zu den Gesamtinhaltsverzeichnissen | |
2010090300 | Dialog von Orgel und Trompete, von Komposition und Improvisation |
Ein Konzert des "Festivals lab.or.a 2010" am 3. September 2010 in der Linden-Kirche zu Wilmersdorf. | |
2010090301 | Inverse Disposition von Tonarten |
Beethovens Bagatellen op. 126 umspielen C-Dur |
^inh 2010090300 | ereignis |
Seine eigenen Orgelsonaten gerade glücklich vollendet habend sah es Rezensent als seine Pflicht, zu erkunden, was so die Konkurrenz macht. Hingewiesen auf das kleine Festival "lab.or.a 2010 --- Zeitgenössische Orgelimprovisation im Dialog" (website) entschied er sich aus hauptsächlich aus terminlichen Gründen für das Konzert am 3. September in der Wilmersdorfer Linden-Kirche mit Orgel und Trompete.
Das Grundkonzept stimmte erstmal durchaus skeptisch: Beide Instrumente wollten munter improvisieren, dahinein aber sollte ein "festkomponiertes" Werk eines Dritten integriert werden, --- das Ganze ca 60 Minuten dauern. Immerhin sollte das Erklingen der Komposition durch Änderung der Beleuchtung markiert werden. So erklärte es der Organist des Abends, Herr Thomas Noll, den leider sehr wenigen Zuhörern. Und er forderte dazu auf, die entstehenden Klang-räume (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) aktiv durch Bewegung im Kirchenraum zu erforschen. Das war ein sehr wichtiger und im folgenden sehr hilfreicher Hinweis, und zu seiner Befolgung war die geringe Besucherzahl durchaus günstig.
Die nun beginnenden Improvisationen waren von dem später erklingenden Werk ("zungen reden" von Martin Herchenröder) durchaus inspiriert, und umrahmten es ohne großen stilistischen Bruch: Beide kann man als im weitesten Sinne "frei-atonal", streckenweise tendentiell "zwölftönig" bezeichnen. Sehr schön war, daß diese Grundfaktur von beiden Solisten (Trompete: Ulf Marcus Behrens) gut durchgehalten wurde. Rezensent meint sich zu erinnern, daß es bei seinen eigenen Bemühungen, auch für seine Improvisationpartner, immer ein Hauptproblem war, tonale oder allzu metrische Reminiszenzen zu vermeiden, und das Niveau höchster Entropie, geringster Redundanz zu halten. Dies ist beiden Solisten vorbildlich gelungen.
Beide zeigen sich als Meister der Farbigkeit: Spieltechniken, Registerkombinationen, Spielweisen und Satzstrukturen bildeten eine sehr breite Palette. An mehreren Satz-Anfängen wurde der Hörer geschickt verwirrt bezgl. Klanglichkeiten und ihrer Hervorbringung, aber dann fairerweise durch anschließende Vermittlungs- und Entwicklungsprozesse aufgeklärt, immer auf überraschende, manchmal gar auf humorvolle Weise.
Man hätte bereits daran genug gehabt, den ganzen Abend als einen vollständigen Katalog instrumentaler Effekte zu erleben, was allein wegen deren professioneller, die Extreme auslotender Handhabung ein befriedigender Genuß gewesen wäre. Aber natürlich ging das Dialogische weit darüber hinaus, und das eigentlich Musikalische, die Imitationen, Abfärbungen, Verdichtungen, Annäherungen und Entfernungen waren sein wirklicher Gehalt.
Dies aber führt auch unmittelbar zu unserem Haupteinwand gegen diese Veranstaltung: Die Rezeption derart dichter und immer problematischer Prozesse ist nur möglich in deren Nachvollzug, ist somit aktive Leistung des Hörers. In einem tonalen Kontext bewirken harmonische Hierarchien, Skalen und gebrochene Dreiklänge stets eine "Superzeichenbildung", welche den Informationsgehalt der eingehenden akustischen Signale noch vor ihrer bewußten Verarbeitung weitgehend "eindickt" und reduziert, und die Rezeption allein quantitativ somit um Größenordnungen entlastet.
Dies fällt fort bei der freien Atonalität, oder post-seriellen Struktur-Tonalität. Musik der Art dieses Abends, bei der fast jeder Ton fordert, als einzelner gewertet zu werden, beansprucht des Konzentrationsvermögens des Hörers deutlich stärker. 60 Minuten ohne Pause war selbst für den Rezensenten, der 120 Minuten erster Akt Parsifal als "genau-richtig-lang" empfindet, eine Überforderung. Als dann der Trompeter ca. 10 Minuten vor dem tatsächlichen Ende "Es ist genung" intonierte, konnte er dem nur zustimmen.
Dennoch ein großartiger und noch lange nachklingender Abend, -- 10 Minuten kürzer, und er wäre perfekt gewesen.
^inh 2010090301 | monograph |
Das Lebenswerk Ludwig van Beethovens scheint uns zu zwei Tonarten hinzustreben: Dem siegreichen, strahlenden, aber auch schneidenden und neutralen C-Dur, und dem milderen B-Dur. 1
Wir betrachteten die letzten drei großen Klaviersonaten op. 109 bis op. 111 immer schon zusammengefaßt als eine einzige Über-Sonate. (So tut es auch das überaus lesenswerte [raab96], das tiefer in diesen Werkkomplex eindringt).
Dann findet sich das B-Dur in der somit vor-letzten Sonate, der Hammerklaviersonate op. 106, --- das C-Dur etwas später im großen Variationenfinale der Über-Sonate op. 111, und in den Diabelli-Variationen op. 120, dem Nachtrag zum Klavierwerk als Ganzem (cf. (st 2.2) Gruppierungsmöglichkeiten im Gesamt-Hauptwerk Beethovens ).
B-Dur bildet hingegen den Endpunkt der Streichquartett-Linie mit dem Streichquartett B-Dur op. 130 und der Großen Fuge op. 133.
In diesem Zusammenhang sehen wir auch die Sechs Bagatellen op. 126, sein wohl allerletztes Werk für Pianoforte solo.
Betrachten wir die Tonartfolge der sechs Sätze:
G-Dur g-moll Es-Dur h-moll G-Dur Es-Dur G G Es H G Es |
Wir erkennen einen fallenden Großterz-Zirkel. Nehmen wir dessen Anfang als den Ausgangspunkt, ergäbe sich funktionstheoretische Interpretationen wie ...
G-Dur g-moll Es-Dur h-moll G-Dur Es-Dur T t tG tgg T tG =sP =Tg (T tg) |
Es ist also ohne Schwierigkeit alles recht natürlich auf G-Dur/g-moll beziehbar.
Gleichzeitig aber erinnert das Tonartfolge an die der drei Sonaten op. 109 bis 111, die wir ja als Gesamtwerk begreifen:
E-Dur As-Dur c-moll/C-Dur |
Zum dritten aber gibt es eine ganz andere Tonart-Logik, die besagt, daß alle sechs Sätze der Bagatellen gleichsam um eine einzige Tonart herum "kreisen", nämlich um C-Dur. Zumindest der Grundklang dieser Tonart wird gleichsam "invers erforscht", indem er in extrem verschiedenartige Kontexte gestellt wird, und so auf verschiedenartigste Wirkungen und Klangmöglichkeiten abgeklopft wird. Er wird sozusagen in "Experimentiersituationen" hineingebracht.
Die Tonarten-Disposition des Gesamtzyklus kann als "invers disponiert" bezeichnet werden, als nicht Anfangs- und Endpunkt immer derselbe sind, sondern eine Art von "Mittel-Punkt", jene aber konsequent und systematisch divergieren.
Die einzelnen Sätze beziehen sich nun auf durchaus unterschiedliche Weise auf C-Dur, fast immer aber bildet ein C-Dur- oder C-7-Klang eine klanglich exponierte und/oder architektonisch tragende Stelle des Satzes:
[1] aller Orten "S":
viel C-Dur-Präsenz als Subdominante der Haupttonart, nicht
weiter außergewöhnlich.
[2] Takt 66 : "(D) S s D64-53":
Auffälliges C-Dur als Höhepunkt des
gesamte Satzes, gleichsam "Vorhalt" vor dem c-moll der Subdominate
als Teil einer vollständigen Kadenz in die Haupttonart. Sehr auffällig
und allein als Dur-S in einem moll-Kontext schon sehr ungewöhnlich.
[3] Takt 42 : "(D7) Sp":
Hochton des gesamten Werkes "c-vier" auf dem einzig wirklich deutlichen,
"frei-stehenden" und korrekt aufgelösten Dominantseptakkord in die
moll-Sphäre.
[4] ab Takt 13/Takt 118 "sG";
vier(4) Takte ausgedehnte C-Dur-Fläche.
[5] ab Takt 17 "S":
acht(8) und mehr Takte ausgedehnte C-Dur-Fläche.
[6] ab Takt 45 auf 3 : "(D) Sp" :
in dem breit angelegten As-Dur-Mittelteil die entscheidende
Dominante, die den Reprisencharakter der folgenden acht(8) Takte
(allerdings eine Quarte höher, wie "eingerichtet"!) begründet.
Das ganze op. 126 schließt in Es-Dur, was durchaus als Versöhnung des c-moll von op. 111 und des B-Dur von op. 131 gehört werden kann, --- eine Versöhnung, die ohne die Blendwirkung oder die Neutralität von C-Dur auskommt, das C-Dur mit all seiner Strahlkraft aber als Erinnnerungsspuren, gleichsam wie Diamantsplitter im Granitgestein, auf das subtilste aufgehoben hat.
Nachtrag(20211121):
Hier wurden weitausgreifende tonale Komplexe besprochen, organisiert um
ein und denselben Dreiklang. Entsprechend ein und denselben Einzelton
bespricht Suzannah Clark On the Imagination of Tone in Schubert's Liedesend (D473) ...
(2011)
1 Die Neutralität von C-Dur, auf dessen Folie sich die tonalen Entwicklungslinien am deutlichsten (gleichsam "didaktisch") abzeichnen, wird am stärksten konstitutiv in der Waldsteinsonate op. 53.
©
senzatempo.de
markuslepper.eu
2021-11-21_17h04
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and XSLT
music typesetting by musixTeX
and LilyPond