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^inh 2010100201 | phaenomen |
Wenn auch das "Überdauern des Schlußstriches" im Werke J.S. Baches selten so explizit komponiert wird, wie für die cis-moll-Fuge/WKI nachweisbar (siehe senza tempo 1.1), so ist es doch fast allen Sätzen Bachs immanent durch die gewöhnlich anzutreffende metrische Gliederung im Verhältnis des Goldenen Schnittes (im folgenden kurz "GS").
Auch dort, wo andere Proportionen die konstitutive, hauptsächlich wirksame und wahrnehmbare Gliederung bilden, wird sich auf sekundärer oder tertiärer Ebene stets der GS nachweisen lassen.
Der GS ist bekanntlich die Teilung einer gegebenen Größe in zwei, so, daß der größere Teil zum kleineren sich verhält wie das Ganze zum größeren .
Setzen wir , so erhalten wir als den "Vergrößerungssfaktor" des GS, welchen wir im folgenden nennen, durch die Gleichungen
Diese irrationale Zahl ist die gesuchte Proportion.
Nennen wir das gegebene Ganze , so ergibt sich eine einfache geometrische Konstruktion seiner Teilung durch den Ansatz ...
was eine schöne "rückwärtsgerichtete" Anwendung des berühmten
"Satzes des Pythagoras" erlaubt:
Eine zweite, direkt aus dieser Abbildung folgende Konstruktionmethode ist diese:
Oder etwas einfacher: Man mache einen Knoten in ein flaches Papierband:
Da nun das Verhältnis des größeren Teiles
zum kleineren Teil (laut Definition!)
dem des Ganzen zum größeren entspricht,
also eben auch ist, so können wir den größeren Teil seinerseits zusammengesetzt
aus dem kleineren und einem Rest betrachten.
Was eben "Innenverhältnis" war, ist nun Außenverhältnis .
Auch dies "neue" Außenverhältnis entspricht der Proportion :
Lt. Definition des GS. gilt dies nun auch für das neue Innenverhältnis.
Wir falten die Proportion quasi nach innen:
Punktrechnung und Strichrechnung fallen beim GS. zusammen:
Eine ganzzahlige Annäherung des GS bietet die FIBONACCI-Folge) bei der jede Zahl die Summe ihrer beiden Vorgänger ist :
1 2 1 + 2 = 3 2 + 3 = 5 3 + 5 = 8 5 + 8 = 13 8 + 13 = 21 ... 34 55 89 144 233 etc. |
Die Verhältnisse zweier Glieder dieser unendlichen Folge nähern sich dem GS
zunehmend an.
Z.B. ist 233 / 144 = 1.6180556~ß.
Die Fibonacci-Folge spielt in der Musik von jeher, in allen Stilen und Epochen,
eine große Rolle.
Man betrachte z.B. folgende Tonhöhenstrukturen.
Deren erste, die sog. "ballistische Kurve" beschreibt interessanterweise
zwei verschiedene Dominantseptakkorde, G7 und (man lese h als ces) Des7:
Seite und Diagonale des regelmässigen Fünfecks verhalten sich zueinander im Goldenen Schnitt.
Der Beweis dieses Satzes ist eine interessante Demonstration "geometrischer Evidenz"; seine Anwendung ermöglicht eine anschauliche Darstellung der Irrationalität des GS-Faktors ß.
Nehmen wir ein Fünfeck (Pentagon), einen darin eingeschriebenen Fünfstern (Pentagramm),
und das sich in dessem Inneren ergebende kleinere Fünfeck:
Aus der Symmetrie des regelmäßigen Fünfecks folgt anschaulicherweise die
Parallelität von Seite und gegenüberliegender Diagonale. Denn beide
schneiden die Symmetrieachse im rechten Winkel, sind also parallel.
Daraus folgt auch die Parallelität der entsprechenden Diagonalen von äußerem und
innerem Fünfecks.
Aus dieser Eigenschaft folgt ein Parallelogramm, das zeigt,
daß die "Zackenlänge" des Pentagramms der Diagonale des inneren Pentagons gleich ist.
().
Aus der Anwendung des Zweiten Strahlensatzes
(siehe Anhang)
folgt aus der nächsten Zeichnung unmittelbar
d/s = (d+s) / d
q.e.d. !
"Irrational" ist das Verhältnis zweier Größen, die kein
"gemeinsames Maß" haben.
Das seit ca. 400 vor Chr. belegte Verfahren zum Auffinden
des gemeinsamen Maßes ist die "Wechselwegnahme", welche
(vereinfacht!) so funktioniert:
Man ziehe von der größeren die kleinere ab und betrachte
die kleinere und den entstehenden Rest.
Sind diese beiden Größen gleich, so entsprechen
diese dem gesuchten gemeinsamen Maß der Ausgangsgrößen.
Bei Ungleichheit ziehe man wiederum die nun kleinere von der nun größeren ab
und setze das Verfahren bis zum Erfolge fort.
Nimmt man nun aber von der großen Diagonale D (siehe folgendes Bild) die große Seite S weg, so erhält man die Zackenlänge d. Nimmt man diese wiederum von der Seite weg (S-d), so erhält man die Seite des kleinen Fünfecks (s).
Nach zwei Schritten der Wechselwegnahme sind wir also bei zwei Größen angekommen (Zackenlänge=Diagonale des kleinen Fünfecks=d, und Seite des kleinen Fünfecks=s), die (natürlich verkleinert) in genau demselben Verhältnis stehen wie die Ausgangsgrößen (d/s = D/S) !
Niemals bei beliebig häufiger Fortsetzung werden wir deshalb zwei gleiche Größen und damit ein gemeinsames Maß finden, der GS ist also irrational!
q.e.d. !
Obwohl auch Kreis und Quadrat irrationale, "nicht-aufschreibbare", "über-zählbare" Proportionen beinhalten, ist gerade das Pentagramm oft abergläubischerweise mit dem Zauberkräftigen und Bösen identifiziert worden.
Kulturdruck und Triebangst haben das Grenzenlose mit dem Bösen identifiziert.
Das Pentagramm nun zeichnet sich Kreis und Quadrat gegenüber dadurch aus, daß, hat man das Irrationale einmal erkannt, es einen bei jeder Betrachtung erneut förmlich anspringt.
Setzen wir ausgehend von einer Größe "e" das Verkleinern im Verhältnis des GS.
(also das Abziehen des Kleineren vom Größeren) immer weiter fort, so erhalten
wir eine unendliche geometrische (exponentielle) Folge,
welche beliebig klein werden kann.
Die durch den Ursprung gehende Grade in der nächsten Zeichnung
repräsentiert die Funktion y=(l/ß)x.
Die zu den Achsen parallelen Katheten aller Dreiecke, deren Hypothenuse
auf dieser Geraden liegen, stehen also im Verhältnis des GS.
Gehen wir nun aus von unserem "e", so finden wir mittels eines solchen Dreiecks
den Wert (l/ß)*e. Mit Hilfe einer zweiten Geraden (y = x-e)
klappen wir diese Strecke zurück in die Horizontale und suchen wiederum
den G.S., also (1/ß)*(1/ß)*e.
Wiederholen wir dies unendlich oft, so erreichen wir den Schnittpunkt beider Geraden, welcher also die Summe unserer unendlichen Folge von kleiner werdenden Werten darstellt.
Da auch das gestrichelte "Summendreieck" dem G:S.folgen muß, sehen wir:
Die Summe aller Verkleinerungen von e im G.S.-Verhältnis ist gleich der
Vergrößerung im G.S.-Verhältnis!
Dasselbe ergebnis gibt sich auch durch die algebraische Formel für die Summe von geometrischen Reihen, wenn der Faktor kleiner als eins ist:
Bedeutung hat die Verwendung des GS im Werke Bachs (und anderer!) zunächst einmal auf der Ebene des Materials, dann aber auch im Gehalt:
Im Material bedeutet das irrationale Verhältnis des GS
zunächst ein dringend benötigtes Gegengewicht zu der auf der
Additions (und Division) kleiner ganzer Zahlen beruhenden Gestaltung auf
rhythmischer und metrischer Ebene.
Zwar können irrationale Verhältnisse im rationalen System musikalischer
Metrik immer nur annäherungsweise repräsentiert werden, sie
verweisen aber auf eine Regeldefinition, die ihrem Wesen nach
auf Irrationalität beruht
(natürlich nur im mathematischen Wortgebrauch!) und damit das
Mechanisch-Abzählbare transzendiert zum organisch-Wuchernden.
Dies ist in gewisser Weise auch eine Parallele zu den verschiedenen Stimmungssystemen, die Bach ja durchaus voraussetzte, und die endlich bis zur "12ten Wurzel aus 2" sich differenzierten.
Für den trans-musikalischen Gehalt müssen wir etwas weiter ausholen:
Einer Bach'schen Fuge wie jedem anderen Werk, welches im Verhältnis des
GS. in zwei Teile (A+B) gegliedert ist, wobei A der längere,
ist das "Mitkomponieren der Nachzeit"
allemal immanent:
Das Nachschwingen im Hörer induziert nämlich (kann induzieren) eine unendliche
Welle von immer kürzer werdenden Dauernempfindungen. Diese nähern sich einer
(zugleich konkreten wie imaginären) Grenze zunehmend an, ohne sie je zu
erreichen.
Die Gesamtdauer dieser sich verkleinernden Welle wiederum entspricht (nach dem oben zur Summe des Grenzwertes Gesagtem, und wie sichtbar in folgender Zeichnung) der des ersten Formteils (A), so daß (quasi aus dem Rücklauf der Proportionen) eine zweite unendliche Welle entsteht, - diese sich im GS. vergrößernd bis in alle Ewigkeit.
Die zuvörderst erkennbare Bedeutung ist eine rein naturphilosophische:
Das in dieser Interpretation aufscheinende Weltbild ist das eines
"allüberall verknüpften Kosmos" .
Ein Musikstück ist ein Stein, den ich in den Teich der Welt werfe;
die Wellen, die er verursacht, mögen sich bis Unkenntlichkeit stetig
verkleinern, - aufhören werden sie nie.
Keine Tat ist reversibel; wenn sie auch (auf
der Ebene der Modellbildung) nicht mehr "Ursache" sein kann,
so ist sie doch dem "Ding" zugefügt und damit auf ewig eigen.
Noch weitergehend könnte man die sich exponentiell verkürzenden Dauernfolgen
als eine Veranschaulichung ("Veranhörlichung") des ewigen Lebens auffassen:
Die wirk-liche Zeit des Individuums (t_Ich) koppelt sich
im Vorgang des Sterbens ab von der Zeit der anderen (t_Welt),
um in ihre eigene Ewigkeit einzugehen. Die Asymptote
meiner eigenen Zeit ist das, was von außen betrachtet scheinbar der Tod ("Hirntod" ?)
ist.
Der zurückbleibenden Welt aber bleibt die Aufgabe, in immer größeren Schritten
ihrem eschatologischen Ziel zuzustreben.
Seien d, e, und f Geraden, die durch einen gemeinsamen Punkt P gehen,
und g und h zueinander parallele Geraden, die beide diese Geraden schneiden.
So gelten für die verschiedenen entstehenden Abschnitte (k bis r) verschiedene
Verhältnisgleichungen.
Die drei Strahlensätze und ihre Anwendung auf diese Zeichnung lauten:
"Erster Strahlensatz" :
Die Abschnitte auf den Strahlen stehen in gleichem Verhältnis:
k/l = m/n, also auch k/m = l/n
"Zweiter Strahlensatz"
Die Abschnitte auf den Parallelen verhalten sich wie die auf den Strahlen:
o/q = k/l, also auch o/k = q/l
"Dritter Strahlensatz"
Die Abschnitte auf den Parallelen verhalten sich gleich
o/p = q/r, also auch o/q = p/r
Das klingt nach dröger Mittelstufengeometrie. Tatsächlich aber sind es nur allgemeine Formulierungen alltäglicher Schlußfolgerungen, die unserer Vernunft als unbedingt notwendig sofort einleuchten. Mehr noch, sie werden von unserem Verstand (beides entnommen der Schopenhauerschen Sprachregelung) täglich dutzendfach angewandt, ohne daß wirs unbedingt merken.
Und nicht nur von uns! Schon der Verstand des Tieres weiß, daß ein ferner Feind zwar klein aussieht, aber gefährlich schnell näher kommen kann und dabei größer wird, und das eine ferne Beute nicht weniger nahrhaft ist, nur weil sie kleiner aussieht!
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