch?
[muskon91]
Gustav Mahler, der unbekannte Bekannte und (Hrsg.) edition text+kritik, München, Jan 1996 ISBN 3-88377-521-5 |
[muskon103]
Hans Rott, der Begründer der neuen Symphonie und (Hrsg.) edition text+kritik, München, Jan 1999 ISBN 3-88377-608-4 |
[kreylitt]
und Mehr als Mahlers Nullte Der Einfluss der E-Dur Sinfonie Hans Rotts auf Gustav Mahler in: [muskon91] |
[hagels]
(Vorwort und Apparat zur E-Dur-Sinfonie von Hans Rott) in: [rott] |
[mahnk]
Mahlers Gnosis in: [muskon91] |
[florosMa2]
Gustav Mahler II Mahler und die Symphonik des Neunzehnten Jahrhunderts in neuer Deutung Breitkopf & Härtel, 1977, Wiesbaden ISBN 3-7651-0127-3 |
[vdhoogen]
Hans Rott the web, 20120830 http://hans-rott.de/vdhd.html |
[litt]
Die E-Dur-Sinfonie von Hans Rott Analytische Betrachtungen in: [muskon103]pg.15-44, |
[mahlerBr]
Briefe (Neuausgabe) Herta Blaukopf(Hrsg.) Paul Zsolnay, Wien, 1982 ISBN 3-552-0330-0 |
[eggMa]
Die Musik Gustav Mahlers Noetzel, 1999, Wilhelmshaven ISBN 3-7959-0764-0 |
[rott]
Sinfonie Nir. 1 E-Dur mit Sinfoniesatz E-Dur (1878) Bert Hagels(Hrsg.) Ries & Erler, Berlin, 2003 |
[wolzRi]
Thematischer Leitfaden durh die Musik zu Richard Wagner's Festspiel Der Ring des Nibelungen Schloemp, 1876, Leipzig |
[mloehr]
Hans Rott, der Lieblingsschüler Anton Bruckners Vorschau auf ein geplantes, doch nicht erschienenes Buch in: [muskon103] |
1 Die Beschränkung auf des jeweils erste Auftreten einer Entsprechungsstelle ist rein technisch durchaus notwendig, kann aber zu dem falschen Eindruck führen, die Beziehungen endeten definitiv mit Mahlers Siebenter Sinfonie. Das Gegenteil ist der Fall: die einmal begonnenen Entwicklungslinien ziehen sich alle durch das gesamte Lebenswerk, bis hin zu den letzten, bis in die unvollendeten Skizzen!
2 Kreysing und Litterscheid schreiben von einer terzlosen Quinte, aber in meiner Ausgabe haben die hohen Hörner ein e-eins.
3 Grad heute, 11. Sept. 2012, erscheint allerdings die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile "ARD entsorgt tagesschau-Melodie", was den Verfasser bewog, ausnahmsweise mal ein Exemplar zu erwerben!
4 Das unsägliche Triangel, zett-bee, was heute kein Dirigent sich traut einfach zu streichen. Vielleicht hat der Kompositionslehrer (Franz Krenn) gemeint "Da muss a bisserl Schlagwerk rein, nehm'S doch a Triangel!" und Rott, wutentbrannt, für sich: "Na, wenn der das braucht, dann soll er's kriegen!"
©
senzatempo.de
markuslepper.eu
2019-10-26_20h40
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and XSLT
music typesetting by musixTeX
and LilyPond