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^inh 2017111100 | weiteres |
Letztens verbrachte Verfasser einige Zeit in Bochum-Dahlhausen: Er hütete die dortige Wohnung und den Kater von Freunden und nutzte derweil das Computersystem seines Studienkollegen zur Realisierung eines Werkes.
Beim Spazierengehen begegnete ihm folgendes:
Allerorten entlang dem Fluss sind, im Sinne des kürzlich aufgekommenen Post-Industrie-Tourismus',
lobenswerte ausführliche neue Info-Tafeln aufgestellt. Überdies wurde die
Fabrik von "Dr. C. Otto", seit ca. 1880 weltweit führend bei der
Herstellung hoch feuerfester Materialien und dem Bau ganzer Kokereien,
kürzlich aufgenommen in das Programm der entsprechenden "Route Industriekultur".
Laut Info-Tafel entdeckte der Gründer hier ein spezielles Sandsteinvorkommen, das als
Ausgangsmaterial für seine chemischen Prozesse besonders gut geeignet war.
Am Fahrrad- und Spazierweg gegenüber sind folglich, im Zuge eines gerade neu
geschaffenen kleinen Parkes, vier bis fünf einzelne Sandsteinblöcke von Kleinkind-
bis Kalb-Größe im Abstand von vier bis fünf Metern illustrierend und malerisch aufgestellt.
Sie stehen je auf ihrer eigenen gepflasterten Fläche. Deren innerster Steinkranz
schreibt nochmals nach den Verlauf ihres Querschnittes und verdeutlicht dadurch unmissverständlich
ihre bewußte Auswahl und Aufstellung nach ästhetischen Kriterien.
In der Tat kann man alle Exemplare als "schön" oder zumindest "interessant" erkennen,
ist man erstmal darauf hingewiesen: Bei diesem ein versteinerter Baumstamm, bei jenem ein
seltenes Orange, dazwischen prismatische Flächenwinkel wie auf der
Melencolia Eins
.
Es ist die Tatsache der Sockelung, die unseren Blick erst dahin lenkt.
Zurück gen Dorfmitte begrenzt den neuen Park eine gut meterhohe Stützmauer, aufgetürmt aus eben den gleichen Blöcken. Auch die sehen wir nun anders! Das vereinzelte Herausstellen der wenigen verändert unsere Wahrnehmung der vielen: Wo wir sonst achtlos vorbeigegangen wären suchen wir nun auch nach Winkeln, Bäumen und Farben. Und das nicht völlig vergeblich: Schönheit ist, wenn man nur will, überall zu finden, auch im unbehauensten Felsen.
Das geradezu Komplementäre geschah Verfassern nun im Hause seiner Freunde.
Dieses ist angefüllt mit Kunstwerken: Die Bewohner schaffen selbst Graphiken und Plastiken,
wenn auch nicht im derzeitigen Hauptberuf so doch mit professioneller Ausbildung;
es hängen Originale weithin bekannter lokaler Künstler;
Reisemitbringsel aus aller Welt sind zumindest Kunst-"Hand"-Werk;
so auch die Plakate mitgewirkter Musikveranstaltungen, einzelne Erb- und Erinnerungsstücke,
und von Freunden geschenkte Fotos von Kater, Industriehallen oder Musiksessions.
Und und und.
Verfasser schätzt die Anzahl der Kunstwerke auf knapp zweihundert und fasste den Entschluss,
da er gerne alles gut unter Kontrolle hat, sie zu zählen.
Dies aber stellte sich bald nach Beginn seiner
Bemühungen als schlicht undurchführbar heraus, aus einem Grund von weitergehender
Bedeutung: Es war ihm nämlich völlig unmöglich, wie auch immer eine Trennlinie zu definieren!
Folgend der Grundeinstellung der Bewohner ist logischerweise jeder Gegenstand
neben anderen Kriterien auch nach denen seiner ästhetischen Gestaltung ausgesucht.
Das Schlüsselbrett mit den eingefrästen Notenlinien, den Garderobenständer
mit den billiardkugelförmigen Knopfaugen? Zähl ich das mit? Ist das
noch Kunst? Kunsthandwerk? Ist das Kitsch? Es ist allemal "gestaltet"! Zählt das schon?
Die wichtige Erkenntnis war: Diese Art der Kategorisierung ist inadäquat.
Klar gibt es Dinge die "eindeutig Kunst" sind, weil sie z.B. still an der Wand hängen und
keinen anderen Zweck erfüllen. Andere sind es eindeutig nicht.
Aber durch die schiere Menge und gegenseitige enge Nähe geschieht ein
Umschlag der Wahrnehmungsqualität. Einzelne Stücke mögen durchaus einen
Sockel "verdient haben", aber sie bekommen ihn nicht! Alle werden sie gleichermaßen
"ent-sockelt", und dadurch entsteht für die Wahrnehmung etwas Neues,
etwas sehr sehr Seltenes:
ein Kontinuum von Schönheit und Bewußtheit.
Unsere Wahrnehmung ändert sich und statt des einzelnen Stückes (dem sich
selbstverständlich dennoch die
Aufmerksamkeit ab und zu konzentriert zuwenden kann) wirkt auf das Unterbewußte
wie auf die betrachtende Reflexion
allemal eine Gesamtheit, die ein ganzes Spektrum von mehr oder weniger Gestaltetheit
und Kunstfertigkeit, mehr oder weniger Anspruch und Aussage abdeckt.
Die Dinge reden untereinander, kommentieren sich und dienen sich gegenseitig als Rahmen.
Da bekommen auch solche, die isoliert wohl eher
als "Kitsch" bezeichnet würden, ihre eigene Würde.
Die Ent-Sockelung erschafft ein Kontinuum, das die verschiedensten Kunstarten, -formen
und -niveaus überspannt, und in dem ein Zählen der Einzelwerke schon allein dem Begriffe nach
unmöglich wird.
Allemal ist der Aufenthalt in einem solchen Feld ein Balsam für die gehetzte Großstadtseele.
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