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^inh 2013051800 | phaenomen |
Wir haben "heuer" Wagner-Jahr, und wieder erheben sich die Grundsatzdiskussionen über des Meisters Charaktereigenschaften, politischen Überzeugungen und Machinationen.
Und die alte Frage tut sich auf, wie denn nun, verflixt nochmal, sein so oft geäußertes (und musikalisch ja auch umgesetztes) Program von Liebe, Befreiung, Antikapitalismus und Weltversöhnung passe zu Chauvinismus, Antisemitismus, Ehebruch und Überheblichkeit.
UNS hingegen tut sich nur eine Frage auf, ob nämlich bei all diesen Diskussionen nicht eine Kategorie verwendet wird, die in ernstzunehmender kulturkritischer oder werkbetrachtender Diskussion überhaupt keine Relevanz haben dürfte, nämlich die Persönlichkeit des Urhebers.
So findet sich, im Reigen der unzähligen Veröffentlichungen dieses Jahres, auch die Kritik des Gottfried Wagner an seinem Urgroßvater [wag], in welcher diesem, laut Radiorezension vom 4. Mai 2013 im RBB-Inforadio durch Harald Asel, [umg], "zynische Weltanschauung [...] Rassismus, Frauenverachtung und Lebensverneinung" in maximalem Ausmaße vorgeworfen wird.
Der Radio-Rezensent hingegen fragt, ohne dem allem grundsätzlich widersprechen zu wollen, "warum gerade diese Musik bis heute die Theater und Konzertsäle füllt", und weiter, "Ist am Ende die Musik nicht doch schlauer als ihr Erfinder?"
Und spricht damit ein großes Wort gelassen aus.
Noch mehr pikiert Th. Mann über die Faksimiles der Briefe eines gewissen Beethoven:
"[...] diese hingewühlten
und -gekratzten Züge, diese verzweifelte Orthographie, diese ganze halbwilde
Unartikuliertheit --- [...]
Goethes Ablehnung des »ungebändigten Menschen« war wieder einmal
mitzufühlen [...] Hat das musikalische Genie überhaupt nichts
mit Humanität und »verbesserter Gesellschaft« zu tun?" [EDrF]
War da vielleicht jemand neidisch, dass der Ältere ganz ohne Übersetzer
von Feuerland bis Kamschatka unmittelbar Wirkung erzielt, ja
Begeisterung, während seine
»verbesserte Gesellschaft« sich auf mondäne Sanatorien beschränkt?
Die Psychonanalyse weiß doch seit einhundertundzwanzig Jahren, und Hirnforschung und Systemtheorie seit vielleicht halb dieser Zeit, dass "Persönlichkeit" allemal eine Konstruktion ist. Dass ein und dasselbe Individuum in verschiedenen sozialen Kontexten verschiedene davon konstruiert, konstruieren muss.
Eine "Einheit der Person" ist allemal etwas Konstruiertes, ist eine Behauptung im Rahmen der Reflexion, und kein Agens des Dinges selber.
Besteht doch z.B. die Heilwirkung der "Anonymen Alkoholiker" laut der Theorie Batesons [bsAlk] gerade darin, eine "Re-Definition der Persönlichkeit" vorzunehmen, die (ganz entgegen dem Klange dieses Ausdruckes, der an "Gehirnwäsche" und "Umerziehungslager" gemahnt !-) mit minimaler Verschiebung der Grenze zwischen "Ich" und "Nicht-Ich" letztendlich völlig schmerzfrei möglich ist.
So auch Dahlhaus in seinem (auch in anderer Hinsicht sehr empfohlenen) Beitrag zu Anton Bruckner, Studien zu Werk und Wirkung [bru], über den "direkteren" Weg, auf dem Schopenhauers Modell von Musik in Bruckners Werk wirkmächtig werden konnte:
Ob jedoch ein musikalisches Oeuvre an der ideengeschichtlichen Substanz
einer Epoche teilhat, ist von dem Ausmaß, in dem der Komponist sich
bewußt die fundamentalen Gedanken des Zeitalters zu eigen macht, durchaus nicht
abhängig.
Nicht, was Bruckner las oder nicht las, ist entscheidend, sondern wie er die
Musik Wagerns, in der Schopenhauers Metaphysik tönende Gestalt angenommen hatte,
rezipierte und dem Denken "in" Musik -- nicht "über" Musik -- zugrundelegte.
In einem extremen Gegenmodell zu dem Begriffe der "Persönlichkeit"
des Künstlers würde man sagen, dass es in dessen Gehirn halt die einen
Zellbereiche gäbe, die sich mit der Produktion von Kontrapunkt und
harmonischer Fortschreitung befassen, --- die darauf getrimmt sind, kompositorische
Probleme zu lösen. Und dann aber auch
ganz andere Hirnbereiche, wo aufgrund frühkindlicher Zurücksetzungen
der Antisemitismus haust.
"Persönlichkeit" ist nichts als eine Klammer dieser fast völlig unrelierten
Zellklumpen, wie sie im täglichen Umgang, da dieses Hirn halt in ein und
demselben Schädel sitzt, als Konstruktion halt notwendig und zweckmäßig
ist.
Wir wollen dieser Extremposition keinesfalls das Wort reden. Es könnte aber sein, dass sie der Wahrheit näher kommt als die herkömmliche, aus der Vulgärtheorie übernommene, wo "Persönlichkeit" als wirkende Realität angesehen wird, statt als Konstruktion der betrachtenden Meta-Ebene, der Modellbildung.
Ja, man könnte (und sollte) noch weiter gehen!
Wenn bestimmte Hirn-Areale, Zellverbände, Neuronen-Geflechte darauf trainiert sind,
Musik zu verarbeiten, also zu rezipieren, in Beziehung zu setzen, zu produzieren,
dann können diese Bereiche angesehen werden
als "Fleisch gewordene Modelle einer Musik-an-sich", völlig unabhängig vom
Rest des Gehirnes, geschweige denn einer imaginären "Persönlichkeit".
Selbstverständlich gäbe es dann die verschiedensten dieser "Modelle", je Hirn
eines, sie wären weder direkt kommensurabel noch direkt kommunikabel.
Aber das dem so ist wird wohl niemand bestreiten wollen.
Dann wäre der Komponist (ähnlich wie Hörer und Interpret) tatsächlich
nur Antenne, und etwas von "ihm" Unabhängiges, was man
"die Musik selbst" oder den "Tonwillen" nennen könnte, würde die
Verbindungen dieser Neuronen knüpfen, gewichten und auflösen,
die "Musik an sich", als interpersonales, kulturelles UND transzendentales
Wirkendes würde sich in ihm direkt manifestieren.
Die "Persönlichkeit", also die restlichen Zellklumpen, hätten
dann nur die Aufgabe, möglichst wenig zu stören!
[umg]
Umgeschichtet, Nr 328 info radio vom rbb, berlin, 4.5.2013 http://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/umgeschichtet/201305/188142.html |
[wag]
Du sollst keine Götter haben neben mir. Richard Wagner - ein Minenfeld Propyläen, Berlin, 2013 ISBN 9783549074411 |
[bru]
Anton Bruckner Studien zu Werk und Wirkung Christoph-Hellmut Mahling(Hrsg.) Hans Schneider, Tutzing, 1988 ISBN 3 7952 0525 5 |
[bsAlk]
Die Kybernetik des "Selbst": Eine Theorie des Alkoholismus Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1981 ISBN 3 518 28171 2 |
[EDrF]
Die Entstehung des Doktor Faustus S. Fischer, Frankfurt, 1960 |
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