zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2012082200 | phaenomen |
Im Rahmen der Arbeit, eine Synopse von Notation-Kompendien zu erstellen (siehe hier) galt es auch kurz zu referieren, wenn schon nicht in die eigentliche Synopse einzubeziehen, das Buch von Gardner Read, Source Book of Proposed Music Notation Reforms, [readSource]
Dieses enthält dreihunderteinundneunzig (391) Vorschläge aus den letzten dreihundert Jahren für neue, bessere Notationsverfahren für Musik.
"Besser" soll dabei immer heißen: einfacher zu lesen, schneller zu erlernen, logischer, die Idiosynkrasien des herkömmlichen Systems vermeidend, also "weniger unlogisch", weniger Widersprüche enthaltend, einheitlicher etc.
Die Ergebnisse dieser Reformbemühungen sind zumeist skurril, keines hat sich durchsetzen können. Dennoch ist die Lektüre dieses verdienstvollen Buches durchaus mehr als nur erheiternd: Aspekte und Grenzen von Notation als solcher, Stärken und Schwächen des konventionellen Systems können anhand der veschiedenen Versuche, es zu reformieren oder zu ersetzen, in konkreterer Weise erkannt und diskutiert werden.
Ein Haupt-Ärgernis aber ist, dass von Seiten des Herausgebers wieder einmal eine einführende, grundlegende Problematisierung der Semantik von Notation völlig unterbleibt, und die meisten der vorgeschlagenen Notationssysteme einen fundamentalen Wechsel der Semantik vornehmen, ohne das überhaupt zu bemerken!
Von den fast vierhundert Vorschlägen notieren nämlich
schätzungsweise achtzig Prozent lediglich
Klaviertasten modulo der enharmonischen Idenität!
Und dies wird dann noch dreisterweise als "Fortschritt" verkauft, so, als
wäre das Verfahren von Stammton und Versetzungszeichen lediglich eine
historische Last, eine Ungeschicklichkeit, eine zu elimiierende Mühsal.
So Read selber in der Einleitung zum Kapitel "Proposed Staff Reforms":
"... the advocates of unorthodox staff formats [...] had one paramount objective: to eliminate the accidental signs that are essential in conventional music notation."
... und in der Besprechung gleich des ersten Beispieles, Boisgelou, 1764:
"As far as can be determined, Boisgelou's staff proposal was the first to assign each note of a chromatic scale to its own line or space, thus eliminating the need for accidental signs before any altered pitches." (Hervorhebung von mir)
Auf Seite 256, bei der Besprechung des Reformvorschlages "Notenschriftreform" von Carl Johnannis, 1961, welches auch nur Tonhöhen modulo Enharmonik darzustellen erlaubt, heißt es, diese habe "eindrucksvolle Fürsprache von zeitgenössischen Dirigenten" wie Antal Dorati und Herbert von Karajan gefunden, was deren Gedankentiefe hinreichend charakterisiert.
Selbst Martin Gieseking im einleitenden Kapitel "Notenschrift und Notendruck" seiner ansonsten sehr lesenwerten Dissertation [gieseking] bleibt weit unter dem Niveau der sonstigen Darstellung, wenn er, notabene bezogen auf die musikalische Notation im allgemeinen, schreibt:
"Seit Einführung der gleichtönig temperierten Stimmung ist es eigentlich unnötig, zwischen enharmonisch verwechselten Noten zu unterscheiden, denn gis sowie as bezeichnen rein rechnerisch dieselbe Frequenz und klingen deshalb völlig gleich."
O sancta simplicitas!
NEIN, NEIN und abermals NEIN!
Eine jede neue Notation, die auf die Unterscheidung enharmonisch verwechselter Tonklassen verzichtet, bezeichnet schlichtweg etwas anderes als die konventionelle Musiknotation!
Die verschiedenen Möglichkeiten der Bezeichung der selben Klaviertaste sind keinesfalls lediglich historisch verursachte Umständlichkeit, sondern zentrale Dimension des von der Notation bezeichneten semantischen Modelles.
Für obiges Zitat heisst das:
Die notierten Tonhöhen gis und as bedeuten nicht nur
nicht dieselbe Frequenz, nein, sie bedeuten überhaupt keine Frequenzen.
Und sie "klingen auch nicht gleich", denn sie klingen nämlich garnicht!
Und in jeder möglichen klanglichen Umsetzung klingen sie dann
durchaus verschieden, selbst auf einem Pianoforte:
Wenn zitierter Autor meint, die Toneregnisse, die in diesem
Beispiel mit "gis" und "as" notiert
werden, klingen "gleich"; dann sollte er die durch seine
Programmiertätigkeit unterstützte Gehörbildungs-Software doch selber
öfter nutzen.
Sollte man einreden, die klanglichen Unterschiede lägen doch nur
im Kontext, -- nunja, genau der ist es ja, der gemeinte
Kontext, den die enharmonisch unterschiedliche Schreibweise versucht zu
bezeichnen.
Die notierten Tonhöhen gis und as sind Referenzen auf
eine symoblische Semantik, bezeichnen Entitäten eines "mentalen Modelles",
einer psycho-internen Begriffswelt von Erfahrungen, eines
psycho-internen Kalküls, einer Algebra. Die Verknüpfungsergebnisse
dieser Algebra können auf chromatische Tonleitern
abgebildet werden, aber diese Abbildung ist nicht injektiv.
Die Verknüpfungsgesetze sind also nicht abbildbar, und
alle die hundert Notationen, die diese Differenzierung aufgeben,
sind schlichtweg unbrauchbar.
Die Autoren haben schon in ihren Grundgedanken die Fundamente der
Funktionalharmonik nicht verstanden.
Gieseking konzidiert wenig später
"Theoretisch ist es denkbar, die Notenschrift auf nur ein Alterationszeichen,
etwa das Kreuz (#), zu beschränken, doch würde als unmittelbare Konsequenz die
gültige Theorie über den Aufbau von Dur- und Mollakkorden zusammenbrechen."
Nunja, die Theorie ist als solche natürlich nicht betroffen, aber
sie wäre in einer so vereinfachten Notenschrift nicht mehr darstellbar.
Weiter:
"Der Gedankengang [würde] schließlich eine komplette Überarbeitung der
bisher gültigen Harmonielehre erfordern."
Dazu ist zu sagen, dass (erstens) eine diesen Namen verdienende
reine "Überarbeitung" nicht möglich
ist, da mit der Identifizierung von zwölf Quintschritten auseinanderstehenden
Tonhöhen der Funktionalharmonik zugrundeliegende Abstandsmaß seine
Bedeutung verliert, und (zweitens) dass die Formulierungen vermuten lassen,
der Autor verorte das Problem des enharmonischen Unterschiedes in einem
nebulösen Bereich von "Musik-Theorie", welcher als separat weit ab von
aller Praxis ein "theoretisches Eigenleben" führt.
Als Komponist können wir da nur herzlichst widersprechen: Musik-"Theorie" ist
keinesfalls abgehobene Reflexion, sondern tagtägliche und unmittelbare
Notwendigkeit musikalischer Praxis!
Wenn Schubert im ersten Satz der Klaviersonate a-moll D 845 schreibt
...dann bedeutet das nämlich nicht, dass er auf ein zukünftiges "Rein-Ton-Instrument" warten will, sondern, dass er schlicht schreibt was er meint.
Unsere Notation beschreibt eben nicht "Tasten" oder Harfensaiten oder midi-Töne, sondern Entitäten eines viel komplexeren Mittelgrundes, in dem sich die unterschiedlichsten Intentionen und Interpretationen ausdrücken lassen.
Das Schicksalsfrage-Motiv aus der Walküre hebt an mit dem Klang "c-dis-g", und dieser ist auf ewig in dieses Motiv eingeschrieben!
Selbstverständlich gilt die enharmonischen Identität in vielen Stilen, besonders neueren, und sie spielt in älteren, die nicht weiter als zwei Quintschritte aus ihrer Grundtonart hinausgehen, niemals eine Rolle.
Aber der ganze Bereich von Barock bis Romantik ist mit "Klavarskribo" und
all den anderen, ähnlichen Systemen, garnicht darstellbar!
Jedenfalls nicht sein Gehalt, sein Inhalt,
sein Wesen!
Nicht die Botschaft und nicht das Werk!
NEIN, NEIN und abermals NEIN!
Read schreibt in der Einleitung, dass "many of the reforms illustrated
were the brainchildren of amateurs."
Man merkts auf den ersten Blick.
Diesen mag ein so fundamentaler Lapsus wie der Verwechslung nicht-isomorpher Algebren
nachzusehen sein. Bei so fähige Autoren wie Read und Gieseking
aber ist er doppelt bedauerlich.
[readSource]
Source Book of Proposed Music Notation Reforms Greenwood Press, Westport, Connecticut, 1987 ISBN 0-313-25446-X |
[gieseking]
Code-basierte Generierung interaktiver Notengraphik Universität Osnabrück, Osnabrück, 2000 ISBN 3-923486-30-8 |
©
senzatempo.de
markuslepper.eu
2019-12-20_20h46
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and XSLT
music typesetting by musixTeX
and LilyPond