zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen |
^inh 2012071300 | monograph |
1
Der Anlass: Celibidache im Radio und zurück in Berlin
2
Das Erlebnis des Adagios
2.1
Der großformale Aufbau dieses und (fast aller) Brucknerschen Adagios
2.2
Der Rückführung B->A' als Vorgang der Katharsis
2.3
Der Entwicklung des Ton-Vorrates
2.4
EXKURS: Ein einfacher Arbeitsbegriff von Dialektik
2.5
Die dialektische Gestaltung der weiteren Rückführung
2.6
Die Kadenz des Todes
2.7
Warum das extrem langsame Tempo hier gut funktioniert
3
Zwei der drei einflussreichsten Deutschen
4
Nachklang, Ausklang
5
ANHANG: Der Sündenfall
Hörte der Verfasser doch letztens (am 08. Juli 2012, 20:00 bis 23:00 Uhr) zufällig im "Kultur-Radio" die Sendung "Konzert am Sonntagabend", zusammengestellt vom Redakteur Bernhard Schrammek, zum einhundertsten Geburtstag von Sergiu Celibidache (1912 - 1996).
Verfasser hatte zu spät eingeschaltet, bekam noch die letzten Sekunden eines eher uninteressanten Werkes mit, stellte dann im Netz fest, dass er sich ärgern dürfe, das davor gespielte, nämlich Brahmsens Dritte verpasst zu haben, und hörte dann mit einem Ohre nur, weiterarbeitend, dem schönen A-Dur-Violinkonzert und der Siebenten Sinfonie von Mozart resp. Beethoven zu.
Wie schnell bemerkt, sowohl am Klang, als auch an den entsprechenden Texten in wikipedia, war Herr Celibidache wohl bekannt für seine extrem langsamen Tempi. Beim ersten Satz der Siebenten führte das tatsächlich zum Kennenlernen einiger bisher ungehörter Sechzehntel-Noten. Das war wirklich interessant, wenn auch nicht mehr so schwungvoll wie man sich eine "Apotheose des Tanzes" vorstellt.
Der berühmte Name war am Verfasser bisher zwar untergekommen, immer wieder, sporadisch, wenn man im Wartezimmer verleitet ist, wider besseres Wissen den "Spiegel" zu durchblättern. Er erinnert sich dunkel einer Kritik, vielleicht von Kaiser, der ihm "Seelenentblößung" vorwarf. Während besagter wikipedia-Artikel vielmehr behauptet, die "Ent-Persönlichung" sei ein wichtiges Ziel dieses Interpreten gewesen, auch durch Anwendung von Methoden des Zen-Buddhismus.
Gehört aber hatte er bisher noch nichts von diesem Dirigenten. Und auch dies erklärte der wikipedia-Artikel, dass nämlich dieser, als die Berliner Philharmoniker den Herrn Karajan (erinnert sich wer an den?) ihm vorzogen, grollend nicht nur der Hauptstadt, sondern auch jeglichem "Platten-Geschäft" verachtungsvoll den Rücken gekehrt hatte, und fürderhin seinen verletzten Stolz dadurch perpetuiert und vielleicht geheilt, dass er des Widersachers nicht nur kontradiktorisches, sondern gar komplementäres Gegenteil wurde, ein "Anti-Karajan", wie Herr Schrammek erklärte.
Es gibt also keine (/kaum) Studio-Aufnahmen von diesem Menschen, und auch wenig Live-Mitschnitte! Welch bewundernswerte Konsequenz! Wie ernst.und heldenhaft die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des eigenen Schaffens nicht nur angenommen, sondern zur Opferhandlung emporgehoben!
Wenn das so ist, dann kann man ja garnix von dem gehört haben. Wenn man nicht im Süden Deutschlands in teure Konzerte geht. Was Verfasser nie getan.
Dann aber berichtete der Radakteur von einer Rückkehr nach Berlin, auf persönlichen Wunsch des Bundespräsidenten, dass er im Jahre 1992 doch "noch einmal, zum letzten Mal" Bruckners Siebente Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern zelebrieren möge. Davon gebe es einen Mitschnitt, der gleich erklingen werde.
Darauf freute sich Verfasser, denn Bruckners E-Dur überentschädigt doch für das verpasste Brahms-sche e-moll!
Von jenem Mitschnitt gesendet aber wurden dann doch nur (a) der Anfang einer Probe zum ersten Satz, dann aber (b) das Adagio in voller Länge.
Der Probenanfang war enttäuschend.
Deutlich für die Galerie gesprochen.
Jeder Musiker darf, ja muss ärgerlich werden, wenn
ihm ein eingereister Dirigent die allersimpelsten
Grundlagen des Orchestertremolos zu erkären sich anmaßt, einer
Technik, die er seit dreissig Jahren durchgehend praktiziert!
Nee, da hatte Verfasser sich mehr von versprochen. Substantielleres.
Nun aber endlich aufgemerkt und konzentriert!
Es hebt an, oder besser, fällt ein,
"Sehr feierlich und sehr langsam",
das Adagio aus Brückners Siebenter,
ein Höhepunkt romantischer Musikgeschichte.
Und das wurde es dann wirklich!
Der Aufbau der Brucknerschen langsamen Sätze ist bekanntlich fast immer bar-förmig:
Stollen Stollen Abgesang A - B - A' - B' - A'' |
Und für die ersten drei Teile A-B-A' funktioniert nun die Celibidache-sche Überdehnung der Tempi auf das glücklichste!
Es wiederfuhr dem Verfasser nämlich folgendes:
Der A-Teil ist der eigentliche Trauermarsch, von den Wagner-Tuben
in cis-moll beginnend, in wenigen Taken über heroisches E-Dur
nach fis-moll abkadenzierend.
Dann schreitet der Satz weiter, in der
für Bruckner typischen (und für den Neuling störend-verstörenden)
blockartigen Ungebundenheit: Alle zwei oder vier Takte
wechselt der tonale Schwerpunkt, Gis-Dur, Fis-Dur, H-Dur, E-Dur,
Gis-Dur bis zum emphatischen Quintsextakkord von fis-moll, und
einem fahl-mehrdeutig-hartverminderten dis-f-a-c.
cis-moll, die Haupttonart, ist als gemeinsamer Bezugspunkt immer vorhanden, wird aber nach genau den ersten vier Takten nie wieder direkt ausgesprochen! Dem ungeübten Hörer wird es schwerfallen, hier den Zusammenhang wahrnzunehmen. Der Geübte aber weiss, dass hier eine Logik zunächst nur behauptet wird, die sich im Fortgang im Nachhinein beweisen wird.
Der B-Teil ist das "tröstende Trio", in Fis-Dur, fast nur Streicher, eine weitausgreifende Gesangsperiode. Die Klänge von sehrenden Septen und Nonen erglühend, aber die Tonart kaum sich bewegend, alle Spannung und Bewegung im Inneren der Akkorde bleibend, bei ihren Vorhalten und Durchgangsnoten, --- also bei dem, was man als "Sekundär-" oder "Tertiär-Harmonik" bezeichnet (je nachdem von wo aus man die harmonischen Bestimmungsschichten zu zählen beginnt), während die "Primär-Harmonik", also das als solches wirksame und wahrnehmbare Fortschreiten der Akkorde, sich auf die einfachsten Grundfunktionen beschränkt und zunächst streng takt-weise wechselt, also alle drei Viertel.
Die Mittelstimmen bringen dabei eine abwärtsgehende Durchgangsnotenbewegung zwischen zwei Akkordtönen, in "virtueller Zweistimmigkeit" (als Intervall gebrochen) mit dem liegenbleibende jeweils dritten Akkordton. Dieses Muster wird deutlich exponiert in den ersten Takten der Cellostimme :
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Notenbeispiel 1: Grundfigur Begleitung B-Teil |
Darüber jubilieren die frei fliegenden Geigen.
Der Mittelteil dieses Trios (Tkt 45 bis 53) wendet sich (nicht übermäßig unkonventionell) in die Tonart der Dominante, nach Cis-Dur, dann folgt die Wiederholung der ersten acht Takte in Fis-Dur, sein Glänzen noch überhöht durch ein engeführtes Oktav-Echo in der ersten Flöte.
Dann aber folgt der Ort der Katastrophe, das Erleben der Katharsis, das Zentrum der ganzen Sinfonie (so wie wir es damals erlebten), die sechzehn(16) Takte der Rückführung in den A-Teil:
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Notenbeispiel 2: Rückführung ins Erste Thema / nach A' |
Zunachst ist diese Rückführung ein reines Aus-Klingen, ein Nach-Plätschern des
B-Teil-Themas, die Takte 61 bis 66 sind reine Beruhigung, Auslaufen,
Verlängern, Versanden.
Hier ist alles nett, friedlich und strahlend.
Man beachte, mit welcher Genauigkeit ein verborgenes Quint-Spektrum
langsam aufgespannt wird, wie es
als Mittelgrund-Struktur den Satz stützt und ihm seine
leuchtende Leichtigkeit gibt: schon in Takt 61 : groß-Fis (eigentlich
Kontra-Fis), klein-cis, gis, eingestrichen-dis in Takt 63, dann ais-eins und
eis-zwei. (Im Notenbeispiel ist das durch die Kreuz-Notenköpfe in Takt 65ff
angedeutet.)
Dies ist ein sehr schönes Beispiel für ein "zweites System", für eine Logik, die rein intervall- oder symmetriebasiert der konventionellen funktionalen Harmonik entgegentritt und eine gleichermassen konfligierende und konstruktive Gegenrolle einnimmt.
Notenbeispiel 3 zeigt den jeweiligen gesamten Tonvorrat der einzelnen,
sehr verschieden langen Abschnitte. Dessen Entwicklung zu betrachten
reicht völlig aus,
die Gestaltung dieser Rückführung, ihre innere Spannungskurve
und ihre Aussage zu verfolgen.
In der Graphik sind die Töne des ("harmonischen") cis-moll, in das der
Komponist ja zurückführen will, mit schwarzen "normalen" Notenköpfen
angegeben, die weissen Notenköpfe bezeichnen also die aus dieser Sicht noch
"falschen" Tonklassen, die es zu ersetzen gilt.
Der gesamte Tonvorrat der ersten sechs Takte beschreibt nichts anderes
als Fis-Dur, die Anfangstonart des B-Teiles, und das aufgespannte
Quintenfeld ordnet diese Töne zwar nach einer sprengenden Tendenz, aber zunächst
nur ihr Leuchten noch verstärkend.
Dann aber setzt (anscheinend hart und völlig unvermittelt)
der hartverminderte und verkürzte Klang fisis-a-cis-e vom Anfang wieder ein.
Dort ist er der zweite Akkord des ganzen Satzes überhaupt (siehe
in Notenbeispiel 2 den Takt 77, die Wiederholung dieses Anfangs!), und war dort
eine äußerst espressiv-düster gefärbte Doppeldominante der Grundtonart cis-moll.
Hier in Takt 67 könnte er zunächst enharmonisch als A-sieben gehört werden,
also als Dominante
in ein mögliches D-Dur, als Gegenklang zu einem latenten fis-moll.
Gestützt wird diese Interpretation (dieses "Gefühl") durch das
Auftreten des Tones d statt dis im melodischen Tonvorrat, wenn auch nur
als schwache melodische Durchgangsnote.
Als Parallelbildung zur chromatischen Basslinie fis-fisis-gis
(das bald darauf erscheint)
ertönt als neues Moment die chromatische Oberstimmenfigur a-ais-h-his-cis.
Im Gesamt-Tonvorrat treten, wegen dieser Chromatik, also a plus ais auf,
und h plus his, wobei das his deutlich gesetzt ist als die Fortsetzung des
Quint-Spektrums, das hiermit also doch eine gewisse Spreng-Kraft beweist.
Dis und eis hingegen fallen fort, werden ersetzt durch d und e.
Das fisis im Bass tritt auf statt fis und auch statt gis, die beide
wegfallen. Also kann es, wie oben gesagt, zunächst auch als "g" gehört werden.
Gleichzeitig setzt es das Quintenfeld über das his hinaus systematisch fort,
nun allerdings in die tiefste Lage umgefaltet.
Gerade da wo der Quintenturm sich derart schliesst, tauchen die Töne
d-eins, klein-a, klein-e in reiner QUART-Stellung auf, siehe die
Diamanten-Notenköpfe am Ende von Takt 67. Nur "klein-h" würde fehlen, oder
"g-eins", um auf der einen oder auf der anderen Seite den
Anschluss an den Quinten-Turm zu schaffen (allerdings modulo Oktavlage!)
Auch diese Konstruktion legt rezeptionsmäßig zunächst die Interpretation
des Liegeklanges als ein A-sieben nahe.
Aber schon Takt 69 wird dieser Klang in den Quartsextakkord der Dominante von
cis-moll aufgelöst, verbunden mit der Rückkehr von d zu dis.
Dies ist anders als im Thema des A-Teiles, wo in Takt zwei auf den Hartverminderten
sofort der unverstellte Dominantklang folgte, wenn auch mit der Terz im Bass.
(Siehe dessen Wiederholung in den Takten 77 und 78 in Notenbeispiel 2.)
Das e bleibt, statt eines eis, und das his bleibt, so daß wir uns ab Takt
69 in reinem cis-moll("-harmonisch") befinden, -- nur schwarze Notenköpfe in
Notenbeispiel 3!
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Notenbeispiel 3: Tonvorräte der Rückführung |
Aber das kann ja wohl nicht sein! So einfach und beiläufig kann ja die Rückführung in die Ausgangstonart nicht vollzogen werden, die ja ein formales Hauptereignis der allerobersten Gliederungsebene sein muss, ein Groß-Ereignis mit sinfonischer Auswirkung, Ausmaßen, Bedeutung und Gehalt. Irgendwas stimmt hier nicht!
Und tatsächlich, wir haben hier selbstverständlich nicht cis-moll als Tonart wieder erreicht, als Tonika-Funktion, sondern vielmehr den cis-moll Dreiklang als Quartsext-Akkord, also mit der Quinte im Bass, in Dominant-Funktion, was so ziemlich das Gegenteil vom "Angekommen-Sein" bedeutet, nämlich höchste Spannung hin auf einen Schritt der noch fehlt.
Um dies und die in den nächsten acht Takten sich abspielenden Ausweichungen und Auskomponierungen richtig einschätzen zu können, ist ein kleiner Exkurs zweckmäßig:
Der hier notwendige und hinreichende Arbeitsbegriff von "Dialektik"
kann definiert werden als "eine bestimmte Sache setzen und den
Effekt ihres Gegenteil damit verursachen".
Dies ist sicherlich eine vereinfachte, grobe und in vielen Kontexten
nicht ausreichende Begriffsbestimmung, -- hier aber genügt sie.
Sie ist auch allzu allgemein, so dass sich leicht die Gefahr ergibt, diese
Art von Dialektik überall zu sehen, auch in den trivialsten Phanomenen.
Hier tritt sie gleich zweifach auf, und, wie wir am Ende dieses Textes zeigen
wollen, mit existentieller Wichtigkeit, trotz des zunächst allertrivialsten
Charakters der sie tragenden Phänomene!
Zunächst einmal der Quartsextakkord als solcher.
Mein verehrter Lehrer Hufschmidt wurde nicht müde darauf hinzuweisen,
dass es tatsächlich "Quartsext-AKKORDE" im engeren Sinne des Wortes nicht gibt!
Die entsprechende Intervallkombination (ein reiner Dreiklang mit dem Quint-Ton im Bass)
ist entweder ein Durchgangs-Ereignis oder eine Vorhalts-Konstruktion.
Dies ist also ein typisches Beispiel für die geforderte "musikalische Dialektik":
Die Töne des Tonika-Dreiklanges (hier: cis, e und gis) werden gesetzt,
aber dies löst keinesfalls die Empfindung "Tonika" aus, also "Angekommen!",
"Endlich daheim!", sondern ganz im Gegenteil: Diese
scheinbar heimatlichen Töne sind Vorhalte in die Töne des
Dominantklanges. Dieser muss (durch einen harmonischen Schritt der Oberstimmen,
das sog. "Auflösen der Vorhaltsnoten")
erst erreicht werden, ist dann aber der
Tonika diametral entgegengesetzt. Das Harmonik-Gefühl kann
erst danach (in einem zweiten Schritt) in
in die wahre Heimat fortschreiten, wo dann dieselben Tonhöhen erklingen
wie am Anfang, aber mit anderem Basston.
Ist die Dominante also von der Tonika qualitativ geschieden, als das
Gefühl "noch nicht, aber gleich", so ist der Quartsext-Vorhaltsklang
auf der Dominante folglich sogar zwei Schritte weit von der Tonika
entfernt, da deutlich einen Schritt noch von der Dominante.
Obwohl es hundertprozentig dieselben Töne sind wie in einem Tonika-Klang,
ist der Eindruck ein geradezu gegensätzlicher, weiteste Entfernung,
dabei extrem gerichtet und gepannt und als solche bewußt wahrnehmbar,
statt entspanntes Angekommensein.
Dieser gleichsam paradoxe Mechanismus erklärt sich nun
rein historisch: Wir haben den Quartsext-Vorhalt und seine Auflösung
in den Dominantklang und darauf folgende wiederum dessen Auflösung in die
Tonika, so oft, tausende von Malen, gehört, dass unser Rezeptionsvermögen
keine andere als diese Fortschreitung als "natürliche Konsequenz" erwartet,
wenn auch nur der erste Akkord eben kurz anklingt.
(Falls dann doch einmal etwas anderes folgt, was ja durchaus möglich ist
und geschieht, so
wird dies als explizite Ausnahme begriffen und ist nicht geeignet,
diese Erwartungshaltung aufzubrechen, gegen die überwältigende Mehrheit der
konventionellen Verwendungsstellen.)
Ein zweites grundlegendes Beispiel ist der Schritt in die (jeweilige,
relative) Dominantfunktion.
Kaum glaublich, dass diese Grund-Operation jeder tonal/funktionalen Algebra,
diese allerenfachste Fortschreitung, auf der alle, die primitivste wie
die elaborierteste westliche Musik seit hunderten von Jahren beruht,
bereicht in sich widerspruchsvoll sein soll!?!?
Aber es ist tatsächlich so.
(Das könnte verglichen werden mit einem Wahrnehmungsmechanismus des Auges,
resp. der visuellen Rezeption, dass man wegen Remanenz- und Ausgleichseffekten
mit jeder Farbe auch die
Komplementärfarbe mit-sieht, dass also die allereinfachste Art von Wahrnehmung
überhaupt,
die der monochromen Fläche,
in sich schon gebrochen ist.!)
Hier nun ist tatsächlich lediglich der allereinfachste Schritt von der Dur-Tonika zu ihrer Dominanten (so wie C-Dur -> G-Dur oder C-Dur -> G-sieben) un-dialektisch.
Nehmen wir hingegen die Folge
C-Dur -> A-Dur
Als reiner Dreiklang, ohne Funktionskontext gehört, ist das A drei(3) Quinten
über dem C. (Und auch dieses funktions-lose Lesen bedeutet ja einen
bestimmten Teil-Aspekt der Gehörs-Wirkung, wenn wohl auch einen
nur schwach wirkenden.)
Als Dominante aber zu D-Dur würden nur zwei(2) Quintschritte nach oben
vollzogen.
Ist der C-Dur Kontext aber durch den vollen Tonvorrat der Skala etabliert,
so ist der stärkste Eindruck dieser Fortschreitung aber der in eine
Dominaten nach d-moll, und somit der Schritt (da diese parallele von
F-Dur ist!) sogar eine(1) Quinte nach unten!
Ähnlich bei einer Folge
C-Dur -> g-moll
Der Schritt ist sowohl eine(1) Quinte nach oben, als auch (mindestens)
eine(1) Quinte nach unten, da sich zusammengehört ja eine Dominantseptnonfunktion
nach F-Dur ergibt.
Es können zwei(2) Quinten nach unten empfunden werden, weil ja
dem g-moll das B-Dur entspricht, oder sogar drei(3), weil das g-moll
ein normalerweise auf dieser Stufe erwartetes G-Dur verdrängt hat.
Der Schritt
c-moll -> C-Dur
entspricht einem Schritt der Grundtöne
von drei(3) Quinten nach oben (c-moll entspricht Es-Dur, von da dann
nach B, F und C).
Der Schritt zwischen den Tonklassen der Terzen selber ist allerdings
sieben Quinten (Es-B-F-C-G-D-A-E), oder aber zwei große Terzen nach oben
plus eine Quinte nach unten (Es-G-H-E).
Ist aber, wie oben, das c-moll mit einem grösseren
Tonvorrat (Skalen-Untermenge) etabliert, so wird man die
Ver-Durung als Dominantisierung hören, und folglich eine Quinte nach
unten empfinden, nach f-moll.
Ohne dies hier alles genauer beurteilen zu können, ist als Grundprinzip festzuhalten, dass, weil die Tendenzen eines gegebenen Akkordes gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen verschiedene Ziele anpeilt, jedes Fortschreiten verschiedenste Änderungsrichtungen gleichsam "überlagert" dem Hörempfinden antragen kann.
Genau mit Takt 69, mit der Mitte der Rückführung, nach deren ersten acht Takten, ist also mit dem Quartsextvorhalt vor der Dominaten von cis-moll der höchste Spannungspunkt zurück zur Ausgangstonart, und gleichzeitig, auf fahle, un-wirksame Weise, schon deren erklingenden Tonhöhen erreicht.
Nun muss also die Spannung, die bereits hier vom Hörer deutlich als solche empfunden wird, bis zuletzt, bis zur wirklichen Rückkehr in den A'-Teil, nicht nur gehalten, sondern womöglich noch gestärkt werden.
Wie macht der Meister das?
Nun, er wendet das zweite der im voranstehenden Exkurs beschriebenen
dialektischen Mittel an:
Auf der Zählzeit zwei des Taktes 71 wird das erreichte/noch-nicht-erreichte
cis-moll ver-dur-t, dominantisiert, entsteht für eine Viertel Dauer
ein Cis-sieben-Klang, der sofort in einen fis-moll-Klang aufgelöst wird.
Hiermit ist das cis-moll negiert, gleichzeitig aber auch das Fis-Dur des ganzen langen vorausgehenden B-Teiles.
Ausserdem geht der harmonische Rhythmus, das Tempo des Fortschreitens,
schlagartig in Viertelnoten über.
Vorher haben wir nur ganze Takte als harmonische Fortschreitung gehört,
dazwischen waren eingeschoben "nur" Durchgangsnoten, "rein melodisch begründete"
Phänomene, folgend dem Muster aus Notenbeispiel 1.
Nun aber wird die Viertelbewegung als harmonisch begründete, als
harmonisch relevante behauptet. Damit wird (unter anderem) alles bisherige
Hören in Frage gestellt, und eine rückwärtsgewandte Re-Interpretation des
Gehörten angestoßen, so "als hätten wir bis hierhin garnicht richtig aufgepasst
und harmonisch relevante Ereignisse als Durchgangs-Phänomene sträflich
unterschätzt".
Was eindeutig nicht stimmt, denn zu Beginn, durch den ganzen B-Teil,
geschieht unterhalb des Takt-Rhythmus harmonisch tatsächlich kaum etwas.
Dies aber ist ein beliebter "Komponisten-Trick" um mehr erscheinen zu lassen
als tatsächlich da ist, jedenfalls in der rückwärts-gewandten Um-Bewertung,
wenn wirkliche Überprüfung schon nicht mehr möglich ist.
Ab jetzt allemal ist der Hörer auf Viertel als auf den Rhythmus der Primär-Harmonik geeicht.
In diesem Viertel-Rhythmus ändern sich tatsächlich jetzt die
Klänge und Ton-Vorräte, vgl. Notenbeispiel 2 und Notenbeispiel 3,
Takte 71 und 72:
In 72/1 folgt ein "gis-vermindert" als zweite Stufe des erreichten fis-moll,
dann ein Gis-sieben, der dann mit dem allerletzten Viertel
tatsächlich nach cis-moll zurück kadenziert.
Das fis-moll von 70/3 ist also hier dann rückbetrachtend als Teil einer "vollständigen Kadenz nach cis-moll" eingeordnet, das Cis-Dur vorher war nicht die Aufhebung des cis-moll, sondern, ganz um Gegenteil, eine "klassische Erweiterung" dieser das cis-moll bestätigenden Kadenz.
Nichtsdestotrotz spielt diese ganze doppelte Dialektik sich über dem Bass gis ab, es handelt sich also, vom nächst höheren Standpunkt aus, überhaupt nicht um Kadenzen, sondern um rein farbliche Effekte, um Umfärbungen des immernoch gültigen Quartsextakkordes.
Dies wird dadurch verschleiert, dass der Bass für die zwei Takte, in denen das alles sich abspielt, pausiert. Nichtsdestotrotz ist er aber als wirksam immernoch genauso stark vorhanden, nichts hat sein Fortdauern im "aktiven Gedächtnis" hier unterbunden.
Die tiefliegende Dialektik all dieser Dominantfunktionen kann gut gesehen werden, wenn man in den Notenbeispielen den Wechsel von e und eis verfolgt, und deren unterschiedliche, widersprechende Funktionen:
Dieses letzte e tritt erst auf der allerletzt möglichen Zählzeit, dem allerletzten Achtel von Takt 72 auf, und steht so dem eis auch zeitlich weitest möglich entfernt, siehe die speziellen Notenköpfe in Notenbeispiel 2.
In den letzten vier Takten geschieht nun eine weitere dialektische
Aufspaltung der Wirkungen auf das rezipierende Hören:
Einerseits vergröbert sich der harmonische Rhythmus wieder auf ganze Takte,
nach dem bekannten Durchgangsnoten-Modell aus Notenbeispiel 1.
Andererseits aber treten "sekundär-harmonisch" (oder gar "tertiär-",
gar "quartär-" !?!)
nun frei einsetzende Sechzehntel-Vorhalte dazu.
Als solche ein völlig neues Satzmittel, allerdings vermittelt
als diminuiertes Echo
der letzten Achtel der beiden Oberstimmen vor dem Taktstrich
(siehe Klammern in Notenbeispiel 2).
Die Akkordfolge ist
H-sieben -> Fis-sieben -> gis-sieben -> Gis-sieben -> cis-moll,
wobei letzteres endlich der Eintritt in den A'-Teil ist, das Ziel dieser ganzen
Rückführung.
Die Tonvorrate ergeben sich aus den beschriebenen Vorhalten. Bemerkenswerterweise ist der vorletzte Takt, das gis-sieben, Takt 75, wieder die reine E-Dur Tonleiter, also das angestrebte cis-moll-harmonisch ohne den kritischen Leitton his.
Ganz im Gegenteil, auf der "eins" in der Mittelstimme steht explizit das h, als dessen Negation, und auch der Spitzenton des Taktes ist ein h.
Nach all den Doppeldeutigkeiten und Spaltungen steht hier also wieder das rein, strahlende, unverschmutzte, die Dur-Parallele, auch eine Art der Negation.
Im letzten Takt müsste nach der einfachen Sequenzlogik ein dis-vermindert-sieben
Klang folgen. Der kommt zunächst auch, dann aber mit
minimalen Veränderungen in den Tonfolgen der oberen beiden Stimmen,
siehe die speziellen Notenköpfe in Notenbeispiel 2:
In der Oberstimme heisst der vorletzte Ton gis-eins statt cis-zwei.
Das cis wird selbstverständlich aufgespart für die angestrebte Tonika,
das dis klingt eine Oktave tiefer, als Auflösung des e aus
dem Quartsextakkord und damit den Auflösungsdruck
auf das cis (es soll ja zum his) noch verstärkend, siehe
Notenbeispiel 4.
In der Mittelstimme heisst es statt der Folge cis-h-a nun cis-cis-his.
Dieser letzte Ton ist nun genau der von der Parallelen in die angestrebte Grundtonart zurückführende Leitton, und steht dem erwähntem h (auf dem allerersten Achtel von Takt 76) diametral, mit größtmöglichem Abstand gegenüber, auf dem allerletzten Achtel von Takt 77, ähnlich wie eis und e im letzten Zweitakter der vorgangehenden Periode! Siehe wieder die speziellen Notenköpfe in Notenbeispiel 2.
Erst hier wird der acht Takte vorher aufgestellte Quartsextvorhalt aufgelöst. Der Gesamtrhythmus dieses Vorhaltes ist der einer vierfach punktierten "Longa", also einer Note, die vier Takte umfasst, verlängert um zwei Takte, um nochmal einen Takt, um eine Zählzeit und um eine Achtel.
Die ersten acht Takte der Rückführung folgen hingegen nur einer "einfach punktierten Longa", also der Proportion "sechs Takte zu zwei Takten". Der tatsächlich wirksame Rhythmus ist der folgende, und zeigt deutlich die weitgespannte Konstruktion:
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Notenbeispiel 4: Grossrhythmus der Rückführung |
Wohlgemerkt, dies ist der tatsächlich wirkmächtige Rhythmus! Erst im
allerletzt mögliche Moment "geht" das cis zum his, wird der
Quartsextakkord aufgelöst, und nur einen Moment vorher die Sexte zur Quinte,
den Auflösungsdruck noch verstärkend!
All die vielen his-se und cis-se vorher waren Sekundär- und Tertiär-Phänomene, waren
Vor-Echos, aber nicht wirkmächtig, kamen nicht an gegen das gis im Bass.
Und hatten auch immer die falsche Reihenfolge und Richtung.
Musik ist eben schichtig aufgebaut: Über der in Notenbeispiel 4 angegebenen einfachsten Grundstruktur können eben andere, kleinere, untergeordnete "Auskomponierungen" stattfinden, ohne dass die Integrität und Wirksamkeit der Primär-Struktur dadurch angetastet wird. Sie wird höchstens umgefärbt, wenn nicht sogar in ihrer eigenen Tendenz sogar noch verstärkt.
Das Aufheben des cis-moll durch die Zwischendominante zum fis-moll, welches Teil der Kadenz nach cis-moll in Takt 72 war, verstärkt ja gerade noch unser Verlangen, dass cis-moll dann doch endlich wirklich mal wieder erreicht wird, macht den Quartsext-Vorhalt als solchen noch quälender.
Die Weitgespanntheit und Konsequenz dieser Konstruktion erinnert erstaunlich an die ähnlich ausgedehnte Punktierung in einer rückführungs-ähnlichen Passage in Beethovens Großer Fuge:
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Notenbeispiel 5: Rückführung in Beethovens Großer Fuge |
Hier nun, beim Eintritt in den A'-Teil, am Ziele der Rückführung, geschieht das Wunder der Wiedergeburt.
Zu Beginn des Satzes, im A-Teil, war sein von den
Wagner-Tuben "Sehr feierlich und sehr langsam" vorgetragenens berühmtes
Haupt-Thema eine reine Behauptung.
Genau genommen hatte es da noch keinerlei Wirksamkeit. Ja, eigentlich fehlte
ihm sogar der rechte Ausdruck.
Das zeigt sich auch am weiteren Verlauf des A-Teiles, wo nur lose verbundene
Blöcke eigentlich keine Konsequenz aus dem aufgestellten Thema ziehen.
Hier nun, am Beginn des A'-Teiles, ist die Situaton eine grundlegend andere!
Beim Beginn des zweiten Satzes war nämlich das cis-moll einfach eine konventionell naheliegende Möglichkeit, einfach die Parallele der Tonart des ersten Satzes. Der Komponist konnte diese qua Konvention ergreifen, hätte aber auch andere Tonarten wählen können. Mit dieser Entscheidung geschieht noch nicht Spannendes, es wird nichts bewiesen, eigentlich auch noch nicht einmal etwas behauptet.
Hier aber ist das cis-moll Ziel einer überaus aufwendigen Kadenz! Es ist nichtmehr beliebig, nicht mehr reine These, sondern Konsequenz, ist Syn-These.
Hier erst erklingt folglich das Hauptthema mit seiner tatsächlichen Gewalt, nämlich fußend auf seiner durch die lange Rückführung behaupteten Bedeutung, und in einem tonalen Kontext, der es als mühsam errungenen Gegen-Satz erst mit Bedeutung auflädt.
Dieses zweite Auftreten des Hauptthemas ist sein erstes wirkliches Erklingen!
Und so wirkt das auch auf jeden Hörer, hier erst geschieht die wahrhaft erschütternde Wirkung der Doppeldominate, der Ausweichung nach A-Dur, die überaus ausdrucksvolle Kadenz nach fis-moll, hier erst ertönt die wahre Klage, hier erst verströmt die wirkliche Substanz, hier erst hebt an das große Glühen.
Auch das ist Dialektik.
Es ist das Zurückgestoßen-Werden aus der Seligkeit des Trostes des B-Teiles
in die erbarmungslose Realität des Totengesanges, in die Ausweglosigkeit
des Sterben-Müssens und Gestorben-Seins, und gleichzeitig das Erwachen
zu Glut und Leidenschaft und tiefster Empfindung.
Genau diese Kadenz, genau diese eine Achtel, die das Leben vom Tode trennt, ist der Wendepunkt dieses Satzes, genau dieser Wieder-Eintritt des Hauptthemas der wichtigste Augenblick der ganzen Sinfonie.
Dieses Kadenzieren, dieses Hinab-Fallen, dieses Einwilligen in das Unvermeidliche, dieses Eintreten in den eigenen Tod ist gleichermaßen Aufatmen und Seufzen, ist Fallen und Gehaltenwerden, Loslassen und Einwilligen, ist Orgasmus und Entsagung, Verheissung und Erfüllung, alles zugleich, und zugleich doch nur eine einfache Kadenz!
Und hier nun funktioniert das stark überdehnte Tempo des Dirigenten Celibidache auf das glücklichste! Es verursacht zweierlei:
Erstens werden die melodischen Figuren der Mittelstimmen, die
virtuell zweistimmigen Akkordbrechungen, wie oben in der Cellofigur
aus Notenbeispiel 1,
zu melodischen Ereignissen aufgewertet!
Die Sexten und Septimen abwärts, die bei einem auch nur leicht schnelleren
Tempo völlig untergingen in der Wahrnehmung der gemeinten harmonischen
Akkordfortschreitung, werden so uminterpretiert in ariose Melodie-Äusserungen
voll Verlangen und Bedürfnis, in Stil und Tradition der fallenden Sexte
aus Siegfrieds "Sangst du mir nicht ..."-Motiv..
Oder noch näher liegend: Als Echos der fallenden Sexte der Wagner-Tuben in
Takt drei, die ein Höhepunkt an Espressivität in den ersten thematischen
Takten des A-Teiles darstellt.
Zweitens wird die Tertiärharmonik, die durchlaufenden und vorgehaltenen
Sechzehntelnoten, zu dramatischen Konflikten aufgewertet.
Sie werden wegen des sehr langsamen Grundtempos schon
wahrgenommen mit demjenigen Gewicht, welches unser
Gehör sonst nur den übergeordneten Akkordbewegungen zugesteht!
Die Sechzehntel-Vorhalte in den letzten vier Takten schwanken immer zwischen
(zumeist) kleiner None und großer Septime, also zwischen zwei Dissonanzen,
wobei die mildere (und akkordeigene) schon als "Auflösung" gehört wird.
Dies ist ein unmittelbares Echo eines Sequenzmotives aus dem (ja nur
locker verbundenen) A-Teil, siehe Takt 13 der Partitur, wo auch
(scheinbar) frei einsetzende Septen und Nonen den eigentlich einfachen
Akkordfolgen inneres Glühen brachten.
Dies wird nun von Celibidache noch gesteigert, indem er, wie mit
einer "Stimmführungs-Lupe", das Tempo, sobald die Sechzehntel einsetzen,
noch verbreitert und die Reibungen im Tempo der allerkleinsten Notendauer
klingen läßt wie Auflösungsereignisse der Primärharmonik.
Dadurch wird das letztliche Erscheinen des Leittons his (Takt 76, allerletzter
Anschlag) und das letztliche
Hinabkadenzieren in die Wiederholung des cis-moll zu einem
überlang ersehnten, kaum noch für möglich gehaltenen Erlösungserlebnis
von kosmischen Ausmaßen.
Warum die so simple Konstruktion der Rückführung so überwältigend wirksam sein kann, hat wieder mit einem Bezug zur Geschichte zu tun. Die rhythmische Grundidee, die diesen ganzen Spannungs- und Zuspitzungsprozess trägt, findet sich auf das deutlichste ausgeprägt und durchgeführt, mit konstruktiv-formtragend Funktion, in Beethovens cis-moll Quartett op. 131:
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Notenbeispiel 6: Synkopen in Beethovens cis-moll Quartett op. 131, erster Satz. |
Für den weiteren Verlauf des Satzes funktioniert diese Interpretatiosweise llerdings nicht mehr so gut! Die reinen Sequenz-Teile, wenn also endlich aus dem A-Teil-Thema die Konsequenzen gezogen werden und die zwei Hauptmotive abgespalten und sequenziert, sind doch inhaltlich beiweitem weniger komplex, und ein über-langsames Tempo vermag eher deren Defizite aufzudecken, was Celibidache auch durchaus weiß und deshalb das Tempo, nachdem diese kosmische Zeitlupe endlich explodiert war, auch stetig leicht anzog!
Wer sind die drei einflussreichsten Deutschen der Geschichte?
Diese Fragestellung ist zugegebenermaßen reichlich reißerisch,
feuilletonistisch, dem wahren Wirken des Weltgeistes nicht angemessen.
Dennoch aber führt sie uns mitten in ein dunkles Problem, das mit
dem hier besprochenen Sinfoniesatz untrennbar verbunden ist.
Zunächst einmal möchten wir Immanuel Kant dazuzählen, noch vor Goethen. Und das nicht wegen seines berühmten "Imperativs" oder der Kategorientafel, sondern wegen des einfachen Grundprinzips seiner Erkenntnistheorie, der Kombination von "transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus". Diese unhintergehbar-wahre Konstruktion allein erklärt unsere Weltwahrnehmung und versöhnt ein für alle Mal den grundlegenden Riss in Theorie und praktischem Leben zwischen diesen beiden Positionen.
(Man könnte in seinem Falle
aber argumentieren, dass diese Entdeckung eh "in der Luft gelegen"
habe und früher oder später auch einem anderen tiefen Denker eingefallen
wäre. Nunja, derartige Spekulationen über Rangierungen sind eh müßig und
niemals seriös.)
Allemal ist der Einfluss des großen Königsbergers wohl eher indirekt und
der Mehrheit der Erdenbewohnern wohl nicht als solcher bewußt.
Bei zwei anderen Kandidaten allerdings kann über die weltweiten und epochalen Konsequenzen ihres Handelns nicht viel diskutiert werden, und sie sind es dann, die mit diesem Adagio-Satz in enger Verbindung stehen.
Begonnen wurde dessen Erstellung nämlich angeblich in der bangen Erwartung des Ablebens Richard Wagners durch den Komponisten. Die Nachricht über dessen tatsächlichen eingetretenen Tod in Venedig erreichte diesen dann auch genau beim Schreiben des Höhepunktes dieses Satzes.
Im Rundfunk gespielt aber wurde dieser Satz, zweiundsechzig Jahre später, nach dem Selbstmord Adolf Hitlers, zu dessen Lieblingswerken diese Sinfonie zeitlebens gehört haben soll. 1
Dies ist schwer auszuhalten.
Gerade für einen Deutschen.
Das aber muss man ja auch nicht.
Es darf auch Dinge geben, die man nicht aushalten muss.
Aber wichtig in diesem Zusammenhange, existentiell wichtig, existentiell für uns und für das Werk, ist die oben geschilderte Dialektik. Für dieses Grundprinzip gibt es unzählige weitere Beispiele in diesem und allen großen Werken.
Diese Dialektik nämlich macht das Werk letztlich un-korrumpierbar!
Sie besagt nämlich, übertragen auf anderes als Musik, dass die einfachen
Lösungen keine sind. Dass einfache Erklärungsmodelle versagen.
Dass die Welt nicht beherrschbar ist.
Hier guter Arier, dort böser Jude,
hier Herrenmensch, dort Untermensch,
hier wir, dort die andern,
so einfach funktionieren weder Welt noch Musik.
Jede Setzung impliziert ihr Gegenteil.
Das sagt die kleinste Vorhaltsnote, das sagt die oben berichtete
Geschichte von eis und e.
Das kann, das soll Musik uns lehren.
Und so im Leben zur Behutsamkeit mahnen.
Auch das ist schwer auszuhalten.
Für Leute wie den armen Herrn Hitler.
Der Autor ging nach diesem Erlebnis noch manche Nächte durch den sommerlichen Park, des Regens nicht achtend, tränenüberströmt (schönes deutsches Wort, weil es alle drei Umlaute enthält) verfolgte ihn diese Rückführung, diese kristallene Logik, dieses Sehnen, diese Offenbarung, erlebte er immer wieder diese Kadenz von Einwilligung und Erlösung.
Das von fern und gedämpft durchs Laub strömende kupferne Licht der Parklaternen schien ihm in der Glut des cis-moll wie ein Sonnenuntergang, der zugleich ein Aufgang ist, wie das große Einschlafen, das ein Erwachen ist, wie die Vernichtung, die Goldglanz verheißt.
Eins steht für uns fest:
Wenn der liebe Gott diese Sinfonie, diesen Satz, diese Rückführung so hört,
wie wir es damals und in den folgenden Nächten taten, tun mussten, tun durften,
als letztmögliche Klage und allerletzten Trost, dann wird
er auch einem Adolf Hitler verzeihen
Sicherheitshalber zog der Verfasser zusätzlich zur Partitur, die sich eh in seiner Bibliothek befindet, noch einen Klavierauszug aus einer öffentlichen Leihbücherei hinzu, und zwar von Cyrill Hynais, erschienen bei Gutmann in Wien, ohne Jahreszahl.
Diese Bearbeitung ist leider nicht sehr gelungen: Einerseits setzt der Verfasser häufig rachmaninoveske Handspannen voraus. Andererseits aber fasst er vieles zusammen und vereinfacht, wo differenzierte Darstellung durchaus möglich wäre.
(Besonders das röhrende Solo der doppelten Quinten am Schluss, im eigentlichen Trauermarsch Takt 190, das gerne ein eigenes zusätzliches System verdient hätte, geht bei ihm völlig unter!)
Bei den hier besprochenen Takten wird er selber Opfer seiner Masche, eine andere Vorzeichnung als die Partitur zu benutzen. Es gelingt ihm allerdings nicht, die notwendigen Versetzungszeichen korrekt anzupassen. Das führt gerade in so delikaten Passagen wie der Rückführung zu geradezu barbarischen Fehlern!
Ein Vor-Ausleiher, der überhaupt völlig hemmungslos in öffentlichem Eigentum
rumgemalt hat, als sei das ein Ausmalbuch für Vorschulkinder und darüberhinaus
sein Eigentum, hat das immerhin auch bemerkt und in Takt 71 schon das
vor dem a fehlende Auflösungszeichen ergänzt. Wie es sich gehört, in
leichtem Blei.
Im nächsten Takt fehlt es ebenso, was zur Folge hat, dass der Klavierauszug
hier unpassend, unmotiviert und die ganze Stelle zerstörend in ein
völlig inadäquates Fis-Dur ausweicht.
Aber diese Stelle ist heilig!
Also hat der Verfasser sich berechtigt gefühlt, zum ersten Male überhaupt
in ein öffentlich entliehenes Buch hineinzumalen, und zwar mit dickem
rotem Fettstift, das fehlende Auflösezeichen vor dem a-zwei!
Hier liegt vor ein übergesetzlicher Notstand in seiner dringlichsten Form;
Majestätbeleidigung, der unbedingt abzuhelfen ist; religiöse Notlage!
1 Laut wikipedia Artikel http://de.wikipedia.org/wiki/7._Sinfonie_(Bruckner), abgerufen 20120815. Dort leider nur teilweise Quellenangaben. FIXME
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