^inh 2013010900 | editorial |
Mein diesjähriger Übernachtungsgast hatte mit Weihnachten nicht "so viel am Hut", und auch mein eigenes Verhältnis zu den monotheistischen Religionen ist ja ein durchaus kritisches. So kam es dass ein wirklich-seeliges Rückerinnern erst stattfand "zwischen den Jahren", als ich, um eine Stunde in Westberlin zu überbrücken, im Foyer des Ka-De-We die bereits herabgesetzte Weihnachts-Deko bewunderte.
Da gab es denn allerdings diese Dreh-Pyramiden von anderthalb Metern Höhe schon für schlappe tausend Euro. Ein gewiss angemessener Preis, wenn's denn in die Wohnung passte, und ein reines Schnäppchen, denn, fünfzig Prozent von zweitausend sind tatsächlich mehr als von den mageren dreissig für eine mundgeblasene Weihnachtskugel.
Dass keine Weihnachtsstimmung aufkam hat nicht zuletzt mit dem Besuch der Orgelmusik in der Marienkirche zu tun, mit dem ich mir am heiligen Abend, um einundzwanzig Uhr, etwas Gutes tun wollte. Rechtzeitig da, um einen guten Platz zu finden, erfuhr ich aus dem verteilten Programm, dass mich Präludien von Buxtehude und Bach erwarteten, dazu Improvisationen der Organistin, je abwechselnd mit der Lesung des Weihnachtsevangeliums und der obligaten Prophetenstelle "Das Volk das im Finstern wandelt ...", etc. Ich freute mich und war bereit das eine für das andere in Kauf zu nehmen; immerhin war der Eintritt frei, dann ist es eben werbefinanziert.
Umso erstaunter war ich, dass zum Lukasevangelium alle sitzen blieben. Als wär das die Tagesschau und sie daheim vor dem Fernseher, Knabbereien in Griffweite. Ich war der einzige, jedenfalls in den gut sechzig Prozent der Besucher, die ich überblicken konnte, der auf die Worte "Evangelium nach Lukas" demonstrativ aufstand. Ich glaube das ganze zwar nicht, ich habe aber doch einen Rest von Respekt und Ehrerbietung für Tradition und Heiligkeit dieser Texte.
Der zweite Schock war, dass vor und auch hinter mir fast durchgängig geflüstert
wurde. Ja, -- während der Musik. Selbst ich als ausgebildeter Musiker muss mich
höllisch anstrengen, allein um einem simplen
dreistimmigen Kontrapunkt bewußt zu folgen, dazu kommt
dann noch formaler, motivischer und tonaler Aufbau, gesschweige denn bei
realer Vierstimmigkeit.
Da muss ich meine "Ohren spitzen" und hyper-sensibel nur den Tönen folgen,
wenn ich davon was haben will.
Die aber vor mir quatschten munter weiter! Pausenlos! Wenn die sich so dringend
unterhalten müssen, warum gehen die dann in ein Konzert?
Selbst bei Bach war keine Ruhe, die hielten offenbar ihre
eigenen momentanen Gedanken für WICHTIGER als die eines Bach beim
Komponieren, selbst wenn es nur die "Pastorale" war. Wenn das man
kein Irrtum ist!
Als das dann immer so weiterging, forderte ich, es hatten gerade die Improvisationen der Organistin begonnen, deutlich vernehmbar, also mezzo voce, dass doch bitteschon endlich mal Ruhe eintreten möge! Eine der Weiber drehte sich um und sandte mir eine spöttischen Blick zu, warum ich mich denn so aufrege? Es sei doch normal das man in Kirchen sich unterhalte, wenn man sich langweile, sollte dieser Blick wohl sagen.
Ich fand das nur ekelhaft und verlies wuntentbrannt und laut schimpfend dieses Tempel der Schande!
Lieber Gott, schütt kochendes Pech herunter und vertilge diese dreisten Ignoranten!
Später allerdings taten die mir sogar ein bisschen leid.
Die können ja garnicht zuhören! Die wissen ja garnicht, wie Hören geht.
Die ganze Welt der Musik ist denen ja völlig unzugänglich. Die merken ja
garnicht, dass sie stören. Dass sie einfach dumm und schädlich sind.
Arme Schweine!
Merke:
Geh NIE in ein Konzert welches nix kostet!
Umso erfreuter war ich, als mir das Kulturradio am vierten Ersten noch
mitteilen liess, dass an Epiphanias ein letztes Mal das
Weihnachtsoratorium gegeben würde.
Da gehört es ja auch hin, jedenfalls der letzte Teil.
Immerhin ging die Weihnachtszeit, jedenfalls im Volksbrauch, damals
bis Mariae-Lichtmess (2. Februar!), und auch heute sieht man die
ausrangierten Weihnachtsbäume erst Tage nach Dreikönig über Berlins
Straßen wehen.
Die Chance, doch noch etwas Weihnachts-Feeling zu ergattern ließ ich mir
also nicht entgehen, zumal mein überkritischer Besuch inzwischen
abgereist war, und buchte sofort eine Karte (Es war vorher noch etwas
Recherche nötig, denn der Hinweis-Spot gab keine weiteren links, und ich
musste echt da anrufen. Schlecht gemacht.)
Dabei kam mir meine alte Analyse (senza tempo Sondernummer mit Falt-Tafel zum Selberfalten) wieder in den Sinn, die ja leider unvollendet immernoch rumliegt.
In der Tat fielen mir beim Hören nette neue Details auf, die ich, so lange eine Fortführung dieser Arbeit nicht möglich ist, als Splitter-Liste hier mitteile, nebst einer knappen Rezension der Darbietung als solcher.
^inh 2013010901 | monograph |
Hier also ganz ungeordnet einige Gedankensplitter. Mögen sie hier mitgeteilt werden, bis ich Zeit finde, erwähnte grosze Monographie wieder aufzunehmen.
Im Vorspiel des ersten Teiles (#1) geht die oberste Trompetenstimme nur bis zum
cis'' (eine Stelle Takt 81, viermal angestoßen, sonst regelmäßig nur bis zum h'').
Das d'' wird zwar im ersten Teil schon bei der nächsten Trompetenstelle
nachgeliefert,
in der Baß-Arie und im Schlusschoral, ist hier
aber noch ausgespart! Sollte das anzeigen dass schon bei der Komposition
"Tönet ihr Pauken" an die Einbettung in eine sich steigernde
Groszform gedacht war?
"Dienet dem höchsten mit herrlichen Chören" ist auch ein Beispiel für das
Aufeinanderfallen von Form und Inhalt: Was erklingt IST ein "herrlicher Chor",
der von "herrlichen Chören" redet.
Aber was soll das überhaupt sein, ein "herrlicher" Chor? Würde ein Komponist
ein eigenes Werk, bei allem Stolz über das Gelingen, jemals als "herrlich"
bezeichnen? Ist im barocken Sprachgebrauch nicht das "herr-liche" eher
das "dem Herren gehörige", ihm zugeeignete oder zukommende?
Wieweit darf man die heutige Wortbedeutung von "herrlich" mit dem
Unterklang von "berückend", "bezaubernd", "faszinierend", "beglückend"
hier hineinhören?
Allemal scheint der reflektive Charakter dem Komponisten bewußt: Er gibt sich
zunächt Mühe (wenn auch nur die übliche!-) in strenger kontrapunktischer Gestaltung.
Dann wird diese Textzeile ein letztes Mal monodisch zusammengefasst.
Dann ertönt der "herrliche Chor" des Anfangs in einer fahlen, abstrahierten,
rein instrumentalen, also symbolischen Gestalt. Danach wird dann,
bewor die tatsächliche Reprise beginnt, ein eigentlich überzähliger weiterer
"Mittelteil" eingeschoben, "Lasst uns den Namen des Herrschers verehren",
damit die Musik ihrer dienenden Rolle erinnert werde, und nicht allzusehr um sich
selber kreise.
(Aber auch aus musikalischen Gründen, damit jene fahlre Reminiszenz nicht direkt
an die reale Reprise stoße!)
Die Kerntöne der Themenanfänge mancher Arien stimmen sosehr überein, dass man fast von einer subkutanen Variationenfolge sprechen könnte:
Im Eingangschor des vierten Teiles "Fallt mit Danken, fallt mit Loben" ist die genussvoll ausgehaltene Klein-Sekund-Reibung der Hörner (Takt 113) eine der schmerzhaftesten Stellen des ganzen Werkes. Auf die Worte "Gottes Sohn, Gottes Sohn" wird, aus einem F-Dur-Kontext kommend, die kleine Sekunde b-a einen ganzen Takt ungeschützt liegen gelassen, und ihre Auflösung ist der Sturz in das g-moll und Abkandenzierung nach d-moll.
Noch stärker vielleicht in der auskomponierten Wiederholung Takt 154: Dort zeigt die Auflösung des vorangehenden c in Sechzehntel umso deutlicher, dass die folgenden nicht figurierten, "platten" Töne bewußt als solche gesetzt sind, dass hier Archaisches, Klagendes, Echt-Leidendes, Tierisches gemeint ist.
Diese Stelle ist direktes Vorbild der Stierhörner im letzten Akt Götterdämmerung.
Ende des Rezitativs Nr.38, aus fast in die Enharmonik überschwappender Chromatik (as c h es f a auf engstem Raume) kollabiert der Satz in naivster Weise nach C-Dur. Triumph der "sancta simplicitas", oder vielleicht doch sogar Ironie seitens des Komponisten?
Die Echo-Arie Nr.39 ist ein zentraler Satz des ganzen Werkes. Allein schon wie behutsam und sparsam das so äußerliche und weit verbreitete, ja, abgegriffene Mittel der Echo-Arie vorbereitet wird. Dadurch, dass es kompositorisch vermittelt wird, also problematisch aufgefasst, wird der Abgegriffenheit entgegengearbeitet:
Erst das Echo rein INNERHALB desselben Instrumentes: Oboe spielt "normal", dann "piano", dann wieder "f".
Dann setzt die Singstimme ein, und diese und das Instrument treten in das Echo-Verhältnis.
Dann erst, als DRITTE Stufe, gibt es den realen Echo-Sopran.
Hier nun begegnen sich diese Welt und das transzendentale Jenseits: Am Schluss des A-Teils heisst es, "nein, du sagst ja selber: nein", und dieses letzte "nein" singt nun nicht mehr der Solist, sondern, perfekt in dessen rhythmischen Ablauf eingepasst, der Echo-Sopran, aber eben nicht als ein Echo, sondern als sprechendes Jenseits.
Dasselbe passiert im Mittelteil mit dem Text "ja du Heiland sagst selbst -- ja".
In der auskomponierten Wiederholung steigert sich das zum unübertrefflichen Höhepunkt:
Gemeint ist die Stelle bei "*", wo sich für die winzige Dauer einer Achtel ein einziges Mal Echo und Original überlappen. Hier begegnen sich nichtmehr nur Welt und Jenseits, nein, hier berühren sie sich! Dieses eine kurze Viertel der Überlappung ist das spirituelle Zentrum des ganzen Weihnachtsoratoriums.
Und dies realisiert Bach, der Meister des Kontrapunktes,
durch das anti-kontrapunktischste, durch das
allereinfachste aller Ereignisse, durch einen Einklang.
Angewandte Dialektik!
Nr.51, das köstliche Terzett:
Man beachte die Feinheiten: Wie Terz, resp. Sext-Parallelen nicht etwa süszlich-schmachtend gesetzt werden, sondern als Ergebnisse komplexer, ja, konfligierender Imitationen sich wie zufällig ergeben, erzielt werden. So in Takt 28 und 54, um danach dann allerdings, wie etwas Konventionelles, zur Verfügung zu stehen.
Und wie die Reprise sich einschleicht, Takt 130, das ist schon fast wie im Kopfsatz von Brahmsens Vierter.
Nr.55, Soliquent Herodes, "das ich auch komme und es anbete."
Die "ehrliche" Textverteilung des abschliessenden Schleifers wäre alle
Noten auf "be-" und nur die allerletzte auf die schwache Nachsilbe "-te".
Herodes aber singt "be-te-e-e". Das ist verräterisch.
Nr.59, der überaus schlicht wirkende Choral "Ich steh an deiner Krippen hier". Reines G-Dur, erst im Abgesang zweimal ein dis, als Ausweichung und als Halbschluss in e-moll.
Direkt darauf, der DV auf "und Gott befahl ihnen im TRAUM", auf maximalen Kontrast gesetzt, obwohl es dieselben Töne sind! Das dis davor trat eben nur in allerreinstem Zusammenhang auf, Sept und None kommen erst hier.
Was von beiden aber ist dann geträumt?
Accompagnato Nr.61, "Herr hilf!", die verminderte Quinte abwärts ist nicht nur Modulationsmittel, die betont zur Schlusstonart h-moll leitet, sondern auch Ausdruck höchster Not.
Der Schlusschoral, für uns Heutige (nachdem wir die Matthauspassion
sooft erlebt), genau wie der erste Choral eine Apotheose zukünftigen Leidens.
(Damals soll das anders gehört worden sein ...)
Aber warum läßt man die Solisten nicht mitsingen??
Aber bitte mezzo voce ...
Andächtig halt.
^inh 2013010902 | ereignis |
Das Dirigat hatte Prof. Martin Steidler, auch Leiter des genannten Chores.
Es war ein rundum gelungenes, ergreifendes und dabei unprätentiöses Konzert, bei dem das Werk und nichts anderes im Mittelpunkte stand. Gesangssolisten, Chor und Orchester boten nicht nur eine präzise und korrekte Aufführung, was angesichts der oft unterschätzten Schwierigkeiten des Werkes, und der doch recht ungünstigen Raumakustik, schon sehr viel ist, sondern in vielen Sätzen eine kontrolliert emotionale und gerade dadurch mitreissende, ja, teils begeisternde Darbietung.
Oben erwähnte Details wurden in aller Präzision herausgearbeitet, die schmerzhafte Horn-Sekunde, die herrlichen Chöre, das wunderbar-schlicht zurückgenommene "Ich steh an deiner Krippen hier", und, wirklich als Höhepunkt des Abends, die feine Überlappung zwischen Echo (wirklich ausgezeichnet gesungen von einer Choristin) und Solo-Sopran.
Dem Verfasser geht es bei "perfekten Sprechern" im Hörfunk oft so, dass er, nachdem er eine Meldung vernommen, meint, diese nicht gehört sondern gelesen zu haben! Die hundertprozentige Disziplinierung, die Elimination alles Willkürlichen läßt den Text als Text, den Text als solchen rezipieren, das vermittelnde Sprechen wird völlig transparent, nicht wahrgenommen und nicht erinnerlich.
So kann es einem auch mit einem Chor ergehen. Dass die perfekte Darstellung als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, eben weil sie so gut ist, also eigentlich nicht wahrgenommen wird.
So ging es Rezensenten hier: erst wenige Minuten nach Verklingen fiel ihm auf, wie gut dieser Chor tatsächlich war: in allen Lagen deutlich artikulierend, stets klanglich ausgewogen zwischen allen Stimmgruppen, intonations- und rhythmussicher. Und trotzdem mit Freude und Leidenschaft bei der Sache. Wie beruhigend, dass sowas noch geht!
Weniges ist im Nachhinein zu kritisieren: Das "piano subito" nur für die Halbzeile "nach deiner Macht" am Schluss von 54 mochte etwas maniriert erscheinen. Zeigte aber andererseits die hohe Disziplin und Technik der jungen Chorsänger.
Insgesamt hätte man sich vielleicht etwas mehr "attacca"
gewünscht, auch angesichts der schlechten Konzentrationsfähigkeit
des heutigen Publikums, siehe oben.
Ausserdem ist das Werk so komponiert.
Sehr eindrucksvoll war z.B. der Einsatz des Sextakkordes auf dis,
nach dem e-phrygisch-Choral "Wie soll ich dich empfangen", da war
die notwendige Schärfe drin, die dem durch diesen Einsatz
ja hervorgerufenen dialektischen
Kadenzschritt nach e-moll (zwei Quinten nach oben, oder in die Parallele
der Sub-Dominante, einer der wichtigsten Momente des Werkes) auf dem
Wort "Sohn" die ihm zukommende öffnende Weite und Strahlkraft gab! Das
war sehr schön!
Hingegen das Ende des Rezitativs Nr.40 "Wie rühm ich dich, ..., wie dank ich dir?". Dies ist eine Frage, die durch die abschliessende Kadenz über dem Orgelpunkt nicht beantwortet wird! Im Gegenteil, da wird vielmehr "das Fragezeichen auskomponiert", um umso mehr zu drängen. Die Antwort ist die folgende Nr.41, und dazwischen darf nun wirklich nicht eine Stecknadel fallen. Nr.41 war denn auch der einzige Fehlgriff des ansonsten ausgezeichneten Dirigenten in der Tempowahl, -- das ging so nicht, in diesem Raum, da verlor der Satz an Energie und Tempo, weil er überhastet war.
Das Orchester setzt seine eigenen Maßstäbe, da kann man nicht meckern. Die erste Trompete spielte sehr schön leise das hohe d''', Rezensent hätte es gerne auch mal eine Winzigkeit lauter gehört. Wir wissen, dass leise schwerer ist, aber laut kann auch mal richtiger sein.
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