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2013040300 | Tritt der Papst im Tannhäuser auf? |
Eine kurze erzähltheoretische Erwiderung | |
2013040301 | Wann wird bei Wagner eigentlich gesungen? |
Erster Versuch einer Auflistung. | |
2013040302 | Nachtrag: Tritt der Papst im Tannhäuser auf? |
^inh 2013040300 | monograph |
Sehr geehrter Sieghart Brinegar.
Sie schreiben in ihrem Blog-Eintrag "Deutsch lernen mit Richard Wagner, Teil 5, Wie man mit dem Papst spricht" auf der sehr begrüßenswerten Seite des Goethe-Instituts zum Wagner-Jahr 2013, "Wagner wäre schliesslich nicht Wagner, wenn er nicht sogar den Papst in seine Opern einkomponiert hätte", um zu präzisieren "Der Papst tritt selbst nicht auf der Bühne auf."
Dies ist zweifellos zutreffend. Aber ohne die drei Worte "auf der Bühne" entstünde die Frage, ob denn "der Papst im Tannhäuser auftrete", und das ist eine durchaus interessante und m.E. mitnichten einfach zu beantwortende Frage!
Legen wir eine sehr rudimentäre Erzähltheorie zugrunde, die nur grob unterscheidet zwischen "diegetisch" als dem, was den Personen der Handlung wahrnehmbar ist, und "nichtdiegetisch", was diese nicht, wohl aber wir als Rezipienten des Werkes wahrnehmen können.
Dann ist die diegetische Situation der Romerzählung einfach:
Tannhäuser berichtet Wolfram von seiner Pilgerfahrt nach Rom, zuerst von
den Strapazen der Hinreise, dann in direkter
Rede die Worte das Papstes, die ihm die Verdammung vorhersagen und die
Vergebung verweigern. Der Papst ist daraufhin (wahrscheinlich)
in Rom geblieben und hält sich folglich gerade knapp tausend Kilometer entfernt auf.
Nebenbei: Es ist tatsächlich direkte Rede.
Diegetisch wird hier nämlich mitnichten gesungen,
im Gegensatz zum "Pilgerchor" und zu "Dir töne Lob. Die Wunder sei'n gepriesen"
(Es wäre eh mal ein interessante Aufgabe, zusammenzustellen, wann bei
Wagner überhaupt gesungen wird !-)
Nichtdiegetisch stellt sich das alles ganz anders dar:
Ein gut ausgebildeter Sänger und Schauspieler
singt Worte, die der Dichter Richard Wagner
der Rolle des Tannhäusers in den Mund gelegt hat, und dazu spielt ein
Orchester ausgefuchste klangliche Begleitung, mit ihrer eigenen Symbolik und Semantik.
Als Teil einer längeren Gesangspartie singt dann derselbe Sänger Worte, die der Dichter Richard Wagner der Rolle des Papstes in den Mund gelegt hat, und dazu spielt ein Orchester ausgefuchste klangliche Begleitung, mit ihrer eigenen Symbolik und Semantik.
Man merkt, der Unterschied zwischen Tannhäusers und des Papstes Worten ist in diesem erweiterten Horizont längst nicht mehr so groß wie im diegetischen! Der "Zitat-Charakter" hat in der Tat nur geringen Einfluss auf das psychologische und semantische Zusammenwirken der verschiedenen Wahrnehmungs-Elemente und -Ebenen.
Zur Verdeutlichung ein Vergleich mit einer noch tiefer geschachtelten, aber
noch eindeutiger vertonten Stelle:
Im Weihnachtsoratorium von J. S. Bach besteht eine der ergreifendsten
und geheimnisvollsten Stellen des Werkes in einem Secco-Rezitativ im vierten Teil
Nr 50:
"Sie aber antworteten ihm:
'Zu Bethlehem, im jüdischen Lande, denn also stehet geschrieben bei den Propheten:
«Und du, Bethlehem, im jüdischen Lande, bist mitnichten die kleinste unter
den Fürsten Judas. Denn aus dir soll er kommen der Herzog, der über mein
Volk Israel ein Herr sei.»
'
"
Das Rezitativ ist die (aufgeschriebene) Rede des Evangelisten
Matthäus, Kapitel 2, Vs. 5+6.
Der berichtet, in wörtlicher Rede, was die Schriftgelehrten dem Herodes sagen,
und diese wiederum zitieren dabei den Propheten
Micha (Kapitel 5), wiederum in "direkter Rede".
Nichtsdestotrotz, wenn Bach einmal an diesem Punkt des Textes mit der Vertonungsarbeit angekommen ist, dann vertont er direkt die Worte des Propheten. Diese Haltung geht eindeutig aus der sich ändernden Satzstruktur, der geheimnisvollen Bass-Fortschreitung, der bestärkend angefügen Instrumentalkadenz, etc. hervor.
Die Redesituation der doppelten Indirektheit wird gleichsam "kurzgeschlossen": Faktur des Satzes und Haltung des Komponisten beziehen sich direkt auf das Original, ignorieren die Zitat-Situation.
So auch im Tannhäuser, wenn der Papst das Wort ergreift,
man sehe nur die Posaunen, die zunächst "psalmodierende" Melodik, der
"sehr gehaltene" Vortrag, die veränderte Satzstruktur, etc.
Der Papst spricht hier, direkt, durch die Worte des Sängers (nichtdiegetisch!)
und die Harmonik der Begleitung.
In diesem Sinne hat der Papst hier einen sehr starken -- Auftritt.
Noch weiter ginge die Frage, ob Wotan in der Götterdämmerung "auftrete"?
Man beachte die Regieanweisung am Schluss ("Als [der Feuerschein am Himmel]
endlich in lichtester Helligkeit leuchtet, sieht man darin [...] die Götter
und Helden [...] versammelt sitzen."),
und die Erzählung der Waltraute zu Beginn.
Viel präsenter als in dieser kann eine Wagnersche
Bühnenfigur garnicht anwesend werden!
^inh 2013040301 | monograph |
Legen wir eine sehr einfache Erzähltheorie zugrunde, die lediglich unterscheidet zwischen
Dann wird überraschenderweise in Opern zumeist nicht gesungen!
Nun, es wird natürlich schon gesungen, und zwar nicht zu knapp,
aber halt nicht aus der diegetischen Perspektive.
Bei "durchkomponierten Opern", wie bei den Werken Richard Wagners,
wird gar pausenlos gesungen. Aber eben nur nichtdiegetisch, aus
unserer Sicht, nicht aus der Sicht der handelnden Personen.
Interessant, kompositorisch, semantisch, dramaturgisch, etc., sind nun die Stellen,
wo auch innerhalb der Handlung gesungen, oder zumindest musiziert wird.
Folgende Liste versucht einen Überblick.
Dabei mag dem Verfasser einiges entgangen sein, er hat diese Liste
zunächst ganz spontan und aus dem Gedächtnis heraus aufgestellt.
Deshalb beschränkt er sich auch auf diejenigen Werke des Meisters, die er
genauer kennt.
Für Hinweise wäre er dankbar.
Holländer
Tannhäuser
Lohengrin
Gerade in diesem Schlußstein der "romantischen Oper" zeigt sich die wichtige Scharnierfunktion diegetisch erklingender Musik: Adorno meinte gar, die sorgfältig austarierten Mischungen der Holzbläser durch das ganze Werk hätten nicht zuletzt, ja, hauptsächlich die Funktion, diese eine kurze Orgelstelle vor dem lange aufgeschobenen Kirchgang vorzubereiten, sie anzubinden und einzubetten, als passend und natürlich zu begründen. Und wirklich ist die Wirkung höchst berückend, dieser wenigen einfachen Akkorde, die gleichsam die Unschuld der "zweiten Stufe", der Subdominantparallele, wiedergewonnen haben. Diese bereiten vor das Schluss-C-Dur, welches seinerseits hingegen garnichtmehr unschuldig ist, sondern seine Brüchigkeit mit der Mollsubdominante förmlich herausschreit.
Rheingold
Walküre
Siegfried
Götterdämmerung
Tristan
Meistersinger
Man beachte den Unterschied zwischen "Am stillen Herd" und "Fanget an",
der dem Verfasser auch erst jetzt so richtig auffiel!
Ebenfalls Scharnierfunktion: Das Merker-Kommando "Fanget an!", gesprochen oder
gerufen, und sein Echo im Lied. Die Demonstration, dass aber auch alles
zum Inspirations-Anlass werden könne ...
Und welch göttliche Ausgewogenheit und Schief-Symmetrie der Form: Am Ende des zweiten Aktes wird das Bewerbungslied (des Beckmessers) zum "cantus firmus" der Meister, wechselt von der diegetischen in die nicht-diegetische Rolle ("Was gibt's denn da für Zank und Streit?"). Im ersten Akt hingegen läuft das Bewerbungslied durch, und als cantus firmus wird der Chor "Glückauf" eingebaut, OHNE Rollen- und Interpretenwechsel!
Parsifal
Die Blumenmädchen? Das "Nehmet hin meinen Leib"? "Erlösung dem Erlöser"?
Alles recht FRAGLICH!
Das ist doch schon eine interessante Übersicht:
Im Ring wird fast garnicht gesungen oder musiziert.
In den "Sängeropern" selbstverständlicherweise am meisten.
Höhepunkt die Meistersinger, logischerweise.
Aber gerade in den Opern mit wenigen Musik-Stellen sind dies immer auch Scharnierpunkte!
^inh 2013040302 | monograph |
Im sehr unterhaltsamen und empfehlenswerten Buch über Wagners Leben [maWa, S.138] von Ludwig Marcuse teilt der Autor mit, "Der Oberstkämmerer [förderte die Tannhäuser-Aufführung 1861], nachdem man ihn sicher gemacht hatte, der Heilige Vater werde nicht auf der Bühne erscheinen."
Zeigt dies doch beglückenderweise, dass die von uns nur zur Muße aufgeworfene Frage damals tatsächlich relevant war.
[maWa]
Richtad Wagner -- ein bemerkenswertes Leben Diogenes, Zürich, 1973 ISBN 3-257-21085-X |
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