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^inh 2010121500 | monograph |
Vor geraumer Zeit, kurz nach seinem Erscheinen, las ich das sehr empfehlenswerte Buch von Dieter Hildebrandt Die Neunte, Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolges.([hildebrandtNeunte])
Diese Monographie beschäftigt sich ausgreifend aber konzentiert mit der Enstehung, dem zeitgeschichtlichen und ästhetischen Bezugsrahmen und den Intentionen des Schillerschen Gedichtes und der Beethovenschen Vertonung in seiner Neunten Sinfonie, und hauptsächlich mit deren Aufführungs-, Rezeptions- und Instrumentalisierungsgeschichte.
An dem ganzen sehr lesenwerten, ernstzunehmenden und doch unterhaltsamen Text fielen mir damals nur drei doch hinterfragenswerte Kleinigkeiten auf, die ich dem geschätzten Autor sofort brieflich vortrug, die aber vielleicht auch das größere Publikum interessieren mögen und also hier (korrigiert und erweitert) mitgeteilt werden mögen:
((
NB: Der bibliographische Eintrag zur besprochenen Monographie selbst
befindet sich bei den "wichtigen Büchern" in der
Gesamtbibliographie, die für die dort zitierten
Werke aber in der "lokalen Bibliographie" am Ende dieser Seite!
))
Auf Seite 188 wird berichtet daß sogar der angeblich so kühne Neuerer Berlioz (zitiert nach [berlioz] ) sich mokiert über ...
"das entsetzliche Tönegemisch F, A, Cis, E, G, B, D.",
...in der dritten der sog. "Schreckensfanfaren", und
"...nach einem Grund für diesen Einfall habe ich vielfach gesucht und muß eingestehen, daß er mir unbekannt geblieben ist."
Betrachten wir die kritisierten Klang in seinem Zusammenhang. Es gibt insgesamt drei (von Wagner so getauften) "Schreckens-Fanfaren": Deren erste beiden markieren den Anfang der ersten, rein instrumentalen Exposition:
Danach beginnt als "zweite Exposition" eine freie, gekürzte Wiederholung, welche nun die Singstimme als Hauptinstrument einsetzt. Ihr Anfang wird markiert durch die plötzlich in den Jubel des gesteigerten Freude-Themas hereinbrechende dritte Schreckensfanfare:
Zwar sind diese Fanfaren als Ausdruck von Entsetzen, Ablehnung, Katastrophe auf maximale Dissonanz hin entworfen, aber weder ihre Faktur, noch die möglichen harmonischen Interpretationen verlassen das für die Zeit Übliche. Der Komponist hält sich sogar, was Enharmonik und Aufspaltung des tonalen Bezugssystems angeht, viel weiter zurück als in anderen Werken derselben Schaffensperiode, z.B. als in den letzten Klaviersonaten mit ihren medianten und enharmonischen Entrückungen.
Die Substanz der drei Fanfaren lautet, wenn man Oktav-Verdoppelungen sinnvoll herauskürzt, etwa so:
Die erste Fanfare besteht aus einer Brechung des Tonika-Klanges der Haupttonart, also dem d-moll-Dreiklang, mit einem Halbschluss. Dieser wird erreicht durch eine in Vierteln ablaufende Akkordfolge die man beschreiben könnte als ...
Takt 1 6 7 Töne d+f+a e+gis+b+d b+d+f a+d+f h+g+d 7 6 5- 4 d-moll t ?? DD ?? D 9 7 5+ F-Dur DD D/ S |
Derartige Interpretationen sind allerdings eher geeignet zu verdeutlichen, dass in den letzten Takten der Fanfare eindeutige funktionale Beziehungen bewußt vermieden werden sollen! Im Vordergrund der Wahrnehmung steht der hämmernde Gesamtgestus, aus dem sich die die chromatische Linie f-fis-g-gis-(..)-a als Mittel der Intensivierung herauswringt, und der typische, gleichsam "zitierte", historisierende Rezitativ-Schluß.
Geschärft wird dieser allererste Einsatz des vierten Satzes allerdings durch das "unmotiviert" hinzutretende "b" in den Holzbläsern, was sich am a des Hornes aufs schmerzlichste reibt: Dieser Ton "b" wird wie ein "normaler" Sext-Vorhalt behandelt, also zum "a" hin aufgelöst, tritt aber gleichzeitig mit seinem Auflösungs-Ton ein. Vollständige Verweigerung der Konvention!
In einer dann wieder ganz klassischen Disposition
bildet die zweite Fanfare den entsprechenden
Nachsatz, und entfaltet als Klang die "Dominante zur Subdominanten",
also den Klang der Tonika "d" in einer "dominatisierten" Form, als
kleinen Sept-Non-Akkord.
Hier entspricht dem "b" klanglich das "es". Jenes rieb sich am Quint-Ton des
Klanges, dieses am Grundton, welcher hier nur als ein "Fast-Ton" in der Pauke
präsent bleibt.
In den wirklich ton-haften Instrumenten klingt also nur der
"DV", der verkürzte Dominantseptnonakkord fis-a-c-es, ein sog. "verminderter
Septakkord", der etwas sehr normales ist seit den Tagen des Alten Bach und
schon fuffzich Jahre früher!
Im Vergleich zur Fanfare-eins ist hier also eine gewisse "Domestizierung" eingetreten, das ganze ist weniger wild, konventioneller, weniger sperrig.
Dann beginnt das Wechselspiel der Rezitative und Zitate, s.o., welches in die Exposition und die ersten rein instrumentalen Variationen des "Freude-Themas" mündet. Auf dem jubelnden Höhepunkt dieser Steigerung bricht dann schlagartig der Schrecken des Anfangs wieder ein.
Hier nun, in Fanfare drei, erklingt zu Beginn (Auftakt zu Takt 209) tatsächlich das von Berlioz monierte "entsetzliche Tönegemisch". Aber was geschieht hier wirklich?
Das gleichzeitige Erklingen von Bestandteilen des Dominant- und des Tonika-Klanges ist prinzipiell auch nichts Neuartiges oder Ungewöhnliches. Als Durchgangsereignis motiviert ist es gar trivial. Jedoch so herausgehoben und explizit wie hier ist es, in seiner Vordergrundgestalt, natürlich schon etwas Eigenartiges, Exzeptionelles. Aber dennoch ist es durchaus vorbereitet! In Takt 188, auf dem Höhepunkt der jubilierenden Steigerung, welche ja den maximalen Kontrast zu dieser Panikattacke bilden soll, findet sich die allen Lesern wahrscheinlich sehr gut im Ohre haftende Stelle ...
(Sie haftet deshalb so gut, weil sie den ganzen Impetus der letzten Variation auf aller-organischste Weise in die Trivialität eines Fankurvengesanges verdichtet!)
Diese Wendung ist aber ebenfalls nichts anderes als eine Form der gleichzeitigen Dominant- und Tonika-Klänge (beim Zeichen "*", erst bezogen auf D-Dur, dann auf G-Dur). Während hier die klangliche Dichotomie zur höchsten Steigerung von Leuchten und Glitzern eingesetzt wird, dient das (prinzipiell!) selbe Phänomen gut 18 Takte später zum Ausdruck tiefster Depression und äussersten Überdrusses!
"Welch Wunder der Synthese!"
Diesem Höhepunkt der ersten, rein instrumentalen Variationefolge entspricht dann formal der Höhepunkt, der mit der dritten vokalen Strophe erreicht wird, jenes oben bereits erwähnte "und der Cherub steht vor Gott."
Sehr interessant sind nun zwei von Hildebrandt auf Seite 142 seines Buches gebrachte und auf diese Stelle bezogene Zitate :
Der Musikkritiker F.F. Weber erläutert die musikalische Spannung: "Die Worte 'vor Gott' klingen das vorletzte Mal im A-Dur-Dreiklange, das letzte Mal im Dreiklange über F; dieser immer außerordentliche Fortschritt enthält vollständig die veränderte Schattierung, in der die Worte enden, es vermischt sich in ihm erhöhte Kraft, Feierlichkeit und Ernst."
Und weiter zitiert der Autor einen Herrn Heinrich Porges über die berühmte Aufführung unter Wagner 1872 in Bayreuth:
"Von der erschütterndsten Wirkung aber, so daß man glaubte, es werden die Fugen des Weltalls gesprengt ..., war das Eintreten des F-Dur-Dreiklanges bei der Stelle: 'Und der Cherub steht vor Gott' (...) Diese Fermate ließ W. ungeheuer lang aushalten und man empfand dabei nicht nur kein Nachlassen der Tonstärke, sondern diese schien vielmehr bis zum letzten Augenblicke das Absetzens noch fortwährend im Wachstum begriffen zu sein."
Hildebrandt gibt als Quellen an: nach [eichhorn], S. 277 f, und [porges].
Das Interessante an beiden Zitaten, die ja wohl von damals angesehenen Musikexperten stammen, denen auch die Partitur der Neunten sehrwohl zugänglich war, ist der gemeinsame Irrtum. Es gibt nämlich gar keinen F-Dur-Dreiklang an dieser Stelle! Und wenn einer gehört wird, so wird er zumindest nicht gespielt !
Diese bedeutende und zentrale Stelle heißt vielmehr (unter Weglassung der Orchesterfigurationen in den Anfangstakten) so:
Zur Textausdeutung greift der Komponist zunächsteinmal zu einem Arrangement des Textes:
"Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott."
heißt es bei Schiller.
Bei Beethoven wird daraus:
"Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.
Und der Cherub steht vor Gott.
Steht vor Gott.
vor Gott.
vor | Gott."
Dieses Wiederholungsarrangement ist selbstverständlich zunächsteinmal nichts Ungewöhnliches. Hier ist es zusätzlich dadurch vermittelt, dass alle vorangehenden Strophen/Variationen (die rein instrumentalen wie die vokalen) die letzten beiden Zeilen eh' stereotyp wiederholten. Diese Wiederholung wird nun weitergeführt, und in eine Verkürzung, Überhitzung, Kondensierung gesteigert.
Die letzte Zeile müßte, den Verkürzungsprozess systematisch weiterführend, eigentlich nur noch aus dem einzigen Wort "Gott" bestehen.
Der Begriff "Gott" wird hier aufgefasst als eine sich in der menschlichen Geistesgeschichte zunehmend etablierende Abstraktion, entspringend dem Bild von Naturgottheiten über Stammesgottheiten und eine allgemeinen Monotheismus, über das "höhere Wesen" der französischen Revolution bis hin zum "Ideal" Kants und zum "Weltgeist" Hegels.
Dieser Abstraktionsprozess hat zur Folge, dass von den Attributen "Gottes" zuletzt nur die Unfassbarkeit, das Staunen und die Unbegründetheit übrigblieben. Genau dieser Abstraktionsprozess und sein historisches Ende werden hier von der Musik nachgebildet!
Die Abspaltung des Wortes "Gott", die Herauslösung aus dem Satzkontext, die Unmöglichkeit, von einem "Stehen vor..." zu reden, überhaupt von irgendetwas zu reden, wird hier vollzogen durch die harmonische Rückung von A-Dur in den isolierten, inkommensurablen Klang a+f.
Zunächst aber wird der Wiederholungs-Prozess auch durch die Harmonisierung als Abstraktionsprozess verdeutlicht:
Diese ganze Stelle wird fast "wörtlich" vorweggenommen im langsamen Satz. Dort erklingt zweimal eine "exzeptionelle Fanfare", in Takt 121 und in Takt 131, die beim zweiten Mal genau dieselbe harmonische Rückung (/Ausweichung/Trugschluss) bringt wie das "vor Gott", ebenfalls mit vorangehender, gleichartiger Ausdünnung:
Hier steht als letzter Klang, als Materialisierung der "tP", der Parallelen der moll-tonika tatsächlich der vollständige Dreiklang.
Nicht aber auf dem Wort "Gott" !
Tatsächlich existiert der "F-Dur-Akkord", von dem in beiden obigen Zitaten die Rede ist, im Notentext überhauptnicht. Auf das Wort "Gott" erklingt nur der ZWEI-Klang f+a.
Sollte beide Rezensenten in ihrer Erinnerung diese Stellen verwechselt haben? Oder sollte der Dritte Satz im letzten unterbewußt nachgewirkt haben? (Das wäre wahrlich "Fernhören", wenn auch nur bezogen auf die Vordergundgestalt!)
Für diese Stelle ist eben die Unvollständigkeit des Dreiklanges konsitutiv! Was hier klingt kann nämlich nicht nur ein F-Dur sein, (das allemal Naheliegendste!), es kann aber auch sein d-moll, oder vielleicht sogar beides gleichzeitig !? Die "kosmische Wirkung" dieser Stelle beruht nicht zuletzt auf dieser dialektischen Gespaltenheit.
d-moll nämlich ist ja die Ausgangstonika das gesamten Werkes, die Tonart der allerersten Kadenz aus dem allerersten Satz, die Tonart von Takt 18!
"Gott" wäre somit nicht als End-Punkt sondern als Ur-Grund dargestellt,
durch Zurückgreifen auf die allererste thematische Bildung, auf die
der gesamte Bau der Sinfonie sich abstützt.
Und damit auf die reine Vernunft in ihrem vor-bewußten ersten Wallen, auf das
Regen des menschlichen Geistes, noch ehe das musikalische Motiv das Licht seiner
bewußten Benennung erleiden mußte.
Den Klang f+a als d-moll zu hören ist das einzige, was ohne Bruch von Tonalität möglich ist: Das zuvor mühsam (oder auch: recht gewaltsam) erreichte A-Dur, das durch die Pracht der Instrumentation fast als Hochschieben der Tonika um eine Quinte, (also als Modulation in eine wirkliche Tonart A-Dur) scheinen könnte, wird dann doch entlarvt als einfache Dominate nach d-moll. Bei dieser Interpretation gibt es keine Mediantbeziehung, nur schlichteste Diatonie.
Gehört werden kann aber auch ein F-Dur, also die Dominate des dritten Satzes, der ja diese Wendung zum alleresten Mal brachte. Tatsächlich wird (a) im weiteren Verlauf, schon im allernächsten Takt, dies F-Dur als Dominante zum B-Dur der vierten Vokalstrophe "Froh wie seine Sonnen fliegen" interpretiert, und (b) lassen "natürlich" die Instrumentalklänge mit ihrer immanenten, naturgegebenen Obertonreihe hier einen F-Dur-Dreiklang erklingen, ohne dass dieser notiert sein muss, die Sinus-Töne "c" in allen möglichen Oktavlagen sind selbstverständlich Bestandteil des gesungenen oder geblasenen "f".
Dem Autor dieser Zeilen (seine Ohren als heutige durchaus an Mediantbeziehungen gewöhnt!) geht es persönlich so, daß er zuerst meint, F-Dur zu hören, was sich aber nach wenigen Sekunden (oder deren Bruchteilen) auf das d-moll des Ur-Anfanges verschiebt.
Als Schnittpunkt der Gesamtarchitektur und durch ihre mehrfach vermittelte Semantik ist diese Stelle gewiß eine der intensivst wirkenden des Werkes, ein Moment wahrhaft kosmischer Bedeutung, wie beide angeführten Rezensenten durchaus richtig erfassten.
Auf Seite 341 wird dann zitiert als ein Gedanke von Riezler, daß die fallend Quinte a-d am allerletzen Ende des Gesamtwerkes "die Antwort auf die Quart d-a" des Anfangsthemas der ersten Satzes sei.
Dieser Gedanke findet sich allerdings auch in Schenkers großer Monographie, [schenkerNeunte], und zwar als ihr krönender Abschluß. Er nennt es sogar ein Beispiel für "das ewige Gesetz der Fuge". 1
Da das einzige von Hildebrandt als Quelle angegebene Werk von
Riezler die Jahresangabe "1936" trägt [riezler], vermute ich, daß
dem großen jüdischen Deutsch-Nationalisten die Priorität gebührt.
Möge sie ihm in einer Neuauflage auch zugesprochen werden.
Und ein bibliographischer Eintrag für ihn wäre auch ganz nett!
Ansonsten aber ist [hildebrandtNeunte] eine durchaus empfehlenswerte und lohnende Lektüre.
[berlioz]
Musikalische Schriften unbekannter Verleger, Leipzig, 1912 |
[eichhorn]
Die neunte Sinfonie ??, Kassel, 1993 |
[porges]
Die Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie unter Richard Wagner in Bayreuth ??, Leipzig, 1872 |
[riezler]
Beethoven ??, Berlin/Zürich, 1936 |
1 Da dieser Schluß soviel wahrhaft Wahres und Schönes enthält, sei er zu der gerade in Zeiten des Regimentes der Obeflächlichkeit so dringend nötigen Erbauung des Lesers hier in Gänze mitgeteilt:
"Des Künstlers Werk ist zu Ende; unbegrenzt aber die Wirkung, die es auslöst! Zum letzten Mal ist der Refrain verklungen, der Jubel aber zieht unendliche Kreise in den Herzen der Zuhörer [sic!, cf. ston2010100201und senza-tempo Nr. 1!], in den Lüften, und verliert sich in der Unendlichkeit, wie der Mensch selbst im Schöpfer!
Will man aber wissen, wer der Künstler war, der einen solchen Jubel in die Welt hinaussenden konnte, so mag man vor allem den Dämon der Energie preisen, der ihn beherrscht hat! Eben dieser hieß ihn das Werk, dessen erstes Motiv mit der Quart begann, mit deren Umkehrung, d. i. der Quint, schließen: (Fig. 448.)
Es ist, als wäre das ewige Gesetz der Fuge in den Adern Beethovens plötzlich lebendig geworden und nun konnte er nicht anders, als mit einer Quint gleichsam die Frage der Quart beantworten!"
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