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^inh 2016031201 ereignis
Warum ein Fisis etwas Heiliges ist
Anmerkungen zu zwei Tönen in der h-moll-Messe

Das fisis im zweiten Kyrie der h-moll-Messe erlebt man, wie jede signifikante Stelle, jedesmal anders.
Rezensent wird nie vergessen mit welch gleissender Deutlichkeit das Schulchor und Schulorchester seiner alten Penne (in den frühen Achtzigern, als er schon Student war, im selben Dorf zwar, aber an der nächsthöheren Anstalt!-) diese Stelle (Takt 51) zu musizieren wagten. Das war gigantisch, das war das Beste, diese zwei Töne, dieses beidemalige fisis, waren vielleicht ja sogar die größte Leistung, die der verehrte Herr Georg Dücker jemals vollbrachte.

Rein musikalisch/harmonisch kann man diese Töne ja auf zwei Arten hören, entweder (a) dass "hinterum" ein Kreis geschlossen wird, oder dass (b) eine Gegen-Welt betreten wird, die der Realität zum Verwechseln ähnlich sieht, aber weitere unendliche Gegenwelten impliziert, die noch weiter entfernt sind als dieses unter äußerster Anstrengung des menschlichen Geistes gerademal Erreichbare, aber mit gleicher Sicherheit existieren.
Je, ob man enharmonisch hört oder nicht!

Das fisis nun schlägt den enharmonischen Schluß nach vorne, ins erste Kyrie, wo das "g" der espressivste Ton des Hauptthemas und überhaupt der Dominantfunktion ist, und nach hinten, das g-moll des Agnus Dei vorwegnehmend. (etwa als Klang fisis+ais+cisis ?-)

Der Trick in der Ausführung, meint Rezensent zumindest, den Herr Dücker dem Chor einbleute (er saß halt im Publikum und hat nicht mitgesungen, das wäre bestimmt schön gewesen, aber er hätte diesen Effekt hier nie erlebt!), ist halt, die gesangstechnische Spannung über beide fisis auf das gis-zwei hin zu halten. Erst da, und nicht früher, nachzulassen! Und das bei nem Chor, der mit dem vorangehenden, nackt einsetzenden ais-zwei schon überfordert ist, wie jeder Chor!

Das erste fisis genauso nach oben zu denken, wie dann das zweite, denn beide gehen im Mittelgrund, schon nach dem allerersten Schritt abstrahierender Vereinfachung, zum gis-zwei.

Der Effekt nun auf den Rezensenten war der:
Der Aufführungsraum war die evangelische Kirche zu Essen-Werden (ein Produkt von nicht allzu gemüthlichem Historismus, deren wichtigste Leistung ist, dass der Turm exakt so hoch ist wie die konkurrierende Ludgerus-Basilika, aber die Glocken dankenswerterweise ökumenisch abgestimmt!-)
Wenn auch ein Kirchenraum einmal eher rötlich, einmal eher blau beleuchtet ist, einmal eher anheimelnd-uteral, einmal eher objektiv-abstrakt, ja gnadenlos-faktisch erscheinen mag, so ist doch der Übergang von einem zum andern Zustand nur durch einen Wechsel der Beleuchtung zu erreichen, der, so schnell er auch durchgeführt würde, doch immer eine kurze Zeit dauerte, und in dieser Zeit unabweislich ein Kontinuum der vermittelnden Zwischenzustände durchlaufen würde.

Mit dem Einsatz des fisis aber war es, dass der rot-anheimelnde Zustand sofort und schnittartig durch den blau-objektiven ersetzt wurde, oder überlagert, oder der eine als eine Verkappung des anderen aufgewiesen. Das Grauen und die Objektivität waren im Moment präsent, unangekündigt, unabweisbar.

Oder wie dieser Kranz von an je zwei Kanten aneinander befestigten Tetraedern, den man so geheimnisvoll umkrepeln kann, durch sich selbst hindurchfalten. Das Dritte Fernsehprogramm (West) hatte in seinen Kindertagen so einen Pausenfilm (dazu fallende Terzen, aus denen Rezensent seine Erste Klaviersonate schnitzte !-)

So schien es ihm, als erfüllte mit dem Einsatz des fisis plötzlich ein weißes Licht die Kirche, und deren Mauern, nein, die Struktur der Welt selbst, faltete sich in sich selbst, wie dieser Kranz von Tetraedern, wie ein Moebius-Band in Drei-Dee, und er selbst, (keinesfalls mehr Drogen konsumiert habend als in jener Zeit üblich) sah sich selbst in der Kirche sitzend von außen, und gleichzeitig von innen, und mit dem Fall im Quintenzirkel fiel all diese Anspannung und diese Situation wieder zurück ins Normale. Als wäre nichts geschehen.

Das brachte ihn damals auf die Formulierung, hier würde "dem Hörer kurzzeitig die Seele herausoperiert". Er meint immernoch, dass das paßt!


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