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Kleines Archiv für Musikphilosophie


zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen

^inh 2012090900 monograph
Zitate und Bezüge vom Werke Hans Rotts in das Gustav Mahlers
Zusammenfassende Übersicht und Gedanken zu einer möglichen Wertung


1          Grundsätzliches Verhältnis der beiden Personen und Werke und zum Stand der Diskussion
2          Eine grobe Zeit-Tabelle
3          Mögliche Querbezüge im einzelnen
4          Versuch einer Wertung
5          Bibliographie

^Inh 1 Grundsätzliches Verhältnis der beiden Personen und Werke und zum Stand der Diskussion

Mit der Wiederentdeckung der ersten und einzig vollendete Sinfonie des jungen und so tragisch früh verstorbenen Hans Rott begann auch sehr bald die Diskussion über den Verhältnis dieses Werkes zu den nachfolgenden seines Studienkollegen Gustav Mahler.

Über die Art und den Grad ihrer Bekanntschaft, ihrer gegenseitigen Kenntnis und Wertschätzung gibt es verschiedene Zeugnisse und unterschiedliche Interpretationen. Diese erschliessen sich ausgehend von den Artikeln in untenstehender Bibliographie, besonders [kreylitt] , [vdhoogen] und [hagels] .

Die Beziehungen zwischen den Werken allerdings, auf der einen Seite die eine E-Dur-Sinfonie Rotts, auf der anderen Seite fast alle Sinfonien bis hin zur siebenten Mahlers, zeigen sich in den meisten Fällen auch ganz ohne die historischen Sekundärquellen, drängen sich gar auf beim Hören und Notenlesen unmittelbar!
Das gab vielfältigen Spekulationen Nahrung über die Natur dieser Übereinstimmungen und Beziehungen, von unbewußter Beeinflussung über gemeinsame Wurzeln bis hin zu widmendem Zitat oder dreistem Plagiat.

Dieser kleine Artikel versucht, die offensichtlichsten und hinreichend materiell gewordenen Beziehungen aufzulisten, zu klassifizieren und zu diskutieren, -- all dies als Vorschlag zur Diskussion in concreto und keinesfalls mit dem Anspruch einer abschliessenden Würdigung und Wertung.

Es folgen also eine Auflistung von Entsprechungen, ein Versuch deren Rubrizierung und eine abschliessende Diskussion. Die meisten dieser Entsprechungen wurden in der Literatur schon explizit erwähnt, wenn auch vielleicht nicht so taktgenau verortet wie es hier versucht wird.

Vorangestellt sei im nächsten Abschnitt eine grobe Zeit-Tafel, um dem Leser, obwohl dies wie gesagt nicht weiter Gegenstand dieses Textes ist, dennoch eine Orientierung im historischen Kontext zu erleichtern.

^Inh 2 Eine grobe Zeit-Tabelle

Zur Orientierung diene folgende grobe Zeit-Tabelle:

1858 Hans Rott geboren
1860 Gustav Mahler geboren
1875 beide Kompositionschüler am Wiener Konservatorium, gemeinsame Kurse
1878 Erster Satz der E-Dur-Sinfonie als Teil der Kompositionsprüfung vollendet [hagels, , S.XXV]
1880 E-Dur-Sinfonie in toto (Partitur und Stimmen) vollendet Das Klagende Lied vollendet
1880 Nervlicher Zusammenbruch und Einlieferung in Klinik
1884 Tod
1885 Lieder eines fahrenden Gesellen
1888 Erste Sinfonie vollendet
1888 Totenfeier (i.e. der spätere erste Satz der zweiten Sinfonie), vollendet
1894 Folgesätze und Finale der Zweiten Sinfonie vollendet
1900 entleiht Rotts Sinfonie, angeblich wegen möglicher Aufführung
1896 Dritte Sinfonie vollendet
1901 Vierte Sinfonie uraufgeführt
1902 Dritte Sinfonie uraufgeführt
1904 Fünfte Sinfonie uraufgeführt
1906 Sechste Sinfonie uraufgeführt
1908 Siebente Sinfonie uraufgeführt
1910 Achte Sinfonie uraufgeführt
1911 Tod
1989 Uraufführung der E-Dur-Sinfonie

^Inh 3 Mögliche Querbezüge im einzelnen

Die Arten der Bezüge zwischen den Werken beider Autoren können zunächst grob wie folgt kategorisiert werden:

  1. Direkte, tongetreue Übernahmen, auch Übernahmen von Spiel- und Vortragsanweisungen,
  2. Anklänge,
  3. gemeinsame Prinzipien und Haltungen.

Diese Einteilung ist nur als Hilfsmittel für eine grobe Vor-Sortierung hilfreich, und keinesfalls immer sehr trennscharf.
Fast eine Widerlegung dieses Einteilungsversuches wäre z.B. Entsprechung (11), das "Streicher-Fugato-Motiv" aus den Scherzi in der E-Dur-Sinfonie und Mahlers Fünfter. Dies kann als notengetreue Übernahme (mit einigen Abweichungen), oder lediglich als Anklang, oder gar als rein übernommenen Strukturprinzip aufgefasst werden (Saitenwechsel zwischen Liegeton und Skala).

Aber als Orientierungsraster ohne Anspruch auf wissenschaftliche Begründetheit mögen diese Kategorien hingehen; sie werden in der folgenden Graphik durch abnehmende Linienstärke verbildlicht.

Es liegt in ihrer Natur, dass eine "genaue Verortbarkeit" in der Folge diese Kategorien abnimmt. Dennoch versuchen wir zunächst eine solche Tabelle und Graphik, die beide Werk-Stränge "punktweise" in Beziehung setzt. Dies soll einerseits dazu dienen, Überblick zu verschaffen, ist andererseits aber auch nur bedingt aussagekräftig.
Wir visualisieren dabei jeweils das textlich erste Auftreten eines Phänomens. Dies mag nicht immer das deutlichste oder im Sinne der Diskussion relevanteste sein. Die unten stehenden Erläuterungen weisen ggfls. darauf hin; in die Graphik aber wollten wir kein Element von Interpretation einführen, sondern gleichsam mechanische Eindeutigkeit walten lassen.. 1

Graphik der Beziehungen Rott-Mahler

(1) - Gem. Strukturprinzip / Anklang: Rott Erster Satz, (T.73) Seitenthema <--> Mahler Dritte, vierter Satz (T.14)
Die Pendelbewegung des Seitensatzes alleine ist eine ubiquitäre Allerweltsfigur. In Verbindung aber mit der "subkutan" sich ändernden Harmonisierung, also des Abstiegs der Tonhöhe der je zweiten Note in der Unterstimme ergibt sich eine typische Wirkung, die Mahler im Eingangsmotiv der Posaunen im vierten Satz der Dritten Sinfonie konsequent weiterentwickelte. (Vor-zitiert im Eröffnungssatz, T.14 und Rp).
(Darüberhinaus kann auch eine Beziehung zum Choralthema des ersten Satzes der Sechsten Symphonie angenommen werden, doch tritt diese deutlich zurück im Vergleich zu dessen charakteristischen Eigenarten.)

(2) - (fast) notengetreu: Überlappung C-As, Rott erster Satz, Einsatz des Seitensatzes (T. 156) <---> Mahler Siebente, Finale, ebenda, (T. 51)!
Auf diese Entsprechung wird ausführlich hingewiesen von Kreysing/Litterscheid, [kreylitt] ; sie wird aber u.e. als Entsprechung überbewertet.

Zunächst frappiert das scheinbare Maß von Ähnlichkeit: Formal beidemal der Anfang des Seitensatzes, dieselben Tonarten, scheinbar dieselbe Art der Überlappung.

Jedoch, beidemale ist etwas fundamental anderes, ja gegensätzliches gemeint:
Bei Rott liegt nur der Ton c, und der Einsatz von Posauen und Trompeten mit dem As-Dur-Akkord ist als solcher deutlich hörbar. Allein schon ein einsetzender Dreiklang, der einen einzelnen Ton harmonisch grundlegend umfärbt, ist als solcher ein einschneidendes Ereignis, hier gar noch betont durch die Lautstärkevorschrift und instrumentale Masse. Der Ton c ordnet sich dem Dreiklang natürlich ein, und es besteht keinerlei Reibung oder "Überlappung" im engeren Sinne.

Bei Mahler hingegen liegt ein "ganzer" volltönender C-Dur-Dreiklang 2 im ff, zumeist ohne jedes diminuendo. Währenddessen und hart dagegen setzt ein As-Dur-Dreiklang ein, zwar auch im ff, aber nur mit den hohen Holzbläsern besetzt und sofort diminuierend.
Hier ist maximale Reibung, von Umfärbung ist keine Rede, und die Überlappung dauert auch so kurz wie möglich und gerade noch deutlich, nämlich eine Achtelnote.
Der Einsatz des As-Dur Klanges als solcher, ganz im Gegensatz zu Rott, wird und soll unhörbar bleiben. Erst wenn der C-Dur-Klang dann "wie abgerissen" hart aufhört, soll der As-Dur-Klang aufscheinen, ohne dass sein "Anschlags-Geräusch" je stattgefunden hätte.

Es ist bei Mahler etwas viel Moderneres gemeint, (kein Kunststück, fast dreissig Jahre später!), nämlich eine visionäre Vorwegnahme von Klangmanipulation, die erst mit der Tonband-Schnitt-Technik wirklich flexibel möglich wurde, aber mit derartigen Instrumentationstricks durchaus schon simuliert werden kann, ähnliche Effekte liefernd.


Der zweite Satz, das Adagio, hat eher grundlegend-konzeptionelle Bezüge zu den langsamen Sätzen Mahlers.
Deren konkrete Auswirkugen sind bestimmte Gesten und Material-Konturen, wie z.B. die in Skalenausschnitten (also in Sekundintervallen) voran-schreitende Motivik, oft symmetrisch zur Zeit- und Raumachse angeordnet; choral-artige Kontrapunktik der Aussen- und Binnenstimmen; Beginn nur durch die Streicher, sukzessive Einführung der Holzbläser und Hörner. Diese Bezüge sind aber nicht deutlicher zu Mahler als zu vorangegangenen Komponisten und ihrer Satzweise, besonders zu Bruckner, aber auch zu langsamen Sätzen älterer Romantiker, wie Mendelssohn und Schumann. In dieser Allgemeinheit also nicht unbedingt signifikant für das Verhältnis von Rott zu Mahler.

Das ist aber deutlich anders zumindest für (3) und (5) von den folgenden Details:

(3) - Anklang: Chromatische Terzen Höhepunkt Rott Adagio (T. 74) <---> Mahler Dritte, Kopfsatz, Expositions-Höhepunkt (T. 362)
Diese Beziehung ist fast tongetreue Übernahme, transponiert von F-Dur nach B-Dur am Ende der Exposition, resp. nach Des-Dur am Ende der Reprise. Dies B Beispiel besprechen auch Kreysing und Litterscheid ausführlich, [kreylitt] .

Hier könnte, wenn andere dazu notwendige, eher äußermusikalische Voraussetzungen auch vorliegen (z.B. dass dem Komponisten sonst nichts eingefallen wäre, dass er die Entlehnung zu verheimlichen vorhat, dass die Entnahme signifikante Wirkung für das gastgebende Werk hat, etc.), sogar von einem "Plagiat" gesprochen werden.

Die genannten Autoren weisen allerdings darauf hin, dass die Stelle bei Mahler "wesentlich wuchtiger klingt", was an der verbesserten Instrumentation liegen könne, oder daran dass es hier eine Interpretations-Tradition gibt, welche beinhalte, "den Höhepunkt mit aller Konsquenz herauszustellen".

(4) - Spielanweisung: Mit aufwärts gerichtetem Schalltrichter Rott Adagio (T.120) <--> Mahler Erste, Schluss Finale (T.296) (dann auch Dritte Adagio)
Wir wissen nicht, wieviel Signifikanz diese gemeinsame Spielanweisung hat, wieweit sie zu dieser Zeit vielleicht verbreitet war oder gerade aufkam, oder vielleicht von der Praxis der Militärkapelle übernommen ist. Kreysing und Litterscheid diskutieren dies, [kreylitt, , S. 60], kommen aber auch zu keinem abschliessenden Ergebnis.
Die Parallele ist bei der Dritten, Adagio, Takt 296 deutlicher, auch wegen der zugleich stattfindenden Parallele (5). Beidemale aber ist bei Mahler ein ff-Klang angestrebt, bei Rott hingegen ist es gar ppppp.

(5) - Anklang UND notengetreu: Choral am Schluss Rott Adagio (T.120) <---> am Schluss Mahler Dritte, Adagio (T.252)
Die Erscheinung des Schlusschorales in den beiden Adagio-Sätzen ist eine deutliche klangliche Übereinstimmung: Vierstimmiger "strenger" Choral der Blechbläser, ppp-Hintergrund der hohen Streicher-Tremoli. Kreysing und Litterscheid weisen weitere Ähnlichkeiten nach.

Allerdings herrschen auch deutliche Unterschiede:

  1. Bei Mahler sind die Melodien deutlich weitere Varianten des Hauptthemas, sich in die großformale Abfolge einordnen. Bei Rott ist die Beziehung zum Hauptthema höchstens indirekt.
  2. Bei jenem vollzieht sich eine großangelegte Steigerung zum ff-Schluss des Satzes und des Werkes, bei diesem bleibt alles im pp.
  3. Und so rundet sich beim späteren die formale Abfolge des Satzes und der Sinfonie. Beim früheren setzt der Choral als etwas disparat-neues ein und öffnet die Klangwelt explizit für die erst im Finale zu erwartenden Vermittlung.

Überdeutlich allerdings sind die Einleitenden Takte: Beidemale eine Quarte im pp-pizzicato in den Celli! Notengetreue Übernahme, transponiert von H-Dur nach D-Dur.


Die folgenden beiden Beziehungen gehören eng zusammen, sind dabei von sehr unterschiedlicher Natur:

(6) - Strukturprinzip: Hauptthema Rott Scherzo,(T.10) <--> Mahler Eins, Scherzo, (T.9)

(7) - Motivzitat: Hauptthema Rott Scherzo, (T.10), <--> Mahler Zwei, Scherzo, "Trio-zwei", (T.212, T.257, T.441)

Das zweite ist eine deutliche, notengetreue Übernahme des Kopfmotives des Themas aus Rotts Scherzo, in drei verschiedenen Tonarten, zuletzt in seiner Ursprungs-Tonart C-Dur, in das "Fischpredigt-Scherzo". Allemal tritt es auf als "barbarischer Einbruch", die ersten Male eröffnet es eine Art "zweites Trio", sehr lyrisch, beim dritten Male aber führt es zu einem typischen "Zusammenbruch". vorwegnehmend den gewaltsamen Beginn des Finales.

Diese drei Stellen werden in der Literatur mehrfach besprochen, die Bewertung aber zumeist offengelassen: "hommage", Zitat, Plagiat?

In diesem Zusammenhang hilfreich ist Beziehung (6), die Ähnlichkeit zwischen den Scherzo-Themen der beiden ersten Sinfonien: Diese ist gegründet sowohl in einem gemeinsamen Strukturprinzip, als auch im "Gestus", im "Genre", bäuerlich-derb, wie es spätestens seit Bachs h-moll Violinsonate in der höchsten Kunstmusik seinen gültigen Platz hat.

Interessant ist, dass Rott mit der Verschiebung von Motiv und Metrik (siehe Klammern in der ersten Zeile) einen ersten zaghaften Schritt hin zu Polymetrik tut, der dann im Scherzo von Mahlers Fünfter deutlich weitergehend erforscht werden wird.

Das folgende Notenbeispiel zeigt alle drei Stellen, durch Transpositionen dem Rottschen Original angenähert:

Hauptthemen Scherzi Rott E-Dur-Sinfonie und Mahler Erste

Dies aber klärt alles eindeutig!
Das Erklingen des Rottschen Motives ist eindeutig Zitat mit programmatischem Inhalt, und weit entfernt vom "Plagiat", wie immer man es definiere. Es ist bewußt als Bezug gemeint und soll (unter den passenden Umständen) auch als solches gehört werden!

Denn wäre es Mahlern nur um das brutale Einbrechend des Barbarischen und Trivialen in die kunstvolle Kontrapunktwelt der "Fischpredigt" gegangen, dann -- hätte er ja auch einfach sich selbst zitieren können!

Dies besonders, da die motivischen Elemente der folgenden Takte eh eine muntere Verwürfelung von Motiven aus beiden Scherzi beinhalten, siehe Klammern in Zeilen zwei und drei.
Ein Blick auf obige Notenzeilen zeigt nämlich, dass man sie mit wenig Auswirkungen auf die Ergebnisse sehr gut "diagonal" lesen kann, also z.B. in Zeile zwei beginnen und an dem (von uns eingefügten) ersten Atemzeichen nach Zeile drei überwechseln. Geringe Anpassungen wären notwendig, aber formal und inhaltlich hätte ein Selbst-Zitat des eigenen Scherzos hier problemlos alle Funktionen des Rott-Zitates übernehmen können!
Das Verfahren des Selbstzitates ist von Mahler selber ja bald darauf ausgiebig angewendet worden, und spätestens seit Bruckner mit den vielfachen, nachvollziehbar als Zitat markierten Aufgriffen von Motiven aus Vorgänger-Sinfonien ja keinesfalls fernliegend.

Dass Mahler hier ausdrücklich ein fremdes Werk "benutzt" ist nur programmatisch und inhaltlich zu begründen. Eine berühmte diesbezügliche Briefstelle sei dazu etwas ausführlicher zitiert:

"[...] Wenn Sie dann aus diesem wehmütigen Traum aufwachen, und in das wirre Leben zurückmüssen, so kann es Ihnen leicht geschehen, daß Ihnen dieses unaufhörlich bewegte, nie ruhende, nie verstängliche Getriebe des Lebens grauenhaft wird, wie das Gewoge tanzender Gestalten in einem helle erleuchteten Ballsaal, in den Sie aus dunkler Nacht hineinbrlicken, -- aus so weiter Entfernung, daß Sie die Musik hierzu nicht mehr hören! Sinnlos wird Ihnen da das Leben, und ein grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels auffahren! -- Dies ist der 3. Satz." (Brief an Max Marschalk, 26. März 1896, [mahlerBr, , S. 150])

Nach dem dritten Auftreten des Rott-Motivs, in C-Dur, also der Tonart seiner ursprünglichen Exposition, erfolgt der Ausbruch des vollen Orchesters, der in diesem Brief als "Schrei des Ekels" bezeichnet wird. Dessen Wortlaut ist hinreichend klärend.

Die etwas launisch formulierte Fußnote bei Kreysing/Litterscheid, ob denn "Rott vom Himmel herunterruf[e]" und wer es denn sei, der den Schrei des Ekels ausstößt, kann u.E. beantwortet werden, dass eindeutig das Schicksal Rotts gemeint ist, und Mahler voller Ekel dagegen protestiert.
Gemeint schon, allerdings nur unter anderem!

Dass Mahler mit der Klage über diesen letztlich wohl eher auf seine eigen unangenehme Lebenssituation sich bezogen hat ("die sich seit zehn Jahren ewig wiederholenden Zurückweisungen, Enttäuschungen, ja Demütigungen", Brief an Eichberg, 30.3.1895, [mahlerBr, , S. 120]), kann analog zu der scharfen Analyse von Kreysing/Litterscheid der sich auf Rotts Zusammenbruch beziehenden Briefstelle durchaus angenommen werden.
Etwas wohlwollender betrachtet, wäre es eine Klage über die unangenehme Lage des schöpferischen Geistes überhaupt, über die Verlorenheit des sensiblen Künstlers in der bürgerlichen Erwerbswelt im allgemeinen.
Noch allgemeiner über die Grenzen, Bedingtheiten und das mögliche Scheitern menschlicher Existenz schlechthin.
All dies ist selbstverständlich gleichzeitig im Werke vorhanden, ohne diese allerallgemeinste Bedeutung wäre es kein Kunstwerk, das überzeitlich und global Interesse erregen könnte, und seine Leistung ist es ja gerade, den konkreten Anlass ins Allgemeine abzubilden, ohne ihm etwas von der individuellen Schärfe zu nehmen.
Kunstwerke und Akte des Kunstschaffens sind allemal poly-kausal.
All diese Ebenen existieren durchaus parallel und mit je ihrer eigenen Berechtigung.


(8) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, ein Nebenthema (T.72) <--> Mahler Fünfte, Scherzo, erstes Trio(T.136)

Diese sechs wenigen Töne und ihre Harmonisierung entsprechen sich weitgehend. Die Relevanz dieser Entsprechung ist allerdings schwer einzuschätzen. Im Genre des "Wienerliedes" mag die Gesamtgestalt ein weitverbreiteter Allgemeinplatz sein, und so das Auftreten in beiden Werken begründet durch den Bezug auf gemeinsame Vorbilder.

Auffällt, dass die Reihenfolge der Takte und damit die Funktion der Vorhalte genau umgekehrt ist:
D9-8, T6-5
heisst es im älteren Werk.

Ebenfalls vertauscht sind das Tempo in beiden Werken: Bei Rott erscheint erst eine Allegro-Version, bald darauf eine langsame, in der Überleitung zum (explizit so genannten) "Trio", Takt 178.
Zwischen den beiden langsamen Stellen ist die Deutlichkeit am größten!
Bei Mahler folgen dann vollständige Allegro-Varianten erst im Rahmen von Reprise (T.563) und Coda (T.632).

(9) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Trio <--> Mahler Zweite, Finale

Hier nun wieder eine notengetreue, "wörtliche" Entsprechung zwischen älterem und neuerem Werk:

Skalenmotiv in Rotts Scherzo/Trio und Finale Mahler Zweite

Deutliche Übereinstimmung besteht im jeweils ersten Takt der angeführten Stellen. Benennen wir dessen Inhalt für die folgenden Betrachtungen so neutral wie möglich, z.B. "Skalenmotiv".

Bei Rott erscheint das Skalenmotiv mit verschiedenen Fortsetzungen zunächst mehrfach auf engem Raum im "Trio" des dritten Satzes: in a-moll in der Solo-Violine (T.193) und im Solo-Horn (T.199), dann in F-Dur im Kanon in Trompete und Horn (T.208) und im Horn (T.217), abschliessend, nun in f-moll, wieder in der Violine, pppp, "wie von ferne", T. 219.

Danach erscheint das Skalenmotiv erst wieder im Rahmen eines "Fortsetzung der Durchführung" zu nennenden Formteils ab T.247 als Kontrapunkt zum Hauptthema, sequenziert in den Mittelstimmen, erst von erster Trompete, dann vom ersten Horn.

Bei Mahler hingegen wird das Skalenmotiv viel weitgreifender verwendet, es ist durchaus konstitutiv für den gesamten Finalsatz:

  1. Zunächst kommt es als neues Motiv hinzu (zu den bereits vom Ende des dritten Satzes bekannten) in der großen C-Dur-"Beruhigungsfläche", direkt nach dem wild herausbrechenden Satzanfang, also direkt zu Beginn des Finales.
  2. Dann bestimmt es, stärker noch als diese, die Des-Dur-Beruhigungsfläche nach dem ersten langen Allegro-Teil und vor dem "großen Appell" in cis-moll, also am Ende der ersten, nicht-vokale Hälfte des Finales.
  3. Dann folgt es als "orchestraler Refrain" auf jede der ersten beiden Chorstrophen.
  4. Auf die dritte hingegen folgt stattdessen das Duett von Sopran und Alt-Solo (rhythmisch schon dem Skalenmotiv deutlich angenähert!), danach aber wieder das Skalenmotiv selbst, diesmal vom Chor gesungen auf den Text "Mit Flügeln, die ich mir errungen" und kanonisch vervielfältigt.
    In T.696 bildet es im ff-unisono auf den Text "Sterben werd ich um zu leben" einen Höhepunkt des ganzen Satzes,
  5. um nach der letzten Chorstrophe (ja, schon in deren Mitte einfallend) den gesamten Schluss des Satzes zu dominieren: In die Pauken (!) instrumentiert, rhythmisch immer weiter augmentiert, die eröffnende Quinte abgespalten, diese zur Oktave erweitert, im Es-Dur-Klang sich auflösend.

Diese sehr unterschiedlichen Rollen machen den Versuch einer Bewertung diese Bezuges (dieses einen Taktes als solchem!) fast überflüssig. Überspitzt formuliert: Warum sollte der eine nicht verwenden, was der andere als nicht-verwertbar weggeworfen hat?

Wichtiger hingegen ist der Zusammenhang, die Gesamt-Aura, die Gestaltung der "Beruhigungs-Flächen" und "Vogelstimmen-Welten" über diese konkrete Tonfolge hinaus:
So erscheint das Skalenmotiv bei Rott kombiniert mit den steigenden Quintenrufen des Hornes (als seiner melodischen Fortsetzung) und mit Vogel-Lauten in Flöte und Klarinette (als seinem Kontrapunkt). Dies alles ist sehr ähnlich denjenigen Klangkombinationen, die im Finale von Mahlers Zweiter zwar das Skalenmotiv nicht direkt kontrapunktieren, aber ihm so nah als möglich angeschlossen sind.
Auf all diese Ähnlichkeiten, besonders zwischen den diesem und dem Rottschen Finalsatz, und auf die Auren und Klangwelten im allgemeinen gehen Kreysing/Litterscheid in diesem Zusammenhang ein, -- wir hingegen weiter unten, am Ende dieses Kapitels, bei der Besprechung der von Rotts Finale ausgehenden Pfeile.

Als ein mögliches Vorbild für das Skalenmotiv nennt Floros die sog. "Friedensmelodie" (Benennung wohl von Wolzogen, [wolzRi, , S. 94]) aus dem letzten Akt des Siegfried. "Mahler hat das Thema der Friedensmusik fast unverändert [...] in das Finale der Zweiten Symphonie übernommen." ([florosMa2, Seite 129])
Eggebrecht widerspricht dieser Deutung explizit, ohne jedoch tatsächliche Gründe anzugeben [eggMa, , S. 46].

Wir bestreiten nicht die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen Rott/Mahler einerseits und Wagner andererseits, aber "Identität" im musikalischen Sinne, und damit "Zitat", liegen hier nicht vor.
Es ist nämlich für die Gestalt-Wahrnehmung einer Melodie keinesfalls die "gelesene", trockene Tonhöhenabfolge bestimmend, sondern die Kombination von Tonhöhen und ihrer metrischen Gewichtung! Ein "schwerer" und ein "schwacher" Ton haben nicht nur eine andere "Farbe", sondern werden auch beim Vergleich von Melodiemustern von unseren psycho-interen Vergleichsalgorithmen nur sehr schwer in Beziehung gesetzt, -- selbst identische Abfolgen von Tonhöhen, die von rhythmisch-metrischen Differenzen überlagert sind, können in vielen Fällen erst nachdem die Vernunft unser Wahrnehmungsvermögen hinreichend oft dahingehend "trainiert" hat, als Identitäten empfunden werden!

Tonhöhenfolge allein ist keine Melodie!

So wird kein Hörer jemals "zwanglos" eine Identität zwischen den auf dem Papier durchaus identischen Tonhöhenfolgen im voranstehende Beispiel empfinden: Das fis und das a sind "schwach" in dem einen und "stark" in dem anderen Motiv; so werden unterschiedliche harmonische Kontexte aufgespannt, und beide Tonhöhen deshalb völlig unterschiedlich eingefärbt.

Dasselbe gilt für erwähntes Verhältnis von unserem Skalenmotiv zur Friedensmelodie:

Wagner, Siegfried, "Ewig war ich"

Hier ist aber auch jeder Ton der aufsteigenden Skala (bis auf das vorletzte "a") anders, ja, geradezu gegensätzlich metrisch gewichtet zum Skalenmotiv bei Rott und Mahler.
Wer hier von "Übernahme" spricht, kann Noten lesen, aber nicht hören.

Viel eher wird sich jedem unvoreingenommenen Hörer, besonders der augmentierten Mahlerschen Fassungen, eine fast notengetreue Übereinstimmung mit der Tagesschau-Fanfare aufdrängen, zumindest denen im Sendebereich des Ersten Deutschen Fernsehens!
Diese "Ewigkeits-Melodie" zu taufen wäre allerdings, selbst angesichts ihrer nunmehr sechzigjährigen Konstanz, etwas überhöht. 3
Darauf allerdings geht keiner der Autoren ein, obwohl es durchaus diskussionswürdig ist, warum der Komponist Hans Carste und alle Bearbeiter, Verwerter und Verwender sich anscheinend niemals ernsthaften Plagiatsvorwürfen ausgesetzt sahen?

Die Schuztfrist für Mahlers Werk endete erst 1981, fünfundzwanzig Jahre lang hat das Deutsche Fernsehen also den Juden schamlos beklaut!


(10) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Trio(T.203) <--> Mahler Dritte, Zweiter Satz (T.117, 267)
Diese chromatisch absteigende Oberstimme in einer Folge abwärts gebrochener Triolen ist eine fast wörtlich Übereinstimmung. So sehr es sich auch um einen häufig vorkommenden Allgemeinplatz handeln mag, so frappant ist doch die Übereinstimmung beim bloßen Hören.

(11) - Motiv-Zitat: Rott Scherzo, Rückführung, Fugato-Motiv (T.402) <--> Mahler Fünfte, Scherzo, Fugato (T.40).

Die Übereinstimmungen sind auch hier deutlicher beim Hören als im Notentext; sie werden erwähnt von Litterscheid, [litt, , S. 33]. Sie bestehen in Tonart, motivischer Kontur und motivischem Bildungsprizip. Letzeres, Brechung zwischen zwei virtuellen Stimmen, von denen ausgerechnet die auf dem starken Achtel schlicht liegenbleibt, führt mit den zunehmend größeren Intervallen zu "hüpfenden" Saitenwechseln, die den charakteristisch "fiedelnden" Klang dieses Motivs ausmachen.

Dieses "Fugato-Kopf-Motive" taucht bei beiden Komponisten ausschliesslich in den Streichern auf! (Vielleicht ungeachtet der Holzbläserstellen wie T.241, welche aber als deutlich "langsamer" nur daraus abgeleitet sind). Dies zeigt einmal mehr, welch konstitutive Bedeutung sowohl konkreter Klang als auch die "Semantik der Musizierpraxis" bei Mahler haben, -- aber offensichtlich auch schon im beginnenden Werk von Rott!

(12) - Bildungsprinzip: "Gewaltsam" Polyphone Satzschlüsse, (Rott Scherzo T.501)

Das Bildungsprinzip, an Schluss eines Satzes, womöglich der ganzen Sinfonie, die verschiedenen und grundsätzlich unabhängig von einander exponierten und durchgeführten Themen in einem kontrapunktischen Verband übereinanderzutürmen, ist spätestens seit Bruckners Achter weithin bekannt.

Rott beginnt eine Weiterentwicklung mit seinem Scherzo ab Takt 501, -- die Themen werden fast "gewaltsam" übereinandergezwungen, und auch vor entstehenden stimmführungsrechnischen Härten, ja, "Satzfehlern" nicht zurückgeschreckt. (Siehe im folgenden die Oktav- und Quintparallelen zur Trompetenstimme, angezeigt durch Klammern, und das nur global, durch die Ubiquität des H-79 vermittelte, lokal unvermittelte Eintreten in die Ganzton-Felder a-h-cis-dis, bei "*" und anderswo)

Rott Scherzo Kontrapunktische Schichtung

Dies geschieht (grundsätzlich immer, hier schon ansatzweise, und in der weiteren geschichtlichen Fortentwicklung zunehmend) (a) flächig, (b) repetititiv, in "Schleifenstellung" und (c) poly-metrisch.
Das ganze ergibt den Eindruck von kunstfertig, aber kraftmeierisch, komplex, aber grobschlächtig, abschliessend, aber widersprüchlich, geglückt, aber eher ein Naturvorgang, als eine Kunstäusserung.

Bei Rott ist diese "Kontrapunkt-Fläche" nicht der direkte Satzschluss, aber kurz vor diesem.
Mahler führt diese Entwicklung weiter mit den Schlüssen des Scherzos aus der Fünften (ab Takt 799), dem eh nahe verwandten und nun schon zweimal erwähnten Satz, dem Finale derselben (T.749), den Kopfsätzen der Sechsten (T.467) und der Siebenten (T.523). (Und im "contrapuntissima" Finale der Siebenten sowieso !-)

Dies mag als Muster des einen Extrems von Arten von Übereinstimmungen gelten: Hier hat nicht der eine vom andern übernommen, sondern beide greifen eine immanente, von Material, inner- und aussermusikalischer Geschichtsentwicklung und Kompositionslehre nahegelegte, ja, notwendige Entwicklung auf, die sich ja auch in ganz anderen Traditionslinien, andernorts auf der Welt, in ähnlicher Form wiederfinden ließe.

(13) - Übermäßiger Dreiklang als vorletzter Akkord des Satzes
Rott, Scherzo, T.590 <--> Mahler, Schluss V/5 und VII/5

Dies ist empfinden wir als eine sehr deutliche Entsprechung! Den übermäßigen Dreiklang als vorletzten Klang eines Satzes, an Dominantstelle in der Schlusskadenz zu setzen war für Rott durchaus ein kühnes Wagnis.
Bei Mahler steht diese Konstruktion am Ende der Finales der Fünften und der Siebenten noch etwas "nackter" und härter im Raume.

Wir persönlich hören alle diese drei Stellen als direkte Antwort auf die Schlusskadenz vom Ersten Akt Walküre, wo die duale Konstruktion, der DV aus vier kleinen Terzen, die bisher provokanteste Schlusskadenz der Musikgeschichte darstellte.

(14) - Tiefer Choral, Rott Einleitung Finale (T.22) <--> Mahler Zweite, Einleitung Finale (T.143)

Beide Finale haben gemeinsam, dass sie mit breit angelegten Einleitungs-Bereichen beginnen. In diesen werden verschiedenartigste Motive, geradezu widersprechender Provenienz, scheinbar unverbunden gereiht und kontrastiert, ehe durch allmähliche Verdichtung und zunehmende Konflikte ein Spannungspotential sich aufbaut, welches dann zu fester gefügten "Themen" und deren "Verarbeitung" im eher konventionellen Satzstil führt.

Dies ist als solches nicht völlig ohne Vorläufer, beginnend vielleicht bei Haydn's Schöpfung, über die Sinfonien Schumanns und Bruckners. Hier aber, in beiden Fällen, wird die Entwicklung deutlich weiter getrieben: Vogelstimmen, Naturlaute, ferner Trommelschlag, klagende Oboenmelodien, bei deren Erklingen man den Hirtenknaben auf einem Blumenhügel zu sitzen erwartet, wenn denn endlich der Vorhang sich mal hebt, Hörnerrufe und Trompetensignale in der Ferne, dumpfe Pilger-Choräle, Gewitter und dann wieder Vogelstimmen.

Das Material wird deutlich disparater als bei allen Vorgängern, läßt sich fast nur noch durch die Annahme einer "Bühnenhandlung", die all diese Dinge benötigt, rechtfertigen. Dennoch aber ist die Vermittlungstechnik, die wirklich "musikalische" Komposition eine zutiefst autonome, kontrapunktische. Sie ist "sinfonisch" zu nennen, was die Weite der gespannten Bögen betrifft, aber "kammermusikalisch" in Besetzung, Liebe zum Detail und Strenge der Stimmführung.

Eine deutliche Gemeinsamkeit (von vielen) ist dabei das Auftretens des "Chorales in tiefer Lage", in der E-Dur-Sinfonie ab Takt 22, im Finale Mahler Zweite ab Takt 143.
Ähnliches wird es dann geben in der Einleitung zum Finale der Sechsten Sinfonie, dort ab Takt 49.

(15) - Horn und Vogelstimmen, "rufend". Rott, Einleitung Finale, (T.29) <--> Mahler Zwei, Einleitung Finale (T.44)

Eine weitere, für beide Werke konstitutive Konstruktion ist die Kombination von Hornruf und Vogelstimmen. Dies diskutieren auch Kreysing und Litterscheid in begrüßenswerter Ausführlichkeit.

Einen weiteren Höhepunkt wird diese Kombination, diese Aura, diese Farbe, dieses Prinzip in der ersten Nachtmusik der Siebenten Sinfonie haben. Dort findet sich dann auch die letzte der hier aufgelisteten Übereinstimmungen:

(16) - Horn Vortragsbezeichnung "rufend". Rott, Einleitung Finale (T.29) <--> Mahler Siebente, erste Nachtmusik (T.1)
Wir führen diese Übernahme deshalb mit eigener Nummer auf, weil das wörtliche Auftreten der Vortragsbezeichnung "rufend" schon eine selbstständige Bedeutung hat.

Wichtiger aber ist allemal deren Einbettung in den gesamten vorgenannten Kontext, in das ganze Beziehungsgeflecht, (motivisch, satztechnisch und semantisch) zwischen dem Trio des Scherzos und der Einleitung des Finales bei Rott und den verschiedenen Stellen im Gesamtwerk Mahlers.

Beinhalten vielleicht auch die Einleitung zum Finale der Zweiten Sinfonie und erwähnte erste Nachtmusik deren deutlichstes und am stärksten konstitutiven Auftreten, so sind doch Vogelstimmen (wie auch Hornrufe, genauer: "rufende" Hornrufe, und Trompetensignale) in Mahlers Werk durchaus ubiquitär:
Eindeutig beginnend bei den Vogelrufen in den Überleitungsbereichen der Ecksätze der ersten Sinfonie, über, wie erwähnt, den Großen Appell, Kuckuck hat sich zu Tod gefallen und den Nachtvogel in O Mensch gib acht, am Ende dann begleitend den Trunknen im Frühling und die schweren Blech-Vögel des Abschied.

Vielleicht ihren End- und Höhepunkt hat diese Eintwicklung dann im "unübertroffenen" (Mahnkopf, [mahnk, , S. 40]) Trio von Flöte, Horn und tiefen Streichern in der Coda des ersten Satzes der Neunten Sinfonie, Takt 383 ff, wo die Vögel frei und ungebunden, polyrhythmisch und natürlich zwitschern, und gleichzeitig aufgehoben sind in die kunstvoll-künstliche Sphäre der strengen dreistimmigen Invention.
Das ist vermutlich der End- und Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem "Ziküth" des fahrenden Gesellen begann.

Ach nein, sie begann ja vorher schon, mit den Trillern und Vorschlägen in Rotts Trio, und mit den Kanons und Kontrapunkten in der Einleitung seines Finales.

Um so bitterer, dass dieser Komponist diese Entwicklung nicht selber weitertreiben konnte.
Zu spekulieren, was wir dadurch verloren haben, ist müßig.
Tröstlich ist allein der Gedanke, dass es ja eben nicht mit ihm begann, sondern vorher schon, und vorher, und vorher.

Und dass es ewig weitergeht, ewig, ewig.

^Inh 4 Versuch einer Wertung

Was aber sollen uns nun diese mehr oder weniger "objektiv nachweisbaren" Übereinstimmungen?
Was wir hier nicht leisten wollen und können, und was auch den interessierten Rezipienten der betroffenen Werke nicht gerade weiterbringt, wäre eine Diskussion der Absichten, Verhaltensweisen, Befindlichkeiten und Wertungen der beteiligten historischen Personen.

Nur soviel: Die Äußerung Bauer-Lechner gegenüber, dass dessen Sinfonie "[Rott] zum Begründer der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe." kann als authentisch gelten aus denselben Gründen, die Hagels ([hagels, , S.IX f.]) für die Anekdote über Bruckners Bemerkung vor der Prüfungskommission "von dem werden Sie noch Großes hören!" anführt, dass nämlich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gemeinte Person und Werk fast vollständig vergessen waren, und nichts auf ihre baldige (Re-)Habilitation hinwies, so dass eine Fälschung durch den Berichtenden, um des verehrten Lehrers Weitsicht zu unterstreichen, unwahrschenlich ist.

Damit hätte Mahler nicht nur Gerechtigkeit geübt, sondern auch Weitblick bewiesen.
Dass dieser Aussage dann später keine Taten folgten, die Uraufführung des Werkes unterblieb, kann durchaus seiner Egomanie geschuldet sein, und der unterschwelligen Befürchtung, die vielen unmittelbar auffälligen Anklänge zwischen den Werken würden tiefgreifend fehlinterpretiert. Man kann, wenn man will, dies als einen Akt von Unterdrückung werten, alldieweil Mahler im Jahre neunzehnhundert nicht mehr Kritik hätte fürchten müssen als ihm (von seinen Gegnern) eh schon zuteil wurde.

Aber mehr als diese persönliche interessiert uns die sachliche Ebene, die kompositorischen Fragen.

Wir haben oben schon versucht, die aufgelisteten Entsprechungen zu kategorisieren. Nach ihrer genaueren Betrachtung kann man zusammenfassend feststellen, dass es ein Spektrum gibt, an dessen einem Ende die noten-getreue Übernahme steht, die als bewußt gesetztes und als solches gemeintes Zitat gehört werden soll, siehe oben Nummer (7), vielleicht auch die pizzicato-Einleitung zu (5).
Dann folgen noten-getreue Übernahmen mit größeren Freiheiten, oder weiter verbreiteten Materials, bei denen schwache Erinnerungen Mahlers an die vor langer Zeit auf dem Klavier vorgetragene Sinfonie Rotts eine Rolle spielen können, oder aber tatsächlich ein Plagiat im engeren Sinne vorliegt. Beispiele sind (3), (10) und (11). Für den Hörer zum Verständnis ist es nicht nötig, diese Beziehungen zu kennen; dem Komponisten waren sie vielleicht selber nicht (mehr) bewußt.

Dann folgen Gemeinsamkeiten, die statt in der Kind-Beziehung auch Geschwister gemeinsamer Eltern sein könnten, wie (8), (9) und (10).

Viel wichtiger aber als diese "konkreten" Übereinstimmungen sind die kompositiorischen Prinzipien, Tendenzen, Techniken und Programme. Diese Art von Übereinstimmungen resultieren nicht aus einem gegenseitigen Lernen, sondern einem gemeinsamen Aufnehmen von Zeitströmungen, notwendigen historischen Entwicklungslinien, Konsequenzen aus dem was vorliegt, dem "was in der Luft liegt", dem "Walten des Weltgeistes".

Sie beinhalten im Falle beider Komponisten

  1. die Aufnahme von Trivial- und Alltagsmusik in die Sphäre der Symphonik,
  2. ebenso Naturlaute und konkrete Schallereignisse.
  3. Das Negieren von Geschlossenheit der "Form" (im engeren, konventionellen Wortsinn) auf der Ebene des einzelnen Satzes,
  4. stattdessen zyklisches Denken, Konstruktion von "Über-Formen" jenseits der Satz-Grenze, ja, über ganze Sinfonie-Folgen hinweg.
  5. Schnitthafte horizontale Montage und "rücksichtslose" vertikale Schichtung von disparaten Strukturen und Sphären.

Notabene sind besonders die ersten beiden Punkte keinesfalls neu, sobald man die größere Musikgeschichte betrachtet: In Renaissance und Barock sind Gewitter, Bauerntanz und Jagdhorn selbstverständlich in Kunstmusik abbildbar. Nur in den letzten Jahrzehnten hatten sich derartige Inhalte auf die Opernbühne zurückgezogen. Das Posthorn-Signal im Finale von Brahms Erster Sinfonie ist das Extrem dessen, was damals in der sinfonischen Musik als aussermusikalisches Material erlaubt schien, und gerade gegen diese Sterilität rennen sowohl die E-Dur-Sinfonie als auch Mahlers Erste vehement an.

Derartige Übereinstimmungen in obiger Liste sind (5), (6), (12), (14), (15), und in der Tat wurden alle diese hier beginnenden Entwicklungslinien von Mahler ja über die Jahre seines Schaffens niemals aufgegeben. Obige graphische Darstellung endet nur deshalb mit der Siebenten Sinfonie, weil sie nur das jeweils erste Auftreten des Bezuges darstellt. Vielleicht sind die Holzbläser-Triller im Adagio der Zehnten die allerletzten Zuckungen der Mahlerschen Vögel.


Bei all diesen Vergleichen ist aber zu beachten, dass alle Befunde zur E-Dur-Sinfonie stets kritisch auf dem Hintergrund ihrer gewaltsam abgebrochenen Enstehung zu sehen sind: Keine Aufführung, keine Instrumentationskorrektur, keine Verbesserungen der Form haben stattfinden können!
So gesehen ist sie fast als ein Torso zu bezeichnen.
Allemal ist sie "halbes Jugendwerk".

Bei aller Frische des Einfalls, Tiefe der Empfindung, Mut der Konzeption, die E-Dur-Sinfonie besitzt auch (nicht allzuviele, aber dennoch nicht vernachlässigbare) typische Fehler eines Erstlings in der Gattung: formale Längen, ungeschickter Satz, nicht funktionierende Instrumentations-Einfälle. 4

So ist der eigentliche "Satz" und seine Instrumentation bei Mahler um Größenordnungen klarer und transparenter und die formalen Konzepte und Gliederungen wesentlich zugespitzter und "didaktischer":

  1. Den Choral-Schluss der Dritten Sinfonie begleiten nur die Streicher-Tremoli, bei Rott, zweiter Satz, um Takt 121, sind es zusätzlich die Holzbläser.
  2. Die kontrapunktischen Schichtungen, s.o. Übernahme (12), geschieht beim Späteren immer in säuberlich getrennten Oktav-Registern, vgl. den Schluss von V/3, T.799 mit obigem Notenbeispiel.
  3. Die Choräle sind stärker kontrapunktisch, die Führung der Aussenstimmen strenger, die der Mittelstimmen motivischer.
  4. "Verschleierte", unklare Harmoniewechsel wie der "subkutane" Einsatz des (doch eigentlich so signifikanten, ja, konstitutiven) übermäßigen Dreiklanges in T.590 des Scherzos (dritter Takt der Periode, nur eine einsame dritte Trompete!) wird man beim Späteren vergeblich suchen.
  5. Höhepunkte wie die übernommene Terzparallele (2) stehen nicht "irgendwo" im Satzablauf, als "expressiv definierter" Höhepunkt, sondern stets an formal viel eindeutiger definierten Stellen, hier: Expositions-/Reprisen-Endpunkt.

Die reine Tatsache, dass zwischen dem schmalen Werk Rotts und dem elaborierten Mahlers genau diese Unterschiede bestehen, liegt in der Natur der Sache: Jede Aufführung einer Sinfonie ist eine "Korrekturschleife"; in der Vorstellungen sich klären und Schlacken entsorgt werden.
Aber diese Liste kann vielleicht andeuten, in welcher Richtung der Unvollendete sich entwickelt hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre.

Von all diesen Einschränkungen abstrahierend aber meinen wir feststellen zu dürfen, dass der historisch Ältere, aber in unserer Wahrnehmung der Jüngere, da viel jünger Geschrieben-Habende, der deutlich Mutigere war!

So verweigern sich alle Sätze seiner E-Dur-Sinfonie der Rundung, der Geschlossenheit! Der erste noch am wenigsten, er weist eine Reprise auf, die allerdings, so lange man sie klassisch hört, nur das Hauptthema bringt und den Satz so knapp wie möglich beendet.
Zweiter und Dritter Satz bringen zum Ende hin zunehmend Neues, statt sich zur Reprise zu runden: Das Adagio den Choral, das Scherzo gar dreimal neues Material: ein neues Kontrasubjekt (T.323), das Fugato-Motiv (T.403) Thema und das abschliessende "Polter-Thema" (T. 471).
Soviel neues, wo eigentlich alles auf dem Rück-Weg sein sollte, kann naturgemäß erst recht nicht gerundet werden.

Das Finale führt dieses Aus-Greifen, Immer-weiter-Müssen konsequent fort. Sein Schluss rundet dann zwar die Sinfonie als ganze, aber nicht den vierten Satz als solchen!

"Quasi spiralförmig" nennt van den Hoogen dieses Formprinzip in einer schönen und wahren Metapher [vdhoogen] .

Mahler hingegen ist ab der ersten Sinfonie immer bemüht, die neu erfundenen formalen Freiheiten, Prozesse, Bezüge und Dispositionen mit dem herkömmlichen Raster, besonders der Sonatenhauptsatzform zu vereinbaren.
Zunächst allerdings recht unverbindlich und locker und nicht ganz gelungen in den Ecksätzen der ersten und zweiten Sinfonie. Aber Mahler entwickelt sich auf dieser Ebene, der "musikalischen Form" im akademischen Sinne, scheinbar "rückwarts", -- wie zeitweilig ein Planet von der Erde aus gesehen: Je größer und inhaltsschwerer seine Sätze werden, um so deutlicher ausgeprägt "halten sie sich" an die hergebrachte Gliederung des Sonatenhauptsatzes auf allen seinen Ebenen.
Die an Ausdehnung und Inhalt alles Maß sprengenden Sätze III/1, VI/1, VII/1 und besonders VI/4 und VIII/1 funktionieren nur, weil sie die Sonatenhauptsatzform bewußt als formbestimmend "evozieren", ihre Scharniere aufs deutlichste markieren, sie gleichermaßen verwenden wie zitieren. Sonst fiele das alles fürchterlich auseinander!
Selbst das Scherzo aus der Fünften und fast alle langsamen Sätze bedienen sich der obersten Gliederungsebenen der Sonatenhauptsatzform, um Wahrnehmung zu strukturieren, wenn auch überlagert mit anderen formalen Rastern.

Die Frage drängt sich auf, welche Techniken formaler Gestaltung Hans Rott im weiteren Verlauf seiner Entwicklung gefunden hätte.

Bei der "Spiralform" hätte es nicht bleiben können.

Oder etwa doch?

^Inh 5 Bibliographie

[muskon91]
Gustav Mahler, der unbekannte Bekannte
Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn(Hrsg.)
edition text+kritik, München, Jan 1996
ISBN 3-88377-521-5

[muskon103]
Hans Rott, der Begründer der neuen Symphonie
Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn(Hrsg.)
edition text+kritik, München, Jan 1999
ISBN 3-88377-608-4

[kreylitt]
Hemluth Kreysing und Frank Litterscheid
Mehr als Mahlers Nullte
Der Einfluss der E-Dur Sinfonie Hans Rotts auf Gustav Mahler
in: [muskon91]

[hagels]
Bert Hagels
(Vorwort und Apparat zur E-Dur-Sinfonie von Hans Rott)
in: [rott]

[mahnk]
Claus-Steffen Mahnkopf
Mahlers Gnosis
in: [muskon91]

[florosMa2]
Constantin Floros
Gustav Mahler II
Mahler und die Symphonik des Neunzehnten Jahrhunderts in neuer Deutung
Breitkopf & Härtel, 1977, Wiesbaden
ISBN 3-7651-0127-3

[vdhoogen]
Eckhardt van den Hoogen
Hans Rott
the web, 20120830
http://hans-rott.de/vdhd.html
[litt]
Frank Litterscheid
Die E-Dur-Sinfonie von Hans Rott
Analytische Betrachtungen
in: [muskon103]pg.15-44,

[mahlerBr]
Gustav Mahler
Briefe
(Neuausgabe)
Herta Blaukopf(Hrsg.)
Paul Zsolnay, Wien, 1982
ISBN 3-552-0330-0

[eggMa]
Hans Heinrich Eggebrecht
Die Musik Gustav Mahlers
Noetzel, 1999, Wilhelmshaven
ISBN 3-7959-0764-0

[rott]
Hans Rott
Sinfonie Nir. 1 E-Dur mit Sinfoniesatz E-Dur (1878)
Bert Hagels(Hrsg.)
Ries & Erler, Berlin, 2003

[wolzRi]
Hans von Wolzogen
Thematischer Leitfaden durh die Musik zu Richard Wagner's Festspiel Der Ring des Nibelungen
Schloemp, 1876, Leipzig

[mloehr]
Maja Loehr
Hans Rott, der Lieblingsschüler Anton Bruckners
Vorschau auf ein geplantes, doch nicht erschienenes Buch
in: [muskon103]


1 Die Beschränkung auf des jeweils erste Auftreten einer Entsprechungsstelle ist rein technisch durchaus notwendig, kann aber zu dem falschen Eindruck führen, die Beziehungen endeten definitiv mit Mahlers Siebenter Sinfonie. Das Gegenteil ist der Fall: die einmal begonnenen Entwicklungslinien ziehen sich alle durch das gesamte Lebenswerk, bis hin zu den letzten, bis in die unvollendeten Skizzen!

2 Kreysing und Litterscheid schreiben von einer terzlosen Quinte, aber in meiner Ausgabe haben die hohen Hörner ein e-eins.

3 Grad heute, 11. Sept. 2012, erscheint allerdings die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile "ARD entsorgt tagesschau-Melodie", was den Verfasser bewog, ausnahmsweise mal ein Exemplar zu erwerben!

4 Das unsägliche Triangel, zett-bee, was heute kein Dirigent sich traut einfach zu streichen. Vielleicht hat der Kompositionslehrer (Franz Krenn) gemeint "Da muss a bisserl Schlagwerk rein, nehm'S doch a Triangel!" und Rott, wutentbrannt, für sich: "Na, wenn der das braucht, dann soll er's kriegen!"


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